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Die Essenz des Erfinders

Mit dem Buch "Blitze" schließt der französische Autor Jean Echenoz seine Roman-Trilogie "Drei Leben" ab. Nachdem er die Biografien des Komponisten Maurice Ravel und des Sportlers Emil Zatopek nacherzählt hat, gründet sein neuer Roman auf dem Leben des genialen Physikers Nikola Tesla.

Von Dina Netz | 29.04.2013
    109 Seiten hat Jean Echenoz gebraucht, um die letzten zehn Jahre des Komponisten Maurice Ravel zu erzählen. Auf 126 Seiten passte die gesamte Biografie des Langstreckenläufers Emil Zátopek. Und für das Leben des Erfinders Nikola Tesla haben ihm nun 143 Seiten gereicht.
    Was interessiert Jean Echenoz daran, die Geschichte berühmter Personen als Roman zu erzählen und auf schmale Bändchen zu verknappen? Es geht ihm, so scheint es, um die Essenz, um das, was ihr Leben in ihrer Zeit ausgemacht hat. Alles andere fällt weg.

    Echenoz hat für die nun vollständig vorliegende Roman-Trilogie "Drei Leben" ausführlich recherchiert, sich geradezu eingegraben ins Material zu seinen drei Protagonisten. Und am Schluss hat er alle verfügbaren Informationen durch den Filter der Bedeutung gepresst. Im Fall von "Blitze" ist so die beeindruckende, komische und tragische Geschichte eines Mannes herausgekommen, der ein genialer Erfinder war, aber leider seiner Zeit um Jahrzehnte voraus: Nikola Tesla, Serbe, 1856 geboren, 1943 in New York gestorben. Bei Jean Echenoz heißt er Gregor. Und die titelgebenden "Blitze" sind in der Tat ein wichtiges Element in Gregors Leben: Er kommt in einer Gewitternacht zur Welt, mitten in großem Chaos, sodass niemand seine genaue Geburtszeit kennt:

    Eine derartige Ankunft auf der Welt kann einen schon etwas nervös machen, und sein Charakter zeichnet sich rasch ab: leicht gekränkt, misstrauisch, nachtragend, schroff – kurz, Gregor ist frühreif unsympathisch. Bald fällt er durch Launen, Wutanfälle, Verstummen, Fluchten auf und durch stürmisches Verhalten, Zerstörungen, Sachbeschädigung, Sabotage und anderes Unheil. Wahrscheinlich um diese Frage der Zeit zu erkunden, die ihm offenbar am Herzen liegt, zerlegt er, sobald er kann, sämtliche Standuhren, Wanduhren und Armbanduhren des Hauses – freilich versucht er, sie hernach wieder zusammenzubauen, muss aber nicht ohne Wut feststellen, dass der erste Teil seiner Operationen zwar zuverlässig funktioniert, dem zweiten jedoch sehr viel seltener Erfolg beschieden ist.

    Gregors Charakter wird nicht angenehmer im Laufe seines Lebens, aber mit den Uhren macht er Fortschritte, und nicht nur mit denen: Seine Intelligenz ist so überdurchschnittlich wie seine Körpergröße, die bald an die zwei Meter heranreicht. Bald fängt er an, technische Erfindungen zu entwickeln, und zwar von Anfang an keine praktischen Helferlein für den Haushalt, sondern:

    Wenn ihm eine Idee kommt, gilt sie gleich dem Großen, dem ganz Großen, hat kosmische Ausmaße und verfolgt universelle Zwecke.

