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Die ersten Amerikaner

Diesseits und jenseits des Atlantiks lernt jeder in der Schule, dass die ersten Menschen aus Nordostasien nach Amerika kamen. Am Ende der Eiszeit sollen sie über eine längst verschwundene Landbrücke von Sibirien nach Alaska gewandert sein.

Von Matthias Hennies | 12.08.2010
    Aber stimmt das noch? Amerikanische Archäologen stoßen immer wieder auf Spuren einer Kultur, die mindestens 1000 Jahre älter ist als alles, was man bisher kannte.

    Steil und dunkel erheben sich die Felsen aus der endlosen Ebene. Sturmwolken sind darüber aufgezogen, aber es fällt kein Regen. Der Aufstieg führt durch Geröll und kratziges Salbei-Gestrüpp, das typische, krüppelige Wüstengewächs im Westen der USA. Auf halber Höhe liegen die Höhlen. Hier haben Steinzeitmenschen Zuflucht gesucht, vor mehr als 10.000 Jahren. Frühe Bewohner eines riesigen, menschenleeren Kontinents.

    Von den Höhlen hat man freie Sicht über die kahle Ebene und den halb verlandeten See, bis zum nächsten Gebirgszug, auf dem noch Schneefelder zwischen den Bäumen schimmern.

    "Es gab Grasland, so weit das Auge reichte und man konnte von hier oben sehen, wenn Büffel da waren und vielleicht auch Mammuts und Mastodons oder Kamele und Pferde, sodass man die Jäger hinausschicken konnte."

    Paisley Five Mile Point heißt der Flecken im dünn besiedelten Bergland des Staates Oregon. Dennis Jenkins ist hier quasi zuhause. Der Archäologe ist an der Universität von Eugene angestellt, mehrere Hundert Kilometer westlich, aber er kommt immer wieder her. Die Höhlen in den Basaltfelsen, die Menschen der Steinzeit als Unterschlupf und Jagd-Quartier dienten, lassen ihn nicht los:

    "Was wir vor uns sehen, war einst eine weite Ebene. Die Schatten in der Ferne zeigen, wo der Fluss Wasser hereinbrachte, an dem breiten Einschnitt da hinten mündete er in den See. Und hier drüben sehen Sie, wie sich die Farbe des Gestrüpps verändert? Da verlief einmal das Seeufer."

    Der Standort bot frisches Wasser und in der feuchten Uferzone des Sees eine Fülle von Nutzpflanzen. Trotzdem scheint es, als hätten sich die Steinzeit-Leute nie lange hier aufgehalten, denn Doktor Jenkins hat keine Spur ihrer Lager gefunden. Vergeblich hat er nach den Feuerstein-Bruchstücken gesucht, die anzeigen, wo Menschen der Urzeit gelagert und ihre Waffen und Werkzeuge geschärft haben. Dennoch zählen die Höhlen von Paisley zu den bedeutendsten archäologischen Fundstätten Amerikas. Jenkins und seine Mitarbeiter haben hier menschliche Überreste entdeckt, die auf dem Kontinent einzigartig sind: Fäkalien der Steinzeit-Leute, über 100 Klumpen Kot, eingetrocknet seit 14 Jahrtausenden.

    "Ja, in der westlichen Hemisphäre sind diese Fäkalien mit menschlichem Erbgut darin die ältesten menschlichen Überreste."

    Dennis Jenkins ist ein vorsichtiger Mann. Die Erbgut-Spuren in den Kot-Klumpen hat er von Eske Willerslev untersuchen lassen, Professor an der Universität Kopenhagen und renommierter Spezialist für alte DNA. Und das Alter des Sensationsfundes hat er mehrfach überprüft: Zuerst wurden die umgebenden Erdschichten datiert, dann der Kohlenstoff in den Fäkalien selbst. Dennis Jenkins erklärt:

    "Wir haben sie mit der C-14-Methode ebenfalls datiert und ermittelt, dass sie 14.000 Jahre alt sind. Und dann haben wir sie noch einmal in Oxford datieren lassen und praktisch das identische Alter bekommen."

