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Die Dichter des Zorns

Zorn ist ein Erregungszustand, an dem sich die Geister scheiden. Doch wann ist ein Zorn ein gerechter? Wann ist er blind und zerstörerisch? Was ist ein sprichwörtlich heiliger Zorn? Was nur ein rasender oder flammender? Wann ist Zorn am Platz, wann nicht?

Von Uwe Wittstock | 25.11.2012
    Von der Ilias bis Hölderlin, bei Goethe und Schiller, Kleist, Kafka, Enzensberger und in den Gedichten von Robert Gernhardt hat der Zorn auch in der Literatur stets eine herausragende Rolle gespielt. Mit der Dichtung über jenen Erregungszustand befasst sich der nun folgende Essay von Uwe Wittstock. Der Autor ist Literaturchef des Magazins "Focus".

    Für Literatur, die sich unübersehbar dem Wahren, dem Schönen, dem Guten verschrieben hat, gibt es kaum Rechtfertigungsprobleme. Es gehört zur vertrauten humanistischen Vorstellungswelt, dass die Arbeit der Dichter aufs Positive zielt, dass es ihnen darum geht, ihre Leser zu bessern oder zu belehren, das Leben erfreulicher und die Welt glücklicher zu machen. Eine Literatur des Zorns passt nicht gut in dieses Bild. Doch solche braven Vorstellungen von Literatur sind nicht nur vorschnell, sondern gleich in doppelter Hinsicht falsch. Denn natürlich zielen die Dichter zum einen nicht nur aufs Positive, oft genug ist es ihren schlicht gleichgültig, ob sie mit ihren Büchern irgendjemanden bessern oder glücklicher machen. Zum anderen steht nicht fest, ob denn Zorn etwas Negatives ist.

    Nüchtern betrachtet hat der Zorn in der Literaturgeschichte eine herausragende Bedeutung. Schon in der "Ilias", dem ersten, ältesten Meisterwerk eines europäischen Dichters, spielt er die Hauptrolle. Homer rückt den Zorn, sobald der Vorhang für sein großes Epos aufgeht, gleich im Anfangsvers ganz vorn an die Rampe:

    "Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus,
    Ihn, der entbrannt den Achaiern unnennbaren Jammer erregte,
    Und viel tapfere Seelen der Heldensöhne zum Aïs
    Sendete, aber sie selbst zum Raub darstellte den Hunden,
    Und dem Gevögel umher. So ward Zeus Wille vollendet:
    Seit dem Tag, als erst durch bitteren Zank sich entzweiten
    Atreus Sohn, der Herrscher des Volks, und der edle Achilleus."


    So zumindest lautet der Auftakt der Ilias in der klassischen Übersetzung von Johann Heinrich Voß. Raoul Schrott dagegen, der die jüngste Homer-Übersetzung geliefert hat, will vom Zorn nichts wissen und spricht stattdessen sowohl von Groll als auch von Bitternis. Aber letztlich ist damit die gleiche Emotion, der gleiche Erregungszustand gemeint.

    Welche Übersetzung man auch immer wählt, keine lässt Zweifel daran, dass der Zorn die Klammer ist, mit der Homer seine Geschichte zusammenhält und strukturiert. Die Ilias erzählt letztlich von nichts anderem als von der Entstehung, der Wandlung und den Konsequenzen des Zorns, dem sich Achill mit ganzem und heißem Herzen hingibt:

    Während der Belagerung Trojas raubt Achill, der fast unverwundbare, fast gottgleiche Meisterkrieger der Griechen, unter anderem ein Mädchen namens Chryseis. Sie ist die Tochter eines Priesters des Apollon. Als es im Lager der Griechen an die Verteilung der Beute geht, wird Chryseis allerdings dem Heerführer Agamemnon zugesprochen, der sich mit ihr sein karges Feldherren-Los ein wenig angenehmer gestalten möchte. Achill nimmt das hin, denn zum Ausgleich bekommt er eine andere schöne Troerin zugeteilt, Briseis mit Namen. In der stark testosterongesteuerten Logik der griechischen Belagerer ist damit alles in bester Ordnung.

