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"Die EU könnte hier wesentlich mehr machen"

Nach dem Flüchtlingsdrama vor der libyschen Küste hat der SPD-Europapolitiker Wolfgang Kreissl-Dörfler die Innenminister der Europäischen Union zu einer neuen Migrationspolitik aufgerufen. Es müsse endlich Regelungen geben, die legale Wege der Einwanderung nach Europa eröffneten. Anstatt einen neuen "Eisernen Vorhang" im Mittelmeer zu errichten, müssten zudem die Ursachen für die Flucht abgestellt werden, so Kreissl-Dörfler.

Wolfgang Kreissl-Dörfler im Gespräch mit Christian Schütte | 01.04.2009
    "Der Schlepper nahm mich an Bord seines Fischerbootes und wir brachen auf in Richtung Kanarische Inseln. Dann fielen die beiden Motoren aus. Zehn Tage trieben wir auf dem Meer. Unser Proviant war alle und es gab Krankheiten. Einige von uns starben. Wir warfen die Leichen einfach ins Meer. Ich musste meinen eigenen toten Bruder ins Meer werfen."

    Christian Schütte: Ein 30-jähriger Mann aus dem Senegal berichtet über seine Erfahrungen als Bootsflüchtling - eine Geschichte von vielen, die ähnlich, oft genug auch tödlich verlaufen. Zehntausende Afrikaner versuchen in jedem Jahr mit maroden Booten und klapprigen Kähnen nach Europa zu gelangen. Etliche ertrinken dabei. Allein bei dem Flüchtlingsdrama in der Nacht zum Dienstagsind mehrere Hundert umgekommen. Mindestens drei Boote sollen gekentert sein - eines der bisher schlimmsten Unglücke dieser Art im Mittelmeer. Was sagt das aus über die Flüchtlingspolitik der EU? Am Telefon begrüße ich den EU-Politiker Wolfgang Kreissl-Dörfler, SPD und Mitglied im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des Europaparlaments. Wir erreichen ihn auf dem Weg nach Brüssel. Guten Morgen, Herr Kreissl-Dörfler.

    Wolfgang Kreissl-Dörfler: Guten Morgen, Herr Schütte.

    Schütte: Wenn hunderte Menschen nach Europa wollen und bei der Überfahrt sterben, wer trägt dafür die Verantwortung?

    Schütte: Die Verantwortungen sind auf mehrere Schultern zu verteilen: A) auf die Herkunftsländer, weil dort eine Politik gemacht wird, die die Menschen in die Flucht treibt, das sind marode Regierungen, korrupt bis zum geht nicht mehr, dann die Schlepperbanden, die die Leute auf seeuntaugliche Schiffe verladen, überladen, sie wissen genau, dass die Schiffe absaufen werden. In Libyen zahlen die Leute ja bis zu 1000 Euro pro Überfahrt. Das andere ist natürlich auch, dass wir endlich eine europäische Einwanderungspolitik benötigen, die auch den Menschen legale Wege eröffnet, um nach Europa zu kommen. Aber jetzt haben wir noch erschwerend diese Weltwirtschaftskrise, wo unverantwortliche Banker denen das letzte auch noch wegnehmen.

    Schütte: Bleiben wir einmal bei der EU. Wer genau trägt da Verantwortung? Ist es das Parlament, sind es die Mitgliedsstaaten, sind es die Innenminister der jeweiligen Länder, die die Grenzpolitik beschließen?

    Kreissl-Dörfler: Es sind die Mitgliedsstaaten und damit auch die Innenminister der 27 Mitgliedsstaaten. Sie konnten sich bisher nicht auf eine einheitliche Migrations- und Einwanderungspolitik einigen. Es gibt Vorschläge der Kommission in diese Richtung, die Arbeitsmärkte zu öffnen, mit Kontingentzahlen zu arbeiten, aber die Innenminister sperren sich nach wie vor. Sie sind sich sofort einig, wenn es darum geht, illegale Migration zu bekämpfen, aber für legale Wege haben sie noch nichts gefunden.

    Schütte: Das klingt so, als wollten Sie sagen, Bundesinnenminister Schäuble würde eine Mitschuld tragen an dem, was dort passiert ist.

    Kreissl-Dörfler: Ich würde keinen Innenminister ausnehmen. Wenn ich mir die italienische Politik natürlich anschaue, dann toppt die noch alles, was überhaupt im Moment an Negativschlagzeilen zu produzieren ist. Aber auch der Bundesinnenminister Schäuble müsste hier wesentlich mehr Druck machen, um seinem christlichen-demokratischen Anspruch gerecht zu werden.

    Schütte: Nun sagt Bundesinnenminister Schäuble, das Bild von dieser unchristlichen Festung Europa, das immer wieder gebracht wird, sei ein böswilliges Zerrbild. Schließlich nehme die EU insgesamt Flüchtlinge bereitwilliger auf als viele andere Staaten.

    Kreissl-Dörfler: Das stimmt sicherlich, nur die EU könnte hier wesentlich mehr machen. Wir müssen auch Länder wie Italien, Malta, Griechenland, Spanien unterstützen, wenn die Menschen anlanden. Das ist nicht nur ein Problem dieser Staaten, das ist ein Problem der gesamten Europäischen Union. Wir vergessen ja auch immer noch die Zuwanderer oder auch Wirtschaftsflüchtlinge, ganz gleich wie man sie bezeichnen will, die aus dem Osten des Kontinents kommen.

    Schütte: Bleiben wir aber zunächst noch einmal bei der Grenzsicherung im Mittelmeer. Kann man es der EU tatsächlich verübeln, dass die Grenzen abgeriegelt werden und dass dort Schiffe patrouillieren?