    Und nun steht die wissenschaftliche Gemeinschaft vor einem Rätsel:
    Ältere menschliche Überreste gibt es auf dem gesamten Kontinent nicht. Man muss die Menschen, die in den Höhlen von Paisley ihre Fäkalien hinterließen, als die ersten Amerikaner bezeichnen. Aber wer waren diese Leute? Woher kamen sie?

    Bisher glaubte man, die Ersten seien die Jäger und Sammler der Clovis-Kultur gewesen. Aber "Clovis", benannt nach einem Fundort in New Mexico, ist rund 1000 Jahre jünger. Diese Kultur hat sich im Zeitraum von 13.100 bis 12.800 Jahren vor heute durch Nord- und Süd-Amerika verbreitet. Sie wurde kürzlich neu datiert und wird seit Langem erforscht. In Gault zum Beispiel, einem Kaff im Herzen von Texas.

    "Gault ist etwas Besonderes, seit mindestens 13.000 oder 14.000 Jahren. Hier treffen zwei sehr unterschiedliche Landschaften aufeinander: die trockene Ebene von Zentral-Texas und die feuchten, kleinen Täler, die sie durchschneiden, mit fruchtbaren Böden und einer eigenen Tier- und Pflanzen-Welt. Wer hier lebte, fand in unmittelbarer Nähe eine Vielfalt von Ressourcen."

    Michael Collins steht neben einem großen weißen Zeltdach, das seine Ausgrabung schützt, auf einer saftig grünen Wiese. Hinter ihm strömt der "Buttermilk Creek" vorbei, im Schatten der Bäume dösen Mona und Snowflake, zwei schwarz-weiße Kühe.

    Die Clovis-Leute, erklärt Collins, konnten in diesem fruchtbaren Tal Kleinwild jagen, Opossums oder Waschbären zum Beispiel, in den Gewässern Fische und Schildkröten fangen oder die zahllosen Beeren und Nüsse sammeln. An den Felswänden, wo das Tal zur Hochebene ansteigt, fanden sie reiche Feuerstein-Vorkommen, exzellentes Rohmaterial für ihre Waffen und Werkzeuge. Und oben, auf dem kahlen Plateau, grasten Mammuts, Bisons und Kamele: Großwild, das überlebenswichtige Fleischvorräte lieferte.

    Die Lebensweise der "Clovis"-Leute wird am besten verständlich, wenn man sich ihre vielfältigen Werkzeuge ansieht. Professor Collins hat in seinem Magazin an der Universität in Austin eine reiche Sammlung von Feuerstein-Geräten. Alle vor etwa 13.000 Jahren in Gault hergestellt:

    "Die meisten Fachleute meinen, Speerspitzen seien typisch für Clovis."

    Die schlanken Feuersteinspitzen haben am hinteren Ende eine charakteristische Kehlung, damit man den Schaft des Speers besser befestigen konnte. Vermutlich eine eigene Erfindung der Clovis-Kultur.

    "In dieser Schublade liegen Artefakte, die wir unter dem Mikroskop analysiert haben."

    In der Vergrößerung wurden feinste Abnutzungsspuren sichtbar, die verraten, welches Material mit einer Feuersteinklinge geschnitten wurde.

    "Wir wissen aus Experimenten, dass jedes Material, dass man schneidet, am Rand der Klinge eigene Abnutzungsspuren hinterlässt. Was man auf diesem Stück sieht, kann man nur beim Schneiden von Fleisch erzeugen.

    Sehr verbreitet in der Clovis-Kultur sind auch diese langen dünnen Feuerstein-Klingen. Bei einigen konnten wir etwas Bemerkenswertes feststellen: Sie wurden benutzt, um Gras zu schneiden. Und wir wissen eindeutig, dass trockenes Gras ein anderes Muster auf der Klinge hinterlässt als grünes Gras!