    Die Probleme beginnen, als der Vater von Chryseis Agamemnon darum bittet, seine Tochter wieder herauszugeben. Der nicht eben sensibel veranlagte Agamemnon demütigt den Priester vor dem versammelten Heer, woraufhin sich dieser Hilfe suchend an seinen Gott wendet. Der sieht nun sein eigenes Ansehen durch Agamemnon geschmälert und überzieht die griechischen Truppen zur Strafe mit Seuchen.

    So geraten die Griechen, obwohl militärisch unbesiegt, an den Rand der Niederlage. Achill drängt Agamemnon, er möge Chryseis endlich doch ihrem Vater zurückerstatten, um Apollon zu besänftigen. Widerwillig muss Agamemnon dem Vorschlag folgen und die Seuchen klingen prompt ab. Um aber nicht als Gedemütigter und auch nicht ohne bettwärmende Geliebte dazustehen, beansprucht Agamemnon im Gegenzug Achills weibliche Trophäe Briseis für sich. Da Agamemnon als Heerführer ein gewisses Vorgriffsrecht auf die Beute hat, kann Achill ihm diesen Wunsch nicht abschlagen. Damit gerät er jedoch in die unschöne Lage, vor aller Augen seine Bettgefährtin an einen anderen Mann abtreten zu müssen – und folgerichtig in Zorn.

    Die Folgen sind verheerend. Achill beschließt, den weiteren Schlachten gegen die Troer fernzubleiben, was den Griechen eine desaströse Niederlage nach der anderen einträgt. Als aber sein Freund Patroklos durch Hektor, Trojas Thronanwärter, getötet wird, schlägt Achills Zorn um: Er tritt wieder auf dem Schlachtfeld an, macht gezielt Jagd auf Hektor und erschlägt ihn.

    Zugegeben, Altphilologen wären mit dieser Inhaltsbeschreibung nicht zufrieden. Die Rolle der Götter kommt darin zu kurz und den Helden werden in unzulässigem Maße moderne psychologische Motive unterschoben. Aber auf diese Weise verliert das antike Epos etwas von seiner marmornen Kälte und rückt näher an unsere Zeit heran.

    Es wäre weltfremd zu glauben, bei den Kämpfen um Troja, die dem Streit zwischen Achill und Agamemnon vorausgingen, sei kein Zorn im Spiel gewesen. Auch das, was die Truppen beider Seiten in diesen Krieg hinein- und immer weiter vorantrieb, hat mit Zorn zu tun. Aber gewissermaßen mit einem auf der Hand liegenden, vorhersehbaren, militärisch gut kanalisierbaren Zorn, der sich mit den Ehrbegriffen ihres unbekümmert mordenden Handwerks vereinen lässt.

    Beim Zorn des Achill liegen die Dinge anders und das macht ihn literarisch reizvoller. Denn Achill gerät in einen Ehrkonflikt: Zum einen kann er seinem Feldherrn Agamemnon die Beute nicht vorenthalten, zum anderen kann ein Mann mit seinem Ego die Beute-Geliebte Briseis nicht sang- und klanglos einem anderen Mann abtreten. Der Zwiespalt zwischen dem Gehorsam gegenüber seinem Feldherrn Agamemnon und der Empörung über den Nebenbuhler Agamemnon führt schließlich zur Handlungslähmung, zum zornigen Streik des Achill.

    Durch den Tod seines Freundes Patroklos gerät Achill dann in den nächsten Konflikt: Einerseits kann er unmöglich hinnehmen, dass sein Kampfgefährte getötet wird, während er selbst untätig am Rand des Schlachtfelds zuschaut. Andererseits hat er wegen Briseis geschworen, nie wieder unter Agamemnons Führung in den Krieg zu ziehen. Doch die Gewichtungen scheinen hier ziemlich klar: Die Rache für den gefallenen Freund wiegt schwerer als der Groll über die verlorene Freundin. Zumal Agamemnon das letztere Problem aus der Welt räumt, indem er ihm Briseis zurückerstattet – und dazu sicherheitshalber noch schwört, niemals mit ihr geschlafen zu haben. Womit die griecheninternen Konflikte für Achill aus der Welt geräumt sind und er sich wieder den Trojaner, insbesondere der Ermordung Hektors widmen kann.

