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"Die Ermordung Budiafs war die Initialzündung"

Die Verlegerin von Boualem Sansal sagt, dass der algerische Schriftsteller vor allem durch den Bürgerkrieg in seiner Heimat geprägt wurde. Auch in seinen Werken mache er auf die Verhältnisse im Land aufmerksam und übe deutlich Kritik, so Katharina Meyer.

Katharina Meyer im Gespräch mit Angela Gutzeit | 09.06.2011
    Angela Gutzeit: Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2011 geht an den algerischen Schriftsteller Boualem Sansal. Dies gab heute der Börsenverein des Deutschen Buchhandels bekannt mit der Begründung, dass damit ein Zeichen gesetzt werden solle für die Demokratiebewegung in Nordafrika. Der 1949 in einem kleinen Bergdorf geborene Sansal hat bislang fünf Romane veröffentlicht, die auch alle ins Deutsche übersetzt wurden. Erschienen sind sie im Merlin-Verlag. Und jetzt bin ich mit Katharina Meyer, der Verlegerin des Merlin-Verlags, telefonisch verbunden. Ich grüße Sie, Frau Meyer!

    Katharina Meyer: Hallo!

    Gutzeit: Ich denke, auch für Sie ist das ein besonderer Tag?

    Meyer: Ja, es ist fantastisch, es ist natürlich eine große Freude, eine große Überraschung, eine große Dankbarkeit auch, dass diese Entscheidung gefallen ist, in der Weise, und es ist die Krönung, würde ich sagen, unserer zehnjährigen Zusammenarbeit mit Herrn Sansal.

    Gutzeit: Konnten Sie eventuell mit Boualem Sansal schon Kontakt aufnehmen?

    Meyer: Ja, ich habe mit ihm telefoniert vorhin, und er ist natürlich ganz aus dem Häuschen und aus allen Wolken gefallen und kann es im Grunde genommen noch gar nicht so richtig fassen, was das eigentlich alles für ihn bedeutet. Er hat an sich im Oktober eine Reise nach Kanada vorgehabt, er ist da eingeladen worden von seinem amerikanischen Verleger, und muss jetzt erst mal sehen, wie er das alles terminlich auf die Reihe bekommt.

    Gutzeit: Jetzt muss er seine Pläne ändern, aber der Anlass ist ja ein sehr erfreulicher!

    Meyer: Absolut, ja!

    Gutzeit: Der Stiftungsrat des Friedenspreises des deutschen Buchhandels hat ein deutliches Zeichen gesetzt mit dieser Preisverleihung, was nämlich die Freiheitskämpfe in der arabischen, islamisch geprägten Welt angeht, und einen Autor ausgezeichnet, der sich schon seit langem und in vielfacher Hinsicht für Demokratie und die Freiheit des Wortes einsetzt - eine intellektuelle Stimme, die weit über Algerien hinaus gehört wird. Hören wir ihn doch einmal selbst.

    Boualem Sansal: Für mich ist es sehr wichtig, Verantwortung zu übernehmen. Wenn Sie etwas getan haben, müssen Sie Verantwortung übernehmen. Auch ich bin verantwortlich. Darum ist die Gerechtigkeit so wichtig. Wenn jemand ein Verbrechen begangen hat, will man Gerechtigkeit walten lassen, ihn verurteilen. Er hat dieses und jenes getan, man überprüft die Fakten. Aber man neigt auch leicht dazu, die Verantwortung zu leugnen. Er hat dieses und jenes getan, weil er eine schlechte Erziehung hatte. Aber wir haben alle eine schlechte Erziehung, Sie, ich, wir alle. Oder die Schule ist schuld oder die Gesellschaft. Aber nein: Wir sind immer selbst verantwortlich. Unsere Verantwortung ist sehr groß. Und wenn man verantwortlich ist, muss man sich seiner Verantwortung stellen.

