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Die Dominanz des Kapitals

Die US-Historikerin Joyce Appleby konzentriert sich in ihrem Werk auf Ereignisse, die dem Kapitalismus seine charakteristische Form verliehen haben. Dabei werden nicht nur ökonomische, sondern auch politische und kulturelle Entwicklungen unter die Lupe genommen und miteinbezogen.

Von Rainer Kühn | 29.08.2011
    "In England fallen die Ursprünge des Kapitalismus mit den Fortschritten in der Landwirtschaft, den Erkundungen des Erdballs und dem Erkenntnisfortschritt der Wissenschaft in eins."

    Joyce Applebys Werk ist fraglos eine immense Fleißarbeit: Vom mittelalterlichen Handel über die Entdeckung von Schifffahrtsrouten zu neuen Kontinenten, die Europa mit Silber und Gold überschwemmten, über den Sklavenhandel – und-und-und - bis hin zur heutigen chinesischen Variante des Kapitalismus: Joyce Appleby will uns, laut Untertitel Eine Geschichte des Kapitalismus erzählen. So etwas steht derzeit offenbar hoch im Kurs. Allem Anschein nach erzählt fast jeder nur noch "eine Geschichte".

    "Dies ist keine allgemeine Studie des Kapitalismus in allen seinen Erscheinungsformen. [...] Ich [...] konzentriere mich auf gewisse Entwicklungen an bestimmten Orten der Welt, die dem Kapitalismus seine charakteristische Form verliehen haben. Mein Hauptaugenmerk liegt dabei auf dem wirtschaftlichen Aspekt des Themas, doch es kann nicht oft genug gesagt werden, dass der Kapitalismus kein rein ökonomisches, sondern genauso sehr ein kulturelles System ist."

    Joyce Appleby ist beileibe nicht die erste, die diese Position vertritt. Kapitalismus bedeutet eben nicht nur: Geld zu investieren, um hinterher Mehr-Wert herauszubekommen. Sondern Kapitalismus ist auch: Eine einzigartige Gesellschaftsstruktur, in der nicht mehr der Mensch die Verhältnisse bestimmt, sondern das Kapital alles dominiert. Eine singuläre Kultur eben. Laut Joyce Appleby ist uns diese Kultur aber dermaßen in Fleisch und Blut übergegangen, dass wir gar nicht mehr bemerken, dass sie nicht natürlich ist. Mit Blick auf den Urvater der Ökonomen, Adam Smith, bemerkt sie:

    "Seine Interpretation der Geschichte des Kapitalismus als Geschichte eines quasi mühelosen Fortschritts ist die größte Ironie der Kapitalismusgeschichte, bedeutet sie doch eine Erklärung der Ursprünge des Kapitalismus, die das natürlich erscheinen lässt, was de facto einen erstaunlichen Bruch mit dem Vorhergegangen bedeutet."

    Derartiges haben hierzulande auch andere hervorgehoben: Karl Marx, Max Weber oder Werner Sombart, um nur einige zu nennen. Sie alle sahen es wie Joyce Appelby:

    "Das Rätsel des Aufstiegs des Kapitalismus ist kein rein ökonomisches, sondern gleichermaßen ein politisches und moralisches: Wie gelang es den Unternehmern, sich aus der Zwangsjacke der Gebräuche und Traditionen zu befreien und die Macht und das Ansehen zu gewinnen, die es ihnen erlaubten, die Gebote ihrer Gesellschaft außer Kraft zu setzen?"
    Applebys Antwort lautet:

    "Entscheidend für die Geschichte des Kapitalismus war die Akkumulation kulturellen Kapitals, insbesondere des Wissens und des Drangs, produktive Neuerungen zu schaffen."

    Noch entscheidender sei allerdings gewesen, dass die Engländer die landwirtschaftlichen Erkenntnisse der Niederländer übernahmen.

    "Die Niederländer erkannten als Erste, dass es möglich war, die bis ins Mittelalter zurückreichende Praxis der jährlichen Brachlegung großer Ackerflächen aufzugeben. Anstelle der ursprünglichen Flächenrotation teilten sie den Boden in vier Äcker auf, auf [...] dem sie [...] im Wechsel Getreide, Rüben, Gras sowie Klee anbauten."

    So konnten mit weniger Menschen mehr Nahrungsmittel hergestellt werden. Dadurch wurden Arbeitskräfte freigestellt. Für die kapitalistische, mittlerweile: industriell geführte Produktion. Und diese Arbeiter sorgten mit ihrem Verdienst für gesteigerten Konsum:

    "Die Nachfrage nach industriell hergestellten Waren [...] konnte nicht steigen, ohne dass dem Änderungen in der Produktion von Nahrungsmitteln vorausgegangen wären, denn es war schlicht kein Geld vorhanden, um eine zusätzliche Nachfrage in zusätzliche Käufe zu übersetzen."

    Das ist die mehrfach im Buch wiederholte These der Historikerin Joyce Appleby – und auch der Kern ihrer Darlegungen. Eben deshalb ist ihr Werk "Eine Geschichte des Kapitalismus" - andere Autoren bieten gut-fundierte alternative Beschreibungen des epochalen Wandels an. Man könnte nämlich, wie etwa Karl Marx, mehr auf die Gewalt während der von ihm sogenannten Phase der "Ursprünglichen Akkumulation" hinweisen. Oder der Frage nachgehen, ob Kapitalismus nicht etwas mit Wetten-auf-die-Zukunft zu tun hat. Mit dem, was damals in Brüssel kreiert wurde – und was heute noch den von damals stammenden Namen Börse trägt.

    Brüssel und Börse? Kommen bei Joyce Appelby nicht vor. Joyce Appleby leistet sich eine Vielzahl kleiner Fehler, die den Glanz des voluminösen Werks mindern: Etwa, wenn sie schreibt, das Baltikum sei die "sprichwörtliche Kornkammer Europas" gewesen. Nein, das war die Ukraine. Oder: Sie bezeichnet sich als Anhängerin von Max Weber – dem "klugen Philosophen". Max Weber war vieles. Bloß als Philosophen hätte er sich nicht gesehen. Und vor allem hätte die Autorin für sich und für den Leser das Phänomen "Geld" klären sollen: Was macht den Unterschied zwischen einem Klumpen Gold und einer schnöde gedruckten Banknote eigentlich aus? Mit den Worten der Autorin gesagt:

    "Eine größere Klarheit über das Wesen des Kapitalismus würde es uns erlauben, klügere politische Entscheidungen zu treffen. Würden wir erkennen, dass der Kapitalismus kein natürliches System wie das Wetter ist, sondern vielmehr ein kulturelles, so würde sich vielleicht auch unsere amerikanische Außenpolitik ändern, die nach wie vor der Vorstellung folgt, die Angleichung der Welt nach amerikanischem Vorbild sei ein universeller Imperativ. Ebenso wenig sind Märkte sich selbst regulierende Systeme."


    Joyce Aplleby: "Die unbarmherzige Revolution. Eine Geschichte des Kapitalismus"
    Murmann Verlag
    686 Seiten, 36,00 Euro
    ISBN: 978-3-867-74135-4