    In literarischer Hinsicht ist aus all dem zunächst einmal zu lernen, dass Zorn ein wunderbarer Handlungsmotor ist. Er sorgt sowohl in der Literatur wie im Leben für Regsamkeit und Betätigungsgeist, schlichter gesagt für "Action". Doch Zorn verrät zugleich einiges über denjenigen, der in Zorn gerät, einiges über seine Wertordnung und über die seiner Epoche, seiner Gesellschaft, seines Milieus. Schließlich wird niemand zornig über das, was ihm richtig und angemessen erscheint. In Zorn versetzt uns, was unseren Wünschen oder unserem Gerechtigkeitsempfinden widerspricht. Chryseis zu rauben, war für Achill in Ordnung. Chryseis an Agamemnon abzutreten, solange er Briseis als Entschädigung erhielt, ebenso. Aber Briseis an den Feldherrn ohne Ersatzfrau kampflos abtreten zu müssen, weil der Feldherr Gehorsam und Beute verlangen darf, das verletzt Achills Wertordnung und stachelt seinen Zorn.

    Sicher, es gibt noch Dutzende andere Wege, die Werte, Ehrbegriffe oder Rangordnungen einer Romanfigur, einer Zeit oder einer Gesellschaftsschicht literarisch aufzuschließen und durch Handlung sichtbar zu machen. Zorn ist nicht das einzige Mittel. Aber es ist ein verdammt gutes.

    Allerdings hat der Zorn schon seit der Antike kein gutes Image. Ganz passabel kommt er noch in der griechischen Philosophie, bei Aristoteles, weg. Denn der beschränkt sich darauf, die sozialen Reaktionen auf allzu Zornige und allzu Sanftmütige sachdienlich zu beschreiben:

    "Wer da zürnt, wo der Anlass und die Personen den Zorn rechtfertigen, wer in der rechten Weise, zur rechten Zeit und die rechte Zeitdauer hindurch zürnt, dessen Verhalten findet Billigung. Das Zurückbleiben hinter der rechten Mitte aber, sei es aus einer Art von Temperamentlosigkeit, sei es aus irgendeinem anderen Grunde, ist Gegenstand der Missbilligung. Leute, die da nicht in zornige Aufwallung geraten, wo es geboten wäre, erscheinen als verkehrte Menschen, gerade wie diejenigen, die nicht in der rechten Weise, nicht zur rechten Zeit, noch aus dem rechten Anlass zürnen. Die Entscheidung darüber, auf welche Weise, welchen Personen, aus welchem Anlass, wie lange Zeit man zürnen soll, und wo die Grenze liegt zwischen dem richtigen und dem falschen Verhalten, lässt sich nicht leicht treffen. Wer nur wenig vom rechten Wege abweicht, sei es in der Richtung auf das Zuviel oder auf das Zuwenig, unterliegt keinem Tadel. Bisweilen lobt man diejenigen, die nicht weit genug gehen, und nennt sie sanftmütig, die aber, die heftig zürnen, charaktervoll, als Leute, die zu leitender Stellung befähigt seien. Wie weit nun und in welcher Weise jemand vom rechten Wege abweichen muss, um Tadel zu verdienen, das lässt sich nicht leicht in bestimmten Sätzen formulieren; denn die Entscheidung liegt je nach der Natur des Einzelfalles bei der unmittelbaren Empfindung."