    Gutzeit: Boualem Sansal, Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels 2011. Katharina Meyer, ausgezeichnet wurde ein Autor, der sich ja immer schon politisch engagiert hat in verschiedenster Hinsicht, kann man sagen, wobei er ja am Anfang nicht unbedingt in Opposition zur algerischen Regierung stand. Er war ja immerhin auch schon einmal Regierungsmitglied - soweit ich gelesen habe, Generaldirektor im Ministerium für Industrie in Algerien. Was hat ihn eigentlich geprägt, zu diesem überhaupt politischen Engagement?

    Meyer: Na ja, geprägt hat ihn natürlich zuallererst die Kindheit und Jugend, in der er natürlich die - auch die Unabhängigkeitskämpfe mitbekommen hat, die sich entstehenden Bürgerkriege, und so weiter . also, das hat ihn alles sehr stark geprägt, das hat ihn auch geprägt, dass er aus einem Elternhaus stammt - der Großvater mütterlicherseits war bei der Bahn beschäftigt und der Vater war ein ganz einfacher Bauer im Grunde aus den Bergen, und er ist dann mit der Mutter in der Zeit des Unabhängigkeitskrieges dann in Algier aufgewachsen und hat da also auch natürlich dramatische Dinge miterlebt, und dann als Student natürlich auch bewegt gewesen, und hat also immer im Grunde genommen dann die Hoffnung gehabt, dass sich das Land auf eigene Beine stellen wird können, und - gut, er hat also eine gute Ausbildung genossen, er ist promovierter Ökonom, und ist dann in den 90er-Jahren, da war er beschäftigt als Generaldirektor in diesem Ministerium für Industrie und Umstrukturierung, hat da also eine leitende Funktion gehabt, und dann war es die Zeit des Bürgerkrieges, wo eben diese - wie wir ja wissen - sehr schrecklichen Unruhen waren, wo man auch wirklich nicht wusste, was einem am nächsten Tag widerfährt. Und er hat es selber immer so beschrieben, dass die Leute in den Häusern abends gesessen haben und sich - die Ohren natürlich nach außen gerichtet waren, was denn draußen passiert. Und in der Zeit hat er eben angefangen, sich die Frage zu stellen oder es hat ihn beschäftigt: Wie ist es überhaupt dazu gekommen? Und er hat angefangen zu schreiben. Er wollte versuchen, das schriftlich zu erklären, wie es dazu gekommen ist.

    Gutzeit: 1996 beginnt Boualem Sansal, zu schreiben, und in Algerien sind vorher dramatische Dinge passiert. Ich erinnere mich daran - wann war das? 1992 Ermordung des algerischen Präsidenten Boudiaf. Waren diese dramatischen Ereignisse eine Art Initialzündung auch für sein neues Dasein als Schriftsteller?

    Meyer: Die Initialzündung - natürlich! - ist dieses Ereignis mit der Ermordung Budiafs . ist natürlich - kann man sicherlich sehen als eine Initialzündung für seine schriftstellerische Tätigkeit, wobei man sagen muss, er ist natürlich auch vorher unabhängig davon ein literarisch interessierter Mensch gewesen. Er hat sich in den intellektuellen Kreisen bewegt, an der Universität, er war mit Rachid Mimouni eng befreundet, der ihm auch immer gesagt hat: Du musst schreiben!, und es war vermutlich einfach ein Anstoß, ein Auslöser, der nötig war, um das eben einfach aufbrechen zu lassen. Und das ist dann halt gemündet in dieses erste große Werk: "Der Schwur der Barbaren".

    Gutzeit: Auf das kommen wir gleich zu sprechen. Boualem Sansal hat es ja immer abgelehnt - trotz der Repressalien, die ja auch ihn getroffen hatten -, Algerien zu verlassen, und vermutlich - denke ich mir so - hat ihn diese Nähe zu den Ereignissen in seinem Land dazu auch befähigt, wichtige Themen, die natürlich auch brisant waren, in seinen Büchern aufzugreifen. Alle bislang fünf Romane haben einen ganz besonderen Zugriff auf die algerische Wirklichkeit, aber - das finde ich auch sehr interessant - ein Blick hinaus auf das Verhältnis zum Beispiel zwischen westlicher Welt und nordafrikanischer Wirklichkeit.