    Berühmt wurde Gault für Steine aus der Clovis-Epoche mit kunstvollen Ritz-Mustern. Ich habe hier einen kleinen, glatten Stein, der genau in meine Hand passt. Ein Muster ist in beide Seiten eingeritzt. Es sieht aus wie ein Stamm und ein Blatt. Oder ist es ein Pfeil mit einer Fiederung am Ende? Dann könnte dies das Hinterbein eines Tiers sein, in dem Pfeile stecken. Wir wissen es nicht, jeder hat seine eigene Deutung."

    Die Werkzeuge der verschiedenen Steinzeit-Kulturen sehen sich sehr ähnlich. Man braucht ein geschultes Auge, um sie auseinanderzuhalten. Typisch für die Clovis-Leute, erläutert Collins, ist die Art, wie sie ihre dünnen, zweischneidigen Klingen herstellten: Wenn sie eine Feuersteinknolle zu einer Klinge herunterarbeiteten, schlugen sie die Steinstücke so geschickt vom Rohmaterial ab, dass die Klinge auf beide Seiten gleichzeitig dünner und damit schärfer wurde. Eine sehr ökonomische Technik, die viel Erfahrung verlangte.

    Bemerkenswert ist, dass dieselbe Technik in ganz Nordamerika und Zentralamerika angewendet wurde, bis hinunter nach Venezuela. Urgeschichtsforscher glaubten daher lange, ein einziges Volk habe die Clovis-Epoche geprägt. Aber diese Kultur existierte nur etwa 300 Jahre lang. Kaum vorstellbar, dass sich ein Volk so schnell so weit ausgebreitet hat, über einen riesigen Kontinent hinweg. Viele Wissenschaftler meinen jetzt, dass es kein einheitliches Clovis-Volk gab, sondern eine spezielle, weitverbreitete "Clovis"-Technologie.

    "Ich habe vorgeschlagen, 'Clovis' als ein Konzept anzusehen, das sich durch unterschiedliche Völker verbreitete, die schon vorher an geeigneten Stellen dieser riesigen Fläche lebten. Und jede Gruppe lernte die Idee der 'Clovis'-Technologie durch ihre Nachbarn kennen."

    Das würde bedeuten: Clovis war nicht die erste Kultur in Amerika. Dass davor schon Menschen auf dem Kontinent gelebt haben könnten, war für amerikanische Urgeschichtsforscher lange unvorstellbar. Aber nun sprechen auch neue archäologische Funde dafür, dass der Kontinent früher besiedelt wurde als lange gedacht.

    Ältere Spuren kamen nicht nur in Oregon, in den Höhlen von Paisley, ans Licht. Michael Waters, Professor für Archäologie an der Texas-A&M- University, hat in Zentral-Texas Waffen und Werkzeuge aus einer Epoche vor Clovis entdeckt. Weniger als einen Kilometer von der Ausgrabung in Gault entfernt, am selben Flüsschen mit dem schönen Namen "Buttermilk Creek".

    "Eine Schicht mit Clovis-Material und darunter, zu unserer Überraschung, weitere Artefakte: zweischneidige Geräte and Klingen, Bröckchen gemahlener Ocker und weitere kleine Steinwerkzeuge. Die Schicht reichte 20 Zentimeter tiefer als die Clovis-Schicht. Darunter kamen keine Artefakte mehr. Wir haben offenbar die erste Besiedlung des Ortes gefunden."

    Die Datierung erwies sich als schwierig. Da sie in der untersten, ältesten Schicht der Ausgrabung keine kohlenstoffhaltigen Objekte lagen, konnten die Forscher ihre Funde nicht mit der bewährten C-14-Methode datieren, sondern mussten auf eine andere Technik zurückgreifen. Mit dem OSL-Verfahren, der optisch stimulierten Lumineszenz, misst man, wann Mineralien das letzte Mal dem Sonnenlicht ausgesetzt waren. Die Daten sind längst nicht so genau wie die hoch entwickelte C-14-Methode: Abweichungen von 500 Jahren sind nicht auszuschließen. Dennoch ist Waters sicher: Er kann die bisher ältesten, eindeutigen Spuren von Menschen auf dem Kontinent vorweisen.