    Wann ist ein Zorn ein gerechter? Wann ist er blind und zerstörerisch? Was ist ein sprichwörtlich heiliger Zorn? Was nur ein rasender oder flammender? Wann ist Zorn am Platz, wann nicht? Wenn Aristoteles hier nicht mit der Attitüde des allordnenden Philosophen felsenfeste Grenzlinien zu ziehen versucht, sondern auf den Einzelfall verweist, spricht daraus, so scheint mir, mehr als nur philosophischer Scharfsinn, sondern Lebensklugheit.

    Der rund 300 Jahre später geborene Römer Seneca dagegen lässt in seinem dreibändigen Werk "De Ira" am Zorn kein gutes Haar. Als Stoiker ist er davon überzeugt, dass die Vernunft, nicht aber die Emotionen den Menschen lenken und beherrschen sollte. Und erst recht nicht Zorn:

    "Die übrigen Affekte haben ja noch irgendetwas Ruhiges und Friedliches an sich. Dieser hier ist ganz Erregung und Drang, rasend vor unbändigem Verlangen nach Schmerz, Waffen, Blut, dem Scharfrichter, einem Verlangen, das keineswegs menschlich ist. Es ist ihm gleichgültig, was mit ihm passiert, solange er nur dem anderen schadet; er wirft sich den Geschossen direkt entgegen und giert nach Rache – und wenn sie den Rächer selbst mit sich reißt!"

    Plutarch wiederum, gut eine Generation jünger als Seneca, fragt dann schon im Titel seines Lehrgesprächs, wie der "Kampf gegen den Zorn" erfolgreich zu führen sei. Der Gedanke, dass Zorn nicht nur von übel, sondern gelegentlich gerechtfertig oder gar notwendig sein könnte, kommt bei ihm überhaupt nicht mehr vor. Von kalten Güssen ist die Rede, die Aufbrausende abkühle, von sanfter Musik, die milde stimme, oder vom Rückzug in Ruhe und Lächeln, der für innere Balance sorge. So wirkt sein Dialog-Essay heute wie ein frühes Stück Ratgeber-Literatur, wie eine Fitness-Fibel zum rechten Umgang mit dem eignen Temperament.

    Auch der große französische Essayist Montaigne, der rund 1400 Jahre später lebte, die Klassiker der Antike aber genau gelesen hatte, behauptet knapp: "Zorn ist immer ein Fehler". Doch schon weil er so unbefangen von eigenen Zornesausbrüchen berichtet, wirken seine Überlegungen entspannter und weniger pädagogisch als die Plutarchs. Mit Blick auf den großen Aristoteles wagt er es sogar, positive Züge des Zornes zumindest in Erwägung zu ziehen:

    "Aristoteles sagt, der Zorn diene manchmal der Tugend und der Tapferkeit zur Waffe. Das ist wahrscheinlich; jene indessen, die ihm widersprechen, antworten spaßig, dies sei eine Waffe nach ungewöhnlichem Brauch: denn die anderen Waffen ergreifen wir, diese ergreift uns; unsere Hand führt sie nicht, sondern sie führt unsere Hand; wir besitzen sie nicht, wir sind von ihr besessen."

    Womit Montaigne Aristoteles gleich wieder hinter sich lässt und in die Kurve zurück zum Stoizismus Senecas einbiegt. Die Aufgabe, andere Seiten des Zorns zu besingen, bleibt mithin den Dichtern vorbehalten, die traditionell als die leichtfertigeren Brüder der Philosophen und Essayisten gelten. Zum Zorn als abstrakter Größe hat die Literatur allerdings nicht viel zu sagen. Sie bringt – ganz im Sinne von Aristoteles – lieber den Einzelfall zur Sprache. Der Schriftsteller schreibt keine Literatur über den Begriff Zorn, sondern zornige Literatur. In einem der schönsten zornigen Gedichte der deutschen Literatur, in Goethes "Prometheus" klingt das ausschnittsweise so:

    "Bedecke deinen Himmel, Zeus,
    Mit Wolkendunst!
    Und übe dem Knaben gleich,
    Der Disteln köpft,
    An Eichen dich und Bergeshöhn!
    Musst mir meine Erde
    Doch lassen stehn,
    Und meine Hütte,
    Die du nicht gebaut,
    Und meinen Herd,
    Um dessen Glut
    Du mich beneidest.