    Kreissl-Dörfler: Die Frage ist ja, was mache ich mit den Menschen, die ich aufgreife. Ich bin der Meinung, die müsste man dann nach Europa verbringen, also in die Europäische Union, um sie dort menschenwürdig auch zu behandeln. Wenn ich sie an einen Haken nehme und dann einfach nach Libyen zurückschleppe, dann weiß ich, weil ich Lager besucht habe, da sitzen die zwei bis drei Jahre und kein Mensch weiß, was mit diesen weiter geschieht. Aber man sollte auch nicht glauben, dass man einen neuen "eisernen Vorhang " im Mittelmeer installieren könnte. Das ist absurd und man wird die Flüchtlingsproblematik so überhaupt nicht lösen, vielleicht nur als Tropfen auf den heißen Stein etwas einschränken.

    Schütte: Ich will jetzt nicht zynisch klingen, aber das klingt so, als wollten Sie eine Einladung aussprechen und bewirken, dass dann noch mehr Menschen nach Europa wollen. Die können wir doch nicht alle aufnehmen, oder?

    Kreissl-Dörfler: Nein, das auf gar keinen Fall, sondern es sind die Fluchtursachen abzustellen. Die Europäische Union muss eine andere Fischereipolitik machen. Das ist 20 Jahre lang, 30 Jahre lang nicht geschehen. Man muss die Regierungen dort vor Ort auch unter Druck setzen - von der Europäischen Union her und mit den anderen zusammen, dass eine vernünftige Regierungspolitik in den afrikanischen Staaten betrieben wird. Und natürlich müssen wir die gesamtwirtschaftliche Situation jetzt auch noch einbeziehen, weil die Migranten, die bereits hier sind und legal auch arbeiten, viele verlieren ihre Jobs, viele können kein Geld mehr nach Hause zurück überweisen. Das gleiche Problem haben wir in Zentralamerika, wir haben es in Asien, wir haben es jetzt natürlich auch verstärkt in Afrika. Wir können nicht alle Menschen aufnehmen, gar keine Frage, aber wir sind Teil auch dieses Problems und sind damit auch Teil der Lösung.

    Schütte: Jetzt haben Sie gewissermaßen über das große Ganze geredet, aber gibt es auch einen konkreten Hebel, an dem die EU ansetzen könnte, um die Flüchtlingspolitik zu verbessern?

    Kreissl-Dörfler: Die Europäische Union kann natürlich daran ansetzen, dass sie endlich sagt, wir erlauben zirkuläre Migration, wir erlauben, dass die Menschen auf die Arbeitsmärkte kommen, dass sie dann auch legal hier sind, wir können die Menschen, die hier illegal sind, auch legalisieren, wie in Spanien zum Teil gemacht wird, in Frankreich sind 800.000 bis eine Million Menschen illegal im Land, was zusätzlich den Druck erhöht, und natürlich werden wir auch insgesamt an Kontingentzahlen heran müssen, welche Länder denn auch wie viele aufnehmen müssen. Wir haben das damals mit den Boat People aus Vietnam in Deutschland ja auch vorexerziert. Aber das alles geht nicht von heute auf morgen, vor allen Dingen die Bekämpfung der Fluchtursachen. Nichtsdestotrotz jetzt den Kopf in den Sand zu stecken und zu glauben, mit Patrouillen zusammen wie Libyen, wie Italien das vor hat, wäre das Problem gelöst, das ist es auf gar keinen Fall.

    Schütte: Wenn wir schon in die Zukunft blicken, Herr Kreissl-Dörfler: Die EU-Kommission sagt, dass wegen der weltweiten Wirtschaftskrise noch mehr Menschen sich von Afrika nach Europa aufmachen werden und sich auf die gefährliche Reise begeben. Was kommt da auf uns zu?

    Kreissl-Dörfler: Ich will jetzt nicht diese Zahlen von Millionen von Menschen an die Wand malen wollen, wie es manche unverantwortlicherweise machen, denn das Hauptflüchtlingsdrama spielt sich ja zum Beispiel für uns in Afrika selbst ab. Das Problem ist, dass ganze Familien-Clans zusammenlegen, um die besten Ausgebildeten nach Europa zu schicken, damit die einen Job ergattern, um die Familienverbände zu Hause zu ernähren. Da müssen wir auch eines klar sehen: Der Strom wird nicht abreißen. Auch wenn wir legale Möglichkeiten haben, wird es immer Menschen geben die versuchen, ihrem Elend zu entkommen, weil so viel legalisieren können wir gar nicht.

    Schütte: Herr Kreissl-Dörfler, Sie sind jetzt auf dem Weg nach Brüssel. Wie reagiert Brüssel auf Meldungen von gestern, dass dieses Flüchtlingsdrama geschehen ist? Wird das wahrgenommen?

    Kreissl-Dörfler: Das wird selbstverständlich wahrgenommen. Auf der anderen Seite muss ich sagen, der zuständige Kommissar Barrot hat ja Lampedusa besucht und fand das eigentlich alles ganz nett. Er hat wesentlich stärker Malta kritisiert. Hier ist in der Kommission jetzt gerade das Motto ausgegeben worden, wir sind jetzt eh bald nicht mehr Kommissare und den italienischen Freunden hacken wir sowieso kein Auge aus. Also hier wird sich auch zum Teil wirklich weggeduckt, und da müssen jetzt die Innenminister mal auf den Tisch schlagen - dazu gehört auch Innenminister Schäuble - und sagen, Leute, so geht es nicht!

    Schütte: Der SPD-Politiker Wolfgang Kreissl-Dörfler, Mitglied im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des Europaparlaments. Vielen Dank für das Gespräch.