    "An den Sedimenten unter dem Clovis-Horizont haben wir eins Altersspanne zwischen 14- und 16.000 Jahren vor heute gemessen."

    Die Werkzeuge aus Buttermilk Creek sind demnach rund 2000 Jahre älter als die Funde aus Paisley. Also muss der amerikanische Kontinent rund 3000 Jahre eher besiedelt worden sein, als man glaubte – ja, vermutlich noch früher: Darauf deuten erste, unbestätigte Ergebnisse von weiteren Fundorten hin. Außerdem mussten die frühen Bewohner erst einmal nach Texas wandern, ins Zentrum Nordamerikas. Sie müssen von der Küste gekommen sein – aber von welcher? Das ist die Kernfrage in einem großen wissenschaftlichen Streit: nicht nur wann, sondern vor allem woher die "ersten Amerikaner" kamen!
    "Wir haben sehr starke technologische Ähnlichkeiten bei einigen der frühesten Menschen in der Neuen Welt und einigen Eiszeitmenschen in Südwesteuropa gefunden."

    Die ersten Menschen, die amerikanischen Boden betraten, könnten daher aus Europa gekommen sein! Bruce Bradley, Professor an der Universität Exeter in Großbritannien, hat sich mit dieser These wenig Freunde gemacht. Sie klingt nach europäischem Neo-Kolonialismus. Und sie widerspricht fundamental der etablierten Lehrmeinung, dass Amerika von Nordost-Asien aus besiedelt wurde.

    Aber Bradley und andere Forscher haben eine verblüffende Übereinstimmung entdeckt: Die Menschen der europäischen "Solutréen"-Kultur stellten ihre zweischneidige Feuersteinklingen mit einer ungewöhnlichen Technik her. Sie schlugen solche Stücke vom Rohmaterial ab, dass der Stein an beiden Rändern zugleich dünner wurde. Das ist die typische Technik der Clovis-Leute!

    "Wieso sollte das Zufall sein? Das gab es nirgendwo sonst in der Welt zu dieser Zeit!"

    Dass zwischen den Wohnstätten der Solutréen-Leute in Südwesteuropa und der amerikanischen Ostküste ein Ozean liegt, lässt Bradley nicht gelten. Er erinnert daran, dass Amerika der letzte Kontinent war, der besiedelt wurde. Die Seefahrt war zu dieser Zeit längst nichts Unbekanntes mehr. Schon vor rund 50.000 Jahren waren Menschen nach Australien gesegelt, hatten danach viele Inseln im Pazifik bevölkert.

    Die Steinzeitleute mussten auch nicht den offenen Atlantik überqueren, meint Bradley. Zur Zeit der "Solutréen-Kultur" lag auf der Hälfte des Ozeans noch ein mächtiger Eisschild. Die Gletscher reichten etwa auf der Höhe von London bis nach Neufundland hinüber. Und auf dem "Strand" davor, dem Streifen zwischen dem festen Eis und dem offenen Meer, lebte eine Menge jagdbarer Tiere. Manche legten erstaunliche Strecken zurück – der Riesenalk etwa, ein großer, flugunfähiger Seevogel. Sind die Menschen mit ihrer Beute mitgezogen?

    "Der Riesenalk wanderte zumindest in frühgeschichtlicher Zeit jedes Jahr von Europa nach North Carolina in Amerika und zurück. Sie brauchten ihm nur zu folgen!"

    Das Szenario wirft jedoch eine Frage auf: Es kann sich nur in der Eiszeit abgespielt haben, vor etwa 20.000 Jahren. Und bisher konnten keine archäologischen Funde aus Amerika zuverlässig auf dieses hohe Alter datiert werden. Die Verfechter der Europa-Hypothese stützen sich bisher nur auf die frappierende Ähnlichkeit der Feuerstein-Bearbeitung.