    (...)
    Hier sitz’ ich, forme Menschen
    Nach meinem Bilde,
    Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
    Zu leiden, weinen,
    Genießen und zu freuen sich,
    Und dein nicht zu achten,
    Wie ich."


    Das Gedicht beginnt mit einem Imperativ und endet mit einem "ich". Beides ist bezeichnend: Zorn will nicht verhandeln, sondern befehlen, und ist sich selbst der Mittelpunkt der Welt. Goethe verschweigt das nicht, er zeigt den Zornigen nicht besser als er ist. Aber Prometheus’ Zorn richtet sich gegen einen Mächtigeren, gegen Gott Zeus persönlich, und das macht seinen Ausbruch so ungemein sympathisch. Prometheus, der Rebell, rechnet ab mit einem Herren, der nur zu helfen verspricht, aber nie sein Versprechen einlöst. Damit entwickelt der Zorn des Prometheus einen aufklärerischen Impuls. Er malt das Götter-Bild nüchtern, spöttisch, geringschätzig. Er lässt an seiner Verachtung keinen Zweifel und spart mit Vorwürfen nicht.

    Der Zorn wird hier zum Motor des Aufbegehrens, zur Antriebskraft, die Knechte zur Empörung gegen ihre Herren aufstachelt. Dieser Rebellen-Zorn schärft nicht immer den Blick auf die Kräfteverhältnisse zwischen Beherrschten und Herrschern, steigert aber den Mut, trotz allem für die eignen Rechte einzutreten. Derlei ungebärdige, anarchische Energien fügen sich allerdings nicht gut in der Ordnung traditioneller sprachlicher und literarischer Formen. Weshalb der junge Goethe gut daran tat, seinen Zorngesang nicht in ein festes Reimschema zu zwängen. Die Verse sind kurz und schnell wie der erregte Atem des Zornigen, sind kurz und scharf wie dessen Flüche.

    Wie lächerlich Zorn wirken kann, wenn er züchtig in die Muster des Lyrik-Lehrbuchs gepresst wird, zeigt Schillers Ballade "Der Handschuh": Der Balladenheld namens Ritter Delorges besteht hier zwar die Mutprobe, die ihm seine Hofdame Kunigunde abverlangt, doch sein finaler Wutausbruch, mit dem er Kunigunde wissen lässt, was er von ihrem Bedürfnis nach solchen Liebesbeweisen hält, wirkt läppisch, schließlich erschüttert er nicht einmal die Reimzwänge des Gedichts:

    "Da schallt ihm sein Lob aus jedem Munde,
    Aber mit zärtlichem Liebesblick -
    Er verheißt ihm sein nahes Glück -
    Empfängt ihn Fräulein Kunigunde.
    Und er wirft ihr den Handschuh ins Gesicht:
    ‘Den Dank, Dame, begehr ich nicht!’
    Und verlässt sie zur selben Stunde."


    Zorn schert sich nicht um Regeln, weder um literarische noch um soziale. Das macht seine politische Sprengkraft aus. Als emotionale Macht stellt er die Vernunft in Frage, auch die der angeblich vernünftigen Gesellschaftsordnung. Heinrich von Kleists Novelle "Michael Kohlhaas" erzählt von einer Orgie des Zorns, der sein Maß verliert und deshalb im Untergang des zornigen Titelhelden endet. Doch das ist nicht die eigentliche Pointe der Geschichte, zumindest nicht ihre politische.

    Das unerbittliche Rechtsbedürfnis des frühbürgerlichen Michael Kohlhaas ist es, das aus dem zunächst unbedeutenden Streit mit dem adligen Junker Wenzel von Tronka eine veritable Staatsaffäre macht. Sein Zorn steigert sich bis zur Revolte und da Kohlhaas im Recht ist, gewinnt er die Herzen seiner nicht-adligen Zeitgenossen. Er wächst zum Vorbild heran, zum role model, das schließlich die Hierarchie des Landes erschüttert.

