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Die Brisanz eines jüdischen Alltags

Gilles Rozier ist Jude, lebte einige Jahre in Jerusalem und ist ein leidenschaftlicher Bewahrer der jiddischen Sprache. Die Identifikation mit der eigenen Kultur spiegelt sich auch in seinem Werk wider: Sein neuer Roman handelt von Sharon, einer orthodoxen Jüdin in Jerusalem, die den schlitzohrigen Umgang mit den Geboten der Tora erprobt.

Von Christoph Vormweg | 31.08.2007
    Einen ungewöhnlichen Umgang mit Fragen der Sexualität hat Gilles Rozier schon in seinem Roman "Eine Liebe ohne Widerstand" an den Tag gelegt: Bis zuletzt blieb unklar, ob der Erzähler eine Frau oder ein Mann ist. In "Abrahams Sohn" erzählt er nun, wie die strenggläubige Jüdin Sharon ihre Fortpflanzungsbedürfnisse mit den Geboten der Tora in Einklang bringt.

    Der Roman beginnt mit dem rituellen Bad sieben Tage nach Ende der Monatsregel, vor dem jedes Mal ganz handgreiflich geprüft wird, ob auch wirklich kein Blut mehr fließt. Diesmal allerdings wird Sharons Mann - mit dem sie gern schläft, ohne ihn jedoch zu lieben - nicht zum x-ten Mal versuchen, ihrem einzigen Sohn Eli einen Bruder oder eine Schwester zur Seite zu stellen.

    ""Der Mann wollte weitere Kinder, Seid fruchtbar und mehret euch, das erste Gebot, also seien wir fruchtbar und mehren uns. Man kann nicht verheiratet bleiben, ohne fruchtbar zu sein, das ist Sünde. Ihr Mann hat sich scheiden lassen, er hat sich eine Junge genommen, eine entfernte Cousine aus Amerika, da scheint es an Männern zu mangeln. Die Jungsche wollte ihr Leben gern mit Kinderkriegen und Hinternputzen verbringen. Er hat weitere Kinder bekommen, er hört gar nicht mehr auf damit, Moschele, Rivkele, Jankele, Surele, Spitsele, Schmitsele und so weiter. Sharon hatte Eli, sie hatte keinen Mann mehr, der sich in der Monatsmitte auf sie stürzte, aber sie kam ganz gut ohne das aus. Sie wollte keinen neuen Mann. Sie hatte Eli. Sie hatte ihn, und das war nun wirklich Vergangenheit, nicht nur grammatikalisch. Denn Eli war tot, Eli war ermordet worden.""

    Eli, der gerade seinen Wehrdienst absolvierte, saß im falschen Bus, wurde Opfer eines palästinensischen Selbstmordattentäters. Mit 41 Jahren ist Sharon isoliert. Niemanden kann sie mehr bekochen, nicht einmal Rache an Elis Mörder nehmen. Minutiös beschreibt Gilles Rozier, der 1985 und 1990 jeweils für ein Jahr in Jerusalem gelebt hat, die jüdisch-orthodoxen Rituale im Umgang mit dem Tod:

    ""In ihrer Trauer, wenn sie ihren Sohn verliert, hat vielleicht Sharon das Glück, dass sie religiös ist [...] Das ist vielleicht leichter, in Trauer zu sein, wenn man eine Struktur hat. Oder in anderen Fällen des Lebens – habe ich schon bemerkt -, dass es leichter ist. Ich verstehe nicht genau, warum unsere Welt oder ein großer Teil von unserer Welt beschlossen hat, dass sie ohne Struktur leben kann.""

    Die religiösen Gebote sind für Gilles Rozier im Alltag ein zentraler Orientierungspunkt, ein Halt wider die inneren Krisen, das Sich-gehen-lassen. Das heißt allerdings nicht, dass er Unterwürfigkeit gegenüber der Tora predigt. Sein Roman "Abrahams Sohn" ist vielmehr eine Anleitung für den intelligent- gewitzten Umgang mit den Geboten:

    ""In Christentum spricht man viel über Gott, und im Judentum spricht man fast nur über das Gesetz. Man ist religiös, wenn man koscher isst, wenn man Sabbat macht, [...] aber man fragt niemals, ob ein Jude an Gott glaubt zum Beispiel. [...] Das ist keine jüdische Frage.""