    Die meisten Forscher glauben nach wie vor, dass die ersten Amerikaner aus Nordost-Asien eingewandert wären. Aber auch ihnen fehlen archäologische Belege. Man müsste dann ja in Sibirien und Alaska die ältesten Spuren finden, bestätigt Michael Waters:

    "Die Frage ist dann: Wo ist das 16.000 oder 17.000 oder 18.000 Jahre alte Material in Alaska? Vielleicht ist es einfach noch nicht entdeckt worden. Oder die Leute sind an der Küste entlang gezogen und man kann keine Spuren von ihnen finden, weil alle Überreste heute unter Wasser liegen, im Ozean. "

    Der Grund: Am Ende der Eiszeit ragte das Land weiter ins Meer hinein als heute. Danach ist der Wasserspiegel gestiegen und hat große Bereiche der ehemaligen Küstenregion überschwemmt. Einzelne Archäologen durchforschen jetzt die flachen Küstengewässer, andere durchkämmen die schneebedeckten Weiten Alaskas, doch sie suchen praktisch die Nadel im Heuhaufen.

    Obwohl archäologische Beweise fehlen, ist Waters überzeugt, dass Amerika von Nordost-Asien aus besiedelt wurde. Er beruft sich auf Erkenntnisse der Genetik. Genforscher sind seit Jahren dabei, die Ausbreitung der Menschen über die Erde zu rekonstruieren. Anhand wiederkehrender Merkmale im Erbgut haben sie Verwandtschafts-Gruppen bestimmt, die "Haplo-Gruppen", die auf den Kontinenten unterschiedlich verteilt sind. Waters sagt:

    "Seit Jahren werden in ganz Amerika Blut- und Speichelproben von Ureinwohnern gesammelt. Dabei kann man in der mitochondrialen DNA bestimmte Haplogruppen nachweisen, die auch anderswo auf der Welt auftreten. Und die Haplogruppen A, B, C, D und X, die in Amerika vorkommen, kann man alle nach Nordost-Asien zurückverfolgen."

    In Europa dagegen fehlen diese Gruppen.

    Auch Dennis Jenkins, der Ausgräber von Paisley, bestätigt die alte Hypothese. Genforscher konnten in den Fäkalien der Steinzeitleute DNA isolieren und haben sie mit dem Erbgut moderner Menschen verglichen. Ergebnis:

    "Wir haben Belege dafür gefunden, dass diese Menschen am engsten mit Leuten aus Sibirien oder Asien verwandt sind. Wir haben die Haplogruppen A und B gefunden, die dort verbreitet sind."

    Die genetischen Ergebnisse liefern aber keinen Beweis. Denn bisher hat man nur Erbgut aus Mitochondrien untersucht, dem Teil der Zelle, der für den Energiestoffwechsel verantwortlich ist. Eine Analyse des gesamten Genoms, aus dem Zell-Kern, kann durchaus noch weitere amerikanische Vorfahren ans Licht bringen. Das hat die Untersuchung des Neandertalers gerade spektakulär bewiesen: Erst als die komplette DNA aus dem Zellkern analysiert war, kam heraus, was niemand erwartet hatte: dass der moderne Mensch doch mit dem Neandertaler verwandt ist.

    Vorerst drängt sich eine andere Frage auf: Wenn die ersten Siedler aus Asien kamen, wie konnten sie dann ins Herz des nordamerikanischen Kontinents, ja in kurzer Zeit sogar nach Südamerika vorstoßen? Sie müssen mindestens vor 17.000 Jahren die Beringstraße überquert haben – und standen dann in Alaska vor einer lebensfeindlichen Gletscherwüste. Das Eis auf dem Festland war zu dieser Zeit noch nicht zurückgegangen. Der Norden des Kontinents lag unter gewaltigen Gletschern, die niemand durchqueren konnte.

    Viele Wissenschaftler meinen daher: Die ersten Amerikaner ließen den Eisschild buchstäblich "links liegen" und fuhren in Booten an der Küste entlang nach Süden. Eine Rekonstruktion der urgeschichtlichen Fauna zeigt, dass sie am Rand des Eises eine reiche Tierwelt vorfanden, die ihnen Nahrung bot.