    Als am Gerichtsort Dresden deutlich wird, wie offensichtlich rechtsbrecherisch die Familie Tronka gegen Kohlhaas vorgegangen ist, verlieren die Tronkas unter den Dresdnern nicht nur ihre Autorität, nein, sie sind ihres Lebens nicht mehr sicher. Meister Himboldt heißt der Rädelsführer, der dem mächtigen Kämmerer Tronka auf dem Marktplatz zeigt, was die revolutionäre Stunde geschlagen hat:

    "Meister Himboldt rief: Schmeißt den Mordwüterich doch gleich zu Boden! und während die Bürger [...] zusammentraten und die Wache hinwegdrängten, warf er den Kämmerer von hinten nieder, riss ihm Mantel, Kragen und Helm ab, wand ihm das Schwert aus der Hand, und schleuderte es, in einem grimmigen Wurf, weit über den Platz hinweg. Vergebens rief der Junker Wenzel, indem er sich aus dem Tumult rettete, den Rittern zu, seinem Vetter beizuspringen; ehe sie noch einen Schritt dazu getan hatten, waren sie schon von dem Andrang des Volkes zerstreut, dergestalt, dass der Kämmerer, der sich den Kopf beim Fallen verletzt hatte, der ganzen Wut der Menge preis gegeben war."

    Sein Zorn macht Kohlhaas also, wie es bereits im ersten Satz des Buches heißt, buchstäblich zum "rechtschaffensten" Menschen seiner Zeit. Kohlhaas lässt es sich sein Leben kosten, Rechtsprinzipien gegen ein korruptes Regime durchzusetzen. "Bist du mit mir zufrieden?" fragt ihn der Brandenburgische Kurfürst, nachdem Tronka verurteilt ist, und allein schon die Frage aus dem Mund des Herrschers zeigt, dass die soziale Ordnung nach Kohlhaas’ Aufstand nicht mehr die gleiche ist wie zuvor.

    Zorn ist Energie, und Energie braucht es, um gesellschaftliche Verhältnisse zu verändern. Das bedeutet naturgemäß nicht, dass jede Änderung eine Änderung zum Besseren wäre. Auch den Tronkas lässt der Zorn die Ader schwellen, und nachdem Kohlhaas für sein Aufbegehren mit seinem Kopf bezahlt hat, sind sie noch immer am Leben und werden ihre Chancen zu nutzen wissen.

    Die Fähigkeit zum Zorn ist vielmehr, um es mit einem Begriff aus den siebziger Jahren zu sagen, eine Sekundärtugend. Erst der konkrete Einzelfall zeigt seinen ethischen Standort an. Doch Unfähigkeit zum Zorn ist deshalb noch lange keine Primärtugend – sondern ein klares Defizit, das einem Schriftsteller wie Hans Magnus Enzensberger seinerseits Zornesröte ins Gesicht und fabelhafte Zorneskraft in die Sprache treibt in seiner "Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer", wie schon in wenigen Passagen daraus hörbar wird:

    "Soll der Geier Vergissmeinnicht fressen?
    Was verlangt ihr vom Schakal,
    dass er sich häute, vom Wolf? Soll
    er sich selber ziehen die Zähne?

    [...]
    Gelobt sein die Räuber: ihr,
    einladend zur Vergewaltigung,
    werft euch aufs faule Bett
    des Gehorsams. Winselnd noch
    lügt ihr. Zerrissen
    wollt ihr werden. Ihr
    ändert die Welt nicht."