    Sharons Dilemma ist besonders kompliziert. Sie möchte mit 41 Jahren noch einmal Mutter werden. Doch hat sie die Nase von den Männern gestrichen voll. Eine künstliche Befruchtung, wie ihre Nachbarin Magda sie praktiziert hat, wäre für sie als gläubige Jüdin ohne Mann aber eine schwere Sünde. Denn jeder muss das Kind "von jemand" sein.

    ""Sie dachte an den Rabbiner, der sie nie enttäuscht hatte. Nicht, dass er sich ihren Wünschen gebeugt hätte, das war nicht seine Aufgabe. Er erklärte das Gesetz, und das Gesetz setzte Grenzen. Er interpretierte es mit Menschlichkeit. Das Gesetz war ein Code für das Leben. Es enthielt zahlreiche Beschränkungen, aber der Rabbiner empfahl, sich ihnen froh gestimmt zu unterwerfen, er tat es selbst. Streng und jovial. Aufmerksam in den alltäglichen Gesten und glücklich, die Gebote einzuhalten.""

    Und im Dschungel der Interpretationen weiß der Rabbiner tatsächlich einen potentiellen Ausweg. Wenn der Spender anonym und Nicht-Jude sei, es also zu keinem sündigen außerehelichen Beischlaf käme, ließe sich eine künstliche Befruchtung mit der Tora in der Tat vereinbaren: zum Beispiel, wenn Sharon nach Norwegen reise, wo es so gut wie keine Juden gebe.

    Als Kind eines Nicht-Juden wäre der potentielle Nachwuchs ganz allgemein "Abrahams Kind" - daher auch der Titel des Romans. Mit der Hoffnung auf einen Neuanfang weicht mit jeder Seite auch die Trauerlast. Humor ist wieder möglich – zumal, da Sharon Israel zum ersten Mal verlässt und in Oslo im Hotel einer militanten Vegetarierin absteigt:

    ""Das war ein Spiel. Ich habe mich amüsiert mit dieser Figur, weil das ist eine Frau, die sehr nicht-religiös ist, das heißt extrem links wie viele Vegetarier, aber die mehr pünktlich wie ein orthodoxer Jude über Essen ist. Sie kontrolliert alles. Und also Sharon, die so religiös ist, [...] sie ist nicht obsessionell über was sie isst, im Vergleich mit dieser Frau.""

    Auch wenn Gilles Rozier – ganz gleich ob in Jerusalem oder in Oslo - stets das Alltägliche fokussiert: Langweilig ist sein Roman "Abrahams Sohn" nie. Im Gegenteil: nach der gescheiterten künstlichen Befruchtung kommt es zu einer turbulenten Wendung. Denn Sharon besinnt sich auf die Nähe zu ihrem Kollegen Amos. Beide arbeiten in einem Jerusalemer Altenheim, beide wollen stets die Tora befolgen, beide möchten ein Kind. Einziges Hindernis: Amos ist homosexuell.

    Er lebe nicht mit seinem Freund, sagt er zu Sharon, er liebe ihn, das sei "etwas anderes". Wie die beiden da einen gesetzestreuen Weg finden, sei hier nicht verraten. Jedenfalls kann Gilles Rozier in dieser ungewöhnlichen Liebesgeschichte seine augenzwinkernde Ironie und Lebensklugheit ausspielen.

    Mehr noch: durch die Vielzahl von Nebenfiguren und Biografien, die er beschreibt, vermittelt sein Roman eine hohe existenzielle Erfahrungsdichte. Besonders am Herzen scheint ihm der alte jiddische Dichter gelegen zu haben, den Sharon bei der Arbeit im Altenheim kennen lernt. Unter tragischen Umständen hat er das Ghetto überlebt, ist Zeuge des Grauens der Judenvernichtung.