    Meyer: Ja, das ist richtig. Das ist das besondere an seinem Werk, dass er eben in beiden Erzähltraditionen im Grunde genommen zuhause ist und es auf wunderbare Art und Weise versteht, diese Erzähltraditionen miteinander zu verbinden. Und auf diese Weise gelingt ihm das, was eben großer Literatur halt nur gelingen kann: Dass er eben wirklich auch die Menschen zueinander führt, also uns europäische Leser im Grunde genommen heranführt an die Menschen, an die Lebenssituation der Menschen in seiner Heimat, die sich mehr oder weniger auch übertragen lässt auf die anderen Maghreb-Staaten, und man merkt: Die Welt ist sehr klein. Und es hat ganz viel mit uns zu tun!

    Gutzeit: Sie haben eben schon den ersten Roman erwähnt: "Der Schwur der Barbaren", 2003 ist der bei uns erschienen; der kommt im Gewand eines Kriminalromans daher, beinhaltet aber bereits deutliche Kritik an den algerischen Zuständen, und zwar so deutlich, dass offensichtlich dieser Roman 1999 zuerst in Frankreich bei Galimard erschien, und nur dort war es möglich, und es wurde sogar darüber geredet, ob es nicht besser wäre unter Pseudonym. Was war denn das Brisante an diesem ersten Roman?

    Meyer: Na, es geht einfach darum, dass die Korruption genannt wird. Es geht um die Frage, es sind zwei Morde, das eine ist sozusagen der Pate der Region, der ermordet wird, und das andere ist ein ganz belangloser älterer Herr, der sich um die Friedhöfe der Franzosen, also der Kolonial-Franzosen kümmert, und beauftragt wird - mit der Klärung - eben ein Kommissar, der eigentlich auch schon halb pensioniert ist, weil man die Sache im Grunde genommen unter der Decke halten will. Und in diesen Romanen sind immer wieder mehr oder weniger deutliche Anspielungen auf die aktuelle Situation in allen Bereichen eingeflochten, sodass man im Grunde genommen nicht übersehen kann, dass da eine ganz deutliche Kritik geübt wird an den Verhältnissen.

    Gutzeit: Wir blicken noch mal ganz kurz zurück auf seinen zweiten Roman, "Das verrückte Kind aus dem hohlen Baum" von 2000, bei uns 2002 erschienen; wenn ich das richtig sehe, greift da Sansal eigentlich zum ersten Mal deutlichst das Problem des Islamismus in der arabischen Welt auf oder liege ich da falsch? Denn das ist ja ein Thema, das ihn weiterhin bis heute beschäftigt!

    Meyer: Ja, das ist richtig, wobei das spielt natürlich im "Schwur der Barbaren" auch schon eine Rolle. Die Diskussion, die ja auch zu Bürgerkriegszeiten auch so ein bisschen zu uns vorgedrungen ist, wer ist eigentlich an diesen den Islamisten zugeschriebenen Attentaten tatsächlich, wer steckt eigentlich tatsächlich dahinter? Und diese Verquickung von Instrumentalisierung, von allen Seiten im Grunde genommen, aber eben auch von der politischen Elite, das spielt immer wieder eine Rolle, und dagegen wendet sich Herr Sansal eben auch ganz stark.

    Gutzeit: Wenn man Sansals Artikel und Essays liest, dann muss man ja zum dem Schluss kommen, dass er die Entwicklung seines Heimatlandes wie auch die anderer islamisch geprägter Länder ziemlich pessimistisch sieht. Er glaubt offensichtlich nicht so recht momentan an echte demokratische Reformen, trotz dieses arabischen Frühlings, was ja auch den teilweise ist ja auch dieser arabische Frühling auf sein Land Algerien übergesprungen, mit nicht sehr großem Erfolg; er glaubt wohl nicht so ganz daran, dass sich dort in kürzester Zeit etwas Richtung Demokratie verändert, da er sich immer wieder über den Islamismus geäußert hat, ist das für ihn das zentrale Thema? Der Hemmschuh, sozusagen?