    Wie sehr lieben wir unseren Zorn? Wie sehr genießen wir, dass er uns quält? Wer kennt ihn nicht: den Rausch des Zorns – und dann die fade Leere, die zurückbleibt, nachdem er abgeklungen ist. Der Zorn tobt und siedet in der Seele des Zornigen, aber er wärmt und erfüllt sie auch. Wie viel Feuer lodert in der Sprache der Dichter, sobald sie ihrem Zorn von der Kette lassen. Wer Ohren hat zu hören, wird nicht zweifeln, dass hier Lust im Spiel ist. Nicht nur im Gedicht Enzensbergers kann man diese Sprach-Lust hören, sondern ebenso, wenn Hölderlins Hyperion an Bellarmin schreibt, wie er unter die Deutschen kam:

    "Barbaren von alters her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer geworden, tiefunfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark zum Glück der heiligen Grazien, in jedem Grad der Übertreibung und der Ärmlichkeit beleidigend für jede gut geartete Seele, dumpf und harmonielos, wie die Scherben eines weggeworfenen Gefäßes".

    Der Trennungsstrich, den Hyperion hier zwischen sich und den Deutschen zieht, ist absolut. Er sieht nichts, was ihn mit ihnen verbände. Da gibt es keine klammheimliche Verwandtschaft:

    "Es ist ein hartes Wort und dennoch sag ich’s, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerrissner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester aber keine Menschen. Herrn und Knechte, Junge und gesetzte Leute, aber keine Menschen – ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinanderliegen, indessen das vergossne Lebensblut im Sande zerrinnt?"

    In einem Zeitalter, das hellhöriger geworden ist für Unbewusstes, fallen die Grenzbefestigungen zwischen dem Zornigen und dem, was seinen Zorn entzündet, nicht mehr derart unüberwindlich aus. Die Ambivalenzen des Seelenlebens gehören heute zu den Standardthemen der Literatur. Wenn es etwa in Franz Kafkas Erzählung "Eine kleine Frau" von der titelgebenden Frau heißt, sie sei mit dem Erzähler sehr unzufrieden, sie habe immer etwas an ihm auszusetzen, immer fühle sie sich von ihm ungerecht behandelt oder geärgert – dann dämmert dem Leser bald, dass Kafka hier zwei Menschen präsentiert, die der Zorn nicht nur trennt, sondern auch verbindet.

    Völlig fremd sei ihm die kleine Frau, behauptet Kafkas Erzähler, und empfiehlt ihr, ihn ebenso als völlig Fremden anzusehen, ja seine Existenz zu vergessen und damit ihren Zorn. Doch im nächsten Atemzug berichtet der Erzähler, von den subtilsten Beobachtungen, die er an der vorgeblich fremden kleinen Frau gemacht hat und von den Kaskaden des Widerwillens, die sein bloßer Anblick ihr entlocken:

    "Immer wieder werde ich etwa im Glück der ersten Morgenstunden aus dem Haus treten und dieses um meinetwillen vergrämte Gesicht sehn, die verdrießlich aufgestülpten Lippen, den prüfenden und schon vor der Prüfung das Ergebnis kennenden Blick, der über mich hinfährt und dem selbst bei größter Flüchtigkeit nichts entgehen kann, das bittere in die mädchenhafte Wange sich einbohrende Lächeln, das klagende Aufschauen zum Himmel, das Einlegen der Hände in die Hüften, um sich zu festigen, und dann in der Empörung das Bleichwerden und Erzittern."

    Versteht sich von selbst, dass dieses Zorn-Verhältnis ausweglos bleiben muss. Schon der naheliegende Rat eines Freundes, ein wenig zu verreisen, wird vom Erzähler aus fadenscheinigen Gründen als unverständig zurückgewiesen und ebenso rafft sich die kleine Frau nie auf, diese Verbindung gegenseitiger Qual zu beenden. Kafka liefert hier das literarische Doppelporträt zweier Menschen, die es nicht miteinander aushalten, die aber auch nicht voneinander lassen können. Sie zürnen sich gegenseitig, wollen aber um keinen Preis die Bindung an den anderen kappen. Eine Bindung, die von Zorn erfüllt ist, zugleich aber auch von einer unbewussten Anziehungskraft zeugt. Mit anderen Worten, in die vom scheuen Kafka behutsam gezeichnete Beziehung mischt sich ein spürbar sadomasochistischer Aspekt.