    In diesem Zusammenhang geht Gilles Rozier, dessen Großvater mütterlicherseits in Auschwitz ermordet wurde, so weit, den Holocaust auch sprachlich zu deuten: mit der Furcht der Nazis vor der Verunreinigung des Deutschen durch das Jiddische, das um 1900 die viertgrößte germanische Sprache war. Als Leiter des Pariser "Hauses für jiddische Kultur" tut er deshalb alles, um die jiddische Sprache vor dem Aussterben zu bewahren. Gilles Rozier möchte eine Brücke bauen zwischen den wenigen Muttersprachlern, die den Holocaust überlebt haben, und den jüngeren Generationen:

    "Ich hab ein bisschen gehört die Sprach und später hab ich beschlossen, dass ich muss reden die Sprach, ich hab sie gelernt, und wenn ich hab gehabt Kinder, hab ich beschlossen, dass ich will reden Jiddisch mit sey und mein Frau hat auch Jiddisch mit mir gelernt. Wir reden nicht Jiddisch die ganze Zeit in daheim. Wir reden oder französisch oder jiddisch."

    Gilles Rozier, geboren 1963 in Grenoble als Sohn einer jüdischen Mutter und eines nicht-jüdischen Vaters, wollte schon früh ein französischer Schriftsteller werden. Deshalb ist er nach seinen beiden Aufenthalten in Jerusalem auch nicht in Israel geblieben. Anreiz dafür gab es genug. Und im Übrigen liegt auch der Grund dafür, dass Gilles Rozier das Jiddischlernen nicht so schwer fiel, in der Familie:

    "Mein Großvater väterlicherseits war Deutschlehrer. Ich habe ihn kaum kennen gelernt, weil er in ´68 gestorben ist. Aber die deutsche Sprache war immer in meiner Familie eine wichtige Sprache. Ich habe sie in der Schule gelernt, und mein Großvater hatte sehr gute Freunde in Rheinland-Pfalz, nicht weit von Idar-Oberstein. Und ich habe viel Zeit bei ihnen verbracht. Sie waren wie meine Großeltern, ich habe viel mit ihnen gelernt, ich habe viel gelesen, weil ich war der einzige Jüngere bei ihnen und ich habe ganze Tage mit Lesungen verbracht."

    So steht Gilles Rozier zwischen den Sprachen, zwischen den Kulturen. Die Bibliothek, die er im "Haus der jiddischen Kultur" in Paris betreut, wurde schon 1929 von acht jüdischen Immigranten gegründet. Während der deutschen Besatzungsherrschaft von 1940 und ’44 konnte sie vor den Nazis versteckt werden.

    "Die Medem-Bibliothek sammelt jetzt 30.000 Bücher, 20.000 auf Jiddisch und 10.000 auf anderen Sprachen. Die Bibliothekare haben immer Bücher gekauft, aber es gibt viele Bücher, die durch Geschenke gekommen sind. Also, wir haben jetzt über 30.000 Bücher und wir sind die größte jiddische Bibliothek Europas."

    Aber Gilles Rozier sagt auch, dass er sein Amt als Leiter des "Hauses für Jiddische Kultur" sofort niederlegen würde, wenn Polizeischutz nötig wäre. Man dürfe sich nicht einsperren lassen, betont er. Um das zu verhindern, schreibt er gegen die offenen und latenten Vorurteile an, die den Antisemitismus – gerade in Zeiten wirtschaftlicher Krise – schüren, gegen starre Grenzziehungen zwischen Gut und Böse, zwischen orthodoxen Juden und Zionisten.

    Seine Romane "Eine Liebe ohne Widerstand" genauso wie "Abrahams Sohn" sind jedoch alles andere als Vehikel politischer Botschaften. Gilles Rozier, geschult unter anderem an Georges Perec, versteht das literarische, zuweilen auch experimentelle Handwerk. Er hat ein genaues Gespür für das Ambivalente, das Widersprüchliche, die Multi-Perspektivik - zumal im Sexuellen. Wunderbar die Szene, als seine Protagonistin Sharon wieder einmal ihre nicht-gläubigen Nachbarn hinter der Wand beim Liebesspiel belauscht und sich alles das, was zu praktizieren ihr als orthodoxer Jüdin verboten ist, vorstellt. Denn für Vorstellungen dieser Art kennt die Tora keine Strafe.

    Gilles Rozier: Abrahams Sohn
    Roman. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz, DuMont Verlag, Köln 2007, 160 Seiten, 19,90 Euro.