    Wasserfahrzeuge aus der Eiszeit hat man bisher zwar nicht gefunden, aber an der Küste Kaliforniens kam tatsächlich ein anderer Beleg dafür zutage, dass sich die frühen Menschen sehr wohl über Wasser fortzubewegen verstanden. Das Beweisstück wird, wohl verpackt, im Museum für Naturgeschichte des Küstenstädtchens Santa Barbara aufbewahrt.

    "Hier haben wir menschliche Knochen, die 1960 auf der Insel Santa Rosa ausgegraben wurden, vor der kalifornischen Küste. Und wir haben Protein aus diesem Knochen mit der C-14-Methode auf 13.000 Jahre vor heute datiert."

    John Johnson wickelt im Magazin des Museums einen Oberschenkelknochen aus. Bis zur Hälfte steckt das kostbare Stück noch in einem braunen Erdklumpen, dem originalen Boden vom Fundort. Seit in ganz Amerika über die erste Besiedlung des Kontinents debattiert wird, hat dieser Knochen neue Brisanz bekommen.

    "Der Fund bestätigt die These, dass die Menschen an der Küste entlang gewandert sind, von der Landbrücke über die Beringstraße nach Süden. Und sie hatten Boote, das beweist dieser Fund, denn die Insel bestand schon vor 13.000 Jahren und Menschen können nur mit Booten dorthin gekommen sein."

    Dr. Johnson, Archäologe in der angesehenen Forschungsabteilung des Museums, hat den Ort noch einmal gründlich untersucht, an dem der Knochen vor Jahren ausgegraben wurde. Er konnte die Datierung bestätigen, hat aber keine Artefakte aus der Steinzeit mehr entdeckt. Die Insel diente den frühen Menschen wohl nicht als dauerhafter Lagerplatz. Sie kamen nur vom Festland herüber, um zu jagen und Nutzpflanzen zu ernten.

    Im Museum zeigt der Wissenschaftler eine lebensgroße Rekonstruktion hinter Glas: Möwen, Mäuse und Schilf, die ehemalige Fauna und Flora der Inseln vor der kalifornischen Küste.
    "Dieses Diorama zeigt ein Marschland, wie es vermutlich auch auf Santa Rosa vor 13.000 Jahren bestand. Sie sehen verschiedene Vögel, die Rohrkolben hier dienten als Vogelfutter und wurden von den Indianern als Baumaterial genutzt. In der Marsch wuchsen viele essbare Pflanzen und aus der Untersuchung alter Pollen wissen wir, dass Pinien- und Zypressen-Wälder die Insel bedeckten."

    Der letzte, klare Beweis fehlt auch in diesem Fall noch, denn die Leute, die auf Santa Rosa jagten, gehörten nicht zu den ersten Siedlern. Sie waren ihre Nachfolger, Zeitgenossen der Clovis-Kultur vor rund 13.000 Jahren. Aber es scheint plausibel, dass auch die ersten Amerikaner in Booten an der Küste entlang fuhren.

    Die meisten Argumente sprechen derzeit dafür, dass sie über die Beringstraße aus Sibirien herüber kamen, vielleicht in mehreren Wellen, auf der Fährte der Jagdtiere. Feststeht: Der Kontinent wurde einige Jahrtausende früher besiedelt als bisher gedacht. Zumindest vor 17.000 Jahren, womöglich schon eher.

    Das Bild der Ansiedler selbst wirkt noch schattenhaft. Forscher haben zwar ihre Werkzeuge und Lagerstätten gefunden, sie kennen Knochen ihrer Nachfahren, doch sie haben bisher keine Überreste der Menschen entdeckt, außer ihren Fäkalien. Genetiker hoffen, daraus eines Tages das komplette Erbgut zu isolieren, Archäologen suchen weiter. Doch das Gesicht des ersten Amerikaners bleibt vorerst im Dunkeln.
    Der ägyptische Archäologe Zahi Hawass entnimmt mit seinen Mitarbeitern Erbgutproben aus der 3300 Jahre alten Mumie des Pharaos Tutanchamun.
    DNA-Untersuchungen helfen den Archäologen - wie hier bei der Untersuchung der 3300 Jahre alten Mumie des Pharaos Tutanchamun. (AP)