    Meyer: Es ist ein Aspekt. Es ist natürlich auch so, dass er immer wieder auch uns als Leser darauf hinweist, dass wir Europäer natürlich auch eine Verantwortung haben, was ja auch in der Diskussion jetzt, während des arabischen Frühlings immer wieder auch angeklungen ist: Wie verhalten wir Europäer uns eigentlich zu diesen Demokratiebewegungen? Und da ist Sansal eben auch relativ klar. Er sagt: Natürlich hat das mit den Europäern sehr viel zu tun, und die Europäer haben auch eine Verantwortung den nordafrikanischen Staaten gegenüber, diese Bewegung zu unterstützen. Gleichzeitig ist er wirklich ein nüchterner und sachlicher Analytiker der Situation. Er argumentiert natürlich aus der Erfahrung des algerischen Unabhängigkeitskrieges und weiß, dass es eben nicht einfach nur damit getan ist, dass man auf die Straße geht und Präsenz zeigt. Sondern es ist eine Demokratiebewegung muss wirklich alle Bereiche durchdringen, und dazu gehört natürlich auch und zuallererst sicherlich die Trennung von Religion und Staat. Das ist auch für ihn ein ganz zentraler Punkt, aber das alleine ist es nicht. Er sagt zum Beispiel auch: Die Globalisierung hat im Grunde genommen in diesen Ländern überhaupt gar nicht stattgefunden bisher.

    Gutzeit: Gut. Katharina Meyer, Sie haben als deutsch Verlegerin von Boualem Sansal von Anfang an auf ihn gesetzt. Was hat Sie denn an diesem Autor eigentlich so fasziniert? Ich wollte jetzt mal ein bisschen auf die schriftstellerischen Qualitäten abheben, denn darum geht es ja nun auch!

    Meyer: Darum geht es natürlich vor allen Dingen, würde ich sagen! Boualem Sansal ist ein Mann des Wortes und der Feder. Wir sind auf ihn aufmerksam geworden genau deshalb, weil er ein herausragender Erzähler ist, er ist sehr gewieft im Umgang mit der Sprache, er schafft eigentümliche Bilder, die den Leser immer wieder herausfordern, er ist witzig, er ist ironisch, er ist natürlich auch manchmal traurig, anrührend, und das ist eine wunderbare, unterhaltende, aber eben auch anspruchsvolle - im Sinne von herausfordernde - Literatur.

    Gutzeit: Offensichtlich hat er ja eine Sprache und hat er Bilder, die er entwickelt, wie Sie es sagen, die sich gut vermitteln lassen, auch sozusagen uns Westeuropäern gut in den Kopf gehen und gut gefallen. Denn er hat ja richtige Fangemeinden.

    Meyer: Das ist richtig, und das ist eben auch das Besondere, würde ich sagen, weshalb er wirklich so eine Vermittlerfunktion hat und an der Stelle auch wirklich, wie ich finde, ganz zu Recht ausgezeichnet worden ist auch für diese Vermittlung zwischen den Kulturen, und weil er eben genau das beherrscht. Er ist eben in beiden Traditionen zuhause und er spielt damit auf eine ganz leichte, lockere Art und Weise natürlich auch immer wieder pessimistisch, aber eben er hat immer ein leichtes maliziöses Lächeln auf den Lippen. Und wenn man seine Bücher liest, dann kann man das sehen oder spüren.

    Gutzeit: Vielen Dank, Katharina Meyer, für dieses Gespräch! Der algerische Schriftsteller Boualem Sansal erhält den Friedenspreis des deutschen Buchhandels 2011, der mit 25.000 Euro dotiert ist. Boualem Sansals Bücher sind bei uns im Merlinverlag erschienen.