    Bleibt noch der komischen Züge des Zorns zu gedenken. "Denn so fürchterlich manche Taten des Zorns sind", schrieb schon Plutarch, "so lächerlich sind andere" und erinnert an Perserkönig Xerxes, der das griechische Meer, das sich skandalöserweise seinen Befehlen nicht fügen wollte, öffentlich auspeitschen ließ. Wer je die "Ich habe fertig"-Wutrede Giovanni Trappatonis hörte, wird Plutarchs These nicht anzweifeln.

    Aber nicht nur der Zorn eines Fußballtrainers ist komisch. Schon der zornige Achill erinnert, als er seine Teilnahme am Feldzug gegen Troja vorübergehend einstellt, an einen etwas albernen, eingeschnappten Schmoller: Das Missverhältnis zwischen seinem halbstarken Statuskonflikt mit Agamemnon und dem entfesselten Morden des Trojanischen Kriegs ringsum ist derart grotesk, dass es fast für ein wenig Heiterkeit inmitten des Blutbads sorgen könnte.

    Bei Michael Kohlhaas liegt der Fall ähnlich: Seine refrainhaft vorgetragene Forderung, der Junker Tronka möge seine Rappen "dick füttern", könnte angesichts des Bürgerkriegs, den Kohlhaas um dieses Zieles Willen entfacht, fast wie der Running-Gag der Novelle wirken – hätte Kleist sie nicht konsequent auf den schicksalsschweren Ton eines Justiz-Dramas eingestimmt.

    Beispielhaft wird die Komik des Zorns von Robert Gernhardt vorgeführt in seinem Gedicht mit dem Titel "Gebet". Es ist nur sechs Zeilen lang und beginnt zunächst nicht offensichtlich zornig, legt dann aber ein so aufgebrachtes Finish hin, dass am Ingrimm dessen, der hier betet, wenig Zweifel sein kann.

    "Lieber Gott, nimm es hin,
    dass ich was Besond’res bin.
    Und gib ruhig einmal zu,
    dass ich klüger bin als du.
    Preise künftig meinen Namen,
    denn sonst setzt es etwas. Amen."

    Hier ist der Zorn zur puren Lächerlichkeit verkommen. Der Mensch, der hier das Gegenteil einer Fürbitte anstimmt, vertraut so konsequent auf die kirchliche Lehre, im Gebet seinem Gott begegnen zu können, dass er meint, ihm bei diesem Zusammentreffen gleich Prügel androhen zu können. Was dem Gedicht eine erste Wendung ins Absurde gibt. Und die zweite folgt sogleich: Wer ein Gebet spricht, richtet es zwangsläufig an ein höheres Wesen, sonst ist es kein Gebet.

    In den ersten beiden Zeilen lässt Gernhardt zudem gut hörbar die Kinderverse anklingen: Lieber Gott, mach’ mich fromm, / dass ich in den Himmel komm. Über die Naivität solcher Zeilen und über die in ihnen mitschwingenden reichlich mechanischen Vorstellungen von religiöser Erlösung macht sich das Gedicht vor allem lustig. Der Witz des Gedichts geht also nicht auf Kosten des Angebeteten, sondern auf die des Betenden, der da großmäulig und in offensichtlicher Verkennung seiner intellektuellen Kapazitäten davon schwadroniert, von herausragender Klugheit, etwas "Besond’res" und des Lobpreises wert zu sein.

    Der Zorn dieses Gedichtes ist mithin nicht der mythische Zorn eines Achill oder Prometheus, nicht der grundsatzstarke Zorn des Michael Kohlhaas, nicht der lustbetonte Zorn des Hölderlins oder Enzensbergers und auch nicht der selbstverräterische Zorn Kafkas, sondern schlicht der harmlose Zorn eines Trotzköpfchens.

    Am kommenden Sonntag bringen wir einen Essay von Ria Endres über die russische Schriftstellerin Marina Swetajewa und ihr dramatisches Lebenswerk. Der Titel: "Der Regen bringt den Schmerz zur Ruh."