Freitag, 19. April 2024

Archiv


Die erste deutsche Arbeiterjugendorganisation wird in Berlin gegründet

Max Peters: Die Ziele sind: Die Aufklärung über die materielle Lage, die geistige Ausbildung und die sittliche Erziehung der Jugend zu denkenden, furchtlos handelnden Menschen und tüchtigen Funktionären der Arbeiterbewegung.

Von Hartmut Goege | 10.10.2004
    So umschrieb später Max Peters, einer der Mitbegründer, die Absichten des so genannten Vereins der Lehrlinge und jugendlichen Arbeiter Berlins. 24 von ihnen hatten sich damals am 10. Oktober 1904 in einem Berliner Clubhaus getroffen. Nach dem Selbstmord eines Schlosserlehrlings war der Ruf nach einer solchen Interessensvertretung lauter geworden. Die Verzweiflungstat war offensichtlich die Folge brutaler Misshandlungen durch seinen Lehrmeister. Aber diese Züchtigungen waren weit verbreitet. Die erste Ausgabe des Vereinsorgans "Arbeitende Jugend" rief die Lehrlinge deshalb zum Widerstand auf:

    Wach auf! Arbeitende Jugend wach auf! Wirf die Geißel der Unterdrückung und geistigen Bevormundung von dir. Sorge, dass du würdig und bereit bist, ein Mitkämpfer deiner Arbeitsbrüder zu werden. Auf den Schultern der Jugend ruht die Zukunft des Volkes.

    In der Monatszeitschrift wurden nun regelmäßig drastische Fälle von Misshandlungen geschildert, und die Namen der Betriebe und Meister genannt. Die Bewegung breitete sich innerhalb weniger Monate über die Grenzen von Berlin aus. Bis Ende 1907 gründeten sich an die 50 Vereine in ganz Deutschland. Gewerkschaften und SPD-Politiker, wie Karl Liebknecht, sahen in den Jugendorganisationen wichtige Partner im Kampf der Arbeiterbewegung gegen die Ausbeutung:

    Karl Liebknecht: Wer euch beleidigt und schlägt, gibt euch damit ohne viel Federlesens Grund zur sofortigen Arbeitsniederlegung, und zum Schadensersatz. Nach dem Gesetz gilt eine Verletzung eurer Ehre und eures Körpers durch den Unternehmer gleich der Ehr- und Körperverletzung des Unternehmers durch den Arbeiter.

    Die Lehrlinge waren zu einer großen sozialen Gruppe ohne politische Rechte angewachsen. Das Handwerk stand in einem erbitterten Wettbewerb zu den billiger produzierenden Fabriken. Deshalb mussten neue Lehrlinge für Hilfsarbeiten sogar Lehrgeld zahlen, ältere ersetzten gegen geringen Lohn die Gesellen. Vergeblich versuchten deshalb Handwerksorgane wie die Deutsche Tischlerzeitung den massenhaften Zulauf zu den Jugendorganisationen aufzuhalten.

    Diese Idee kann nur auf dem Sumpfboden der Großstadt Blüten treiben; in dem Milieu der Zuhälter, Schnapssäufer und ähnlicher Ehrenmänner sind ihr die besten Perspektiven gegeben. Nur für halbwüchsige Burschen, die auf diesem Boden wurzeln, wird die sozialdemokratische Phrase von der Gleichberechtigung etwas Berauschendes haben.

    Viele Arbeiterjugend-Vereine erkannten auch frühzeitig Kaiser Wilhelms Kriegstreibende Politik. Während in der Rüstungsindustrie riesige Profite gemacht wurden, lebten viele Arbeiterfamilien in bitterer Armut. Kritische Referate an Vereinsabenden, wie "Jugend gegen Militarismus", förderten nicht gerade den preußischen Hurra-Patriotismus. 1908 wurde kurzerhand das Reichsvereinsgesetz verabschiedet. Wer unter 18 war durfte in Vereinen an keiner politischen Versammlung mehr teilnehmen. Politische Diskussionen zu verhindern war aber praktisch unmöglich. Heinz Blievernicht, Mitglied der Hamburger Arbeiterjugend vor dem 1. Weltkrieg erinnert sich:

    Wir sind kontrolliert worden. Wenn es mal gar zu garstig wurde, dann konnte der Schutzmann sagen: Halt Stopp, die Versammlung ist aufgelöst. Das haben wir noch erlebt. Wir hatten aber mitunter Referenten, die schlau genug waren, wenn der Herr reinkam, die ja immer in Uniform kamen, man kannte sie ja schon, dass er dann das Thema wechselte und meinetwegen über Heinrich Heine sprach oder über Schiller oder über die Unsterblichkeit eines Maikäfers. Also irgendein Thema fand. Nicht immer sind wir deshalb also aufgelöst worden.

    Während des 1. Weltkriegs wurden die Vereine aufgelöst. In der Weimarer Zeit reorganisierten sie sich zur Sozialistischen Arbeiterjugend und zur Freien Proletarischen Jugend. Nach der Zerschlagung durch die Nationalsozialisten wurden sie 1946 als zwei getrennte Organisationen wieder belebt. Die Freie Deutsche Jugend, FDJ, im Osten, und die Sozialistische Jugend Deutschlands, SJD die Falken, im Westen. Nach der Wende 1989 sehen sich die Falken als legitime und unabhängige Nachfolgeorganisation der Arbeiterjugendbewegung, die sich nach wie vor um Gleichberechtigung und soziale Belange von Arbeiterkindern einsetzt. Ihr Traditionslied von 1907 "Dem Morgenrot entgegen" singen sie noch heute.

    Dem Morgenrot entgegen, ihr Kampfgenossen all. Bald siegt ihr allerwegen, bald weicht der Feinde Wall. Mit Macht heran und haltet Schritt, Arbeiterjugend, will sie mit? Wir sind die junge Garde des Proletariats! Wir sind die junge Garde des Proletariats!