    Echenoz überspringt die ersten Schritte, die der historische Nikola Tesla in Europa machte – Studium, Glücksspiel, erste Jobs. Der Autor schickt seinen Gregor gleich nach New York und dort ohne Umschweife zu Thomas Edison, Erfinder und vor allem Eigentümer von General Electric. Gregor wird dort Assistent – was in diesem Fall eher eine Art Sklave ist. General Electric arbeitet mit Gleichstrom, der nicht weiter als drei Kilometer transportiert werden kann und bei dem es immer wieder zu Kabelbränden kommt. Gregor entwickelt den Wechselstrom – wofür er nicht die von Edison zugesagte Prämie erhält und erbost seinen Hut nimmt. Ein erster Tiefschlag, dem viele weitere folgen werden. Er verdient sich sein Geld auf dem Bau, als er seine nächste Chance bekommt: Sein Chef kennt einen, der einen kennt bei der Western Union Telegraph Company, einer Konkurrenz von Edisons Firma. Obwohl Edison, um auf die Gefahren des Wechselstroms hinzuweisen, en passant den elektrischen Stuhl erfindet, ist der Erfolg von Gregors Erfindung nicht mehr aufzuhalten. Überhaupt, seine folgenden Projekte, Bogenlampen, Motoren, Generatoren, sind brillant, er ist zeitweise der berühmteste Wissenschaftler der Welt:

    Dass alles, was er erdenkt, dann auch tatsächlich nach Plan abläuft – die Experimente ergeben stets genau das, was er vorausgesehen hat -, liegt an seiner einzigartigen Fähigkeit, vor der Konstruktion einer Maschine diese sehr genau vorm inneren Auge zu sehen, dreidimensional und in all ihren Details. Extrem schnell erscheinen ihm die Einzelteile dieser Apparate ganz und gar real und konkret fassbar in all ihren Eigenschaften, bis hin zu der Art und Weise, in der ihr Verschleiß sich bemerkbar machen wird.

    Die erfinderische Genialität hat eine asoziale Kehrseite: Zusammenarbeit mit Kollegen ist Gregors Sache nicht. In den New Yorker Salons brilliert er, ganz eitler Pfau, mit seiner Eloquenz und seinen Darbietungen, zum Beispiel mit Lichterscheinungen in seinen Haaren; Familie hat er aber nicht, Freunde so gut wie keine. Nur für die Gattin seines einzigen Freundes hegt er eine heimliche Neigung, wie Echenoz mit spitzer Ironie schreibt. Statt mit Menschen umgibt Gregor sich aus unerfindlichen Gründen lieber mit Tauben, die am einsamen Ende seines Lebens seine einzigen Gefährtinnen sind.

    Gregor ist nämlich ein genialer Elektroingenieur, aber ein miserabler Geschäftsmann: Er patentiert seine Erfindungen nur halbherzig, sodass andere ihn kopieren und an seiner Stelle die Gewinne einheimsen. Er verhandelt außerdem schlecht und lebt verschwenderisch.
    Echenoz’ Gregor ist ein gründlicher Unsympath, mit dem man doch auch Mitleid hat am Schluss, weil so viele sich auf seine Kosten bereichert haben. Raketen, Neonröhren, Telegrafie – alles Erfindungen, die auf Nikola Tesla zurückgehen, dessen Namen heute aber wohl die wenigsten kennen. Weil er seine Patente nicht richtig anmeldete, aber auch, weil die Zeit noch nicht reif war und niemand die Tragweite seiner Erfindungen erkannte.

    Echenoz setzt ihm mit seiner schlanken, eleganten Gregor-Biografie ein würdiges Denkmal. Hinrich Schmidt-Henkel hat den Roman mit der einem so filigranen Kunstwerk angemessenen Präzision übersetzt. Nur ein noch sorgfältigeres Lektorat würde man sich wünschen – hier und da fehlen schlicht Buchstaben.

    Wie auch in den Vorgänger-Romanen verzichtet Echenoz auf Psychologisierungen, amüsiert sich nur ab und zu augenzwinkernd über Gregors Marotten. Aber er rückt seiner Figur nie auf die Pelle, diskreditiert den schrulligen Gregor nicht, sondern beobachtet ihn wie durch ein Fernglas, beschreibt vor allem das Setting, in dem er sich bewegt. "Blitze" ist das Kondensat der Biografie eines genialen Erfinders am Übergang zum 20. Jahrhundert in Amerika: dicht, präzise und amüsant.

    Jean Echenoz: Blitze.
    Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel
    Berlin Verlag, 144 Seiten, 17,99 Euro