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Die Briten und ihr NHS
Eine große Liebe, aber keine blinde

Für viele Briten ist der National Health Service mehr als nur ein staatlicher Gesundheitsdienst. Der Liedermacher Martyn Joseph geht sogar so weit, seine Liebe zum NHS künstlerisch zu verarbeiten. Doch von dem einstigen Glanz ist wenig übrig. Die aktuelle Bedrohung heißt COVID-19.

Von Marten Hahn | 16.03.2020
Der britische Liedermacher Martyn Joseph
"Ein Symbol, das sagt: Jeder Mensch ist wichtig" - der Liedermacher Martyn Joseph hat eine Ballade über den britischen Gesundheitsdienst NHS geschrieben (Marten Hahn)
Ein Dorf nahe Cardiff. Wolken hängen grau und schwer am Himmel. Wenn Martyn Joseph nicht reist, wohnt er hier, mit Blick über die walisischen Hügeln. Joseph macht seit über 30 Jahren Musik und tourt um die Welt. Ein Mann und seine Gitarre.
In vielen seiner Lieder singt Martyn Joseph über die Ungerechtigkeit unserer Welt, aber auch über die, die sie besser machen. Einer seiner Songs heißt "Nye: Song for the NHS".
"Ich schrieb den Song, um Danke zu sagen"
Das Lied handelt von Aneurin "Nye" Bevan. Der Labour-Politiker hat den staatlichen britischen Gesundheitsdienst 1948 ins Leben gerufen.
"Er hat hart dafür arbeiten müssen. Sehr hart. Und ich dachte, darüber kann ich schreiben. Ich bin Waliser. Er ist Waliser, und mein politischer Held. Also schrieb ich den Song, um Danke zu sagen. Ihm und den Schwestern und Ärzten und all den anderen, die sich unermüdlich um uns kümmern."
Nye Bevans starb 1960. Aber auf gewisse Weise haben Joseph und Bevan den Text des Songs zusammen geschrieben.
"Ich fand diese unglaublichen Reden von ihm. 'Der Zweck von Macht ist, sie abzugeben.' Oder: 'Das ist meine Wahrheit. Nenn mir deine.' Und schon hatte ich den Refrain. Den hat er also fast selbst geschrieben. Und ich habe nur druntergesetzt: Dein Traum ist am Leben."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Englischer Patient - Der Gesundheitsdienst NHS und der Brexit".
Martyn Joseph ist nicht der Einzige, der seine Liebe zum NHS künstlerisch verarbeitet. Es gibt Theaterstücke über den Gesundheitsdienst und zahlreiche TV-Serien. Und auch in der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele 2012 spielte der NHS eine entscheidende Rolle.
Aus der Show zur Olymipa-Eröffnung 2012, inszeniert vom Filmemacher Danny Boyle: Krankenschwester und Ärzte trotzen einem Ansturm finster aussehender Gestalten
In der großen Show zur Olympia-Eröffnung 2012 wurden die Mitarbeiter des NHS als Helden gefeiert (AFP / Franck Fife)
Kinder auf Krankenhaus-Betten und NHS-Mitarbeiter tanzten durchs Stadion – und wurden dann von Bösewichten aus britischen Kinderbüchern heimgesucht.
Jede Bedrohung stärkt die Bindung zum NHS
Mathew Thomson erinnert sich an die Szenen. Der Historiker der Warwick University erforscht die kulturelle Geschichte des NHS.
"Die Tory-Regierung sah diese Szene sehr kritisch. Das war gefährlich politisch. Zu der Zeit, 2012, wurden die Konservativen beschuldigt, den NHS durch neue Reformen zu gefährden."
Die Briten haben Angst um ihren NHS. Und das schon seit den 1980er-Jahren, so Thomson. Damals bedrohte die neoliberale Thatcher-Regierung den staatlichen Gesundheitsdienst. Und jede neue Bedrohung stärkt die emotionale Bindung zum NHS. Die aktuellste heißt COVID-19. Laut Premierminister Boris Johnson ist der NHS bestens vorbereitet, um mit dem Coronavirus fertig zu werden.
Gesundheitsdienst am Limit
Eine Umfrage zeigt aber: Viele NHS-Ärzte sehen das anders. Der Gesundheitsdienst arbeite schon lange am Limit. Auch ohne das Virus. Und viele Bürger dürften zustimmen. Denn die Briten mögen ihren NHS zwar sehr, aber es handelt sich nicht um blinde Liebe, so der Historiker:
"Die Menschen sehen das sehr rational. Sie wiegen Stärken und Schwächen ab. Jeder, mit dem Sie reden, kann Ihnen gute und schlechte Geschichten über den NHS erzählen. Das sind sehr komplizierte Gefühle. Viele der größten Befürworter des NHS sind auch seine größten Kritiker, weil sie sehen, was über die Jahre mit dem Dienst passiert ist."
Lange Wartezeiten, veraltete Ausrüstung, unhöfliche, gestresste Ärzte. Für vieles was schief läuft, machen die Menschen die Politik und fehlende Gelder verantwortlich. Die Angestellten des NHS hingegen – vor allem Schwestern und Ärzte – werden häufig bewundert.
"Es gibt generell eine enorme öffentliche Unterstützung für die, die für den NHS arbeiten. Wenn Menschen also sagen, sie lieben den NHS, dann lieben sie wahrscheinlich die Idee des NHS-Angestellten - mehr als alles andere."
"Ein Symbol unserer Menschlichkeit"
Für Liedermacher Martyn Joseph ist der NHS auch ein Symbol.
"Es ist ein Symbol unserer Menschlichkeit. Es ist ein Symbol, das sagt, jeder Mensch ist wichtig. Wir sind alle gleich, und jeder hat einen bestimmten Anspruch auf Behandlung und Gerechtigkeit."
Viele seiner Konzerte beendet Joseph heute mit seiner Ballade für den NHS.
"Ich fange dann an zu spielen und frage: Gibt es Pfleger im Publikum? Könntet ihr aufstehen? Gibt es eine Ärztin? Einen Sanitäter? Und plötzlich stehen all diese Leute auf, und alle im Raum beginnen zu klatschen."