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Die EU nach Lissabon

Bis zum Schluss blieb es spannend, bis zum Schluss war unsicher, ob Europa in die nächste Krise rutschen – oder mit einer großen Reform ins Neue Jahr starten würde. Doch dann setzte auch noch Tschechiens sperriger Präsident Vaclav Klaus seine Unterschrift unter den Lissabonvertrag – nachdem die Iren in einem zweiten Referendum zugestimmt und auch das Bundesverfassungsgericht mit einem spektakulären Urteil den Weg freigemacht hatte: Das siebenjährige Ringen um Europas Reformvertrag war gewonnen.

Von Petra Pinzler | 27.12.2009
    Doch damit war dann aber auch die Luft raus. Nun ist zwar der Lissabon-Vertrag endlich in Kraft, um den die Europäer so lange gerungen hatten - aber flugs hatten die Politiker dann auch den Hauptschalter auf den Modus Routine umgelegt und machten sich eher lustlos, mutlos, kraftlos wieder an die Geschäfte. Von Europa-Euphorie keine Spur: Nichts war von einem europäischen "Yes we can" zu hören. Sicher, der Slogan müsste in Brüssel anders intoniert werden als in Washington, Europa ist nicht Amerika. Doch ein Neustart, der so wenig Begeisterung weckt, ist schon deprimierend.

    Die Gründe für die gedämpfte Stimmung sind offensichtlich. Erstens: Nach Jahren der Reparaturarbeit an den europäischen Verträgen ist niemand mehr wirklich zufrieden mit den vielen Kompromissen des Lissabonvertrages.

    Zweitens vermittelt das alte und das neue Führungspersonal an der Spitze Europas nicht den Hauch von Aufbruchstimmung. Charisma? Zuversicht? Fehlanzeige. Der immer wolkige, servile Portugiese Manuel Barroso bleibt weiter Chef der Kommission, Deutschland schickt den unpopulären und steifen Schwaben Günther Oettinger als neuen Kommissar nach Brüssel. Präsident des Rates wird der Belgier Herman van Rompuy, den die Aura eines stillen Sekretärs umgibt. Und die bis dato weithin unbekannte und außenpolitisch unerfahrene Britin Catherine Ashton darf sich künftig Hohe Beauftragte für die Außen- und Sicherheitspolitik nennen – aber nicht Europas Außenministerin.

    Europa wird dennoch vorankommen. Und zwar wegen seiner Fähigkeit zum Ausgleich - und wegen seiner Institutionen und Verträge. Stets hat sich Europa nämlich durch Beharrlichkeit auf der legislativen Kriechspur verändert und nicht durch spektakuläre Neustarts. Größerer Spielraum für europäische Politik wurde nie im Hauruck-Verfahren gewonnen, sondern durch neue Gesetze, durch neue Posten und neue Institutionen. Dafür steht künftig auch der Lissabon-Vertrag: Er wird Europa verändern.

    Eine Million Bürger können beispielsweise künftig ein europaweites Bürgerbegehren organisieren - wenn sie es denn für nötig halten.

    Das EU-Parlament bekommt endlich noch mehr Macht und mehr Mitspracherechte bei elementaren Entscheidungen – zum Beispiel in der Frage, wieviel Geld künftig in die Agrarpolitik fließen soll.

    Und Europa wird handlungsfähiger: In vielen Politikbereichen wird künftig per Mehrheit entschieden – einzelne Regierungen können also Vorschläge der EU-Kommission nicht mehr so leicht zu Fall bringen

    Mit dem Lissabon-Vertrag hat das Räderwerk der EU also eine neue Mechanik bekommen. Nun muss sich die erst einmal einspielen. Da wird das eine oder andere Zahnrad nachjustiert werden, da wird es knirschen und manchmal auch stocken. Oder, um es anders zu sagen: Europapolitik wird auch in Zukunft eine Politik der kleinen Schritte bleiben.

    Doch die gemeinsame Erfahrung lehrt: Viele kleine Schritte führen auch zum Ziel. Jetzt liegt es an den Europäern, sie auch in die richtige Richtung zu gehen.

    Das Europa der Parolen:
    Das falsche Versprechen von der Bürgernähe


    Fast hätte Europa sein Ziel aus den Augen verloren. Erst suchte ein hochrangig besetzter Konvent nach einem konsensfähigen Verfassungstext. Dann suchte Europa dafür die Zustimmung seiner Bürger. Und als das scheiterte, verfiel die EU in eine Sinnkrise - und suchte nach sich selbst.

    Begonnen hatte dieser Ärger mit den Franzosen, die das Referendum über den Verfassungsvertrag im Jahr 2007 dazu nützten, ihrer Regierung einen Denkzettel zu verpassen: Sie stimmten kurzerhand mit Nein. Und lieferten den Niederländern damit die Steilvorlage, das Gleiche zu tun. Das war das Ende der europäischen Verfassung. Und zugleich die Geburtsstunde eines neuen Mantras: Des Mantras von der Bürgernähe.

    "Europa muss bürgernäher werden" und dann wird alles wieder gut – einstimmig sangen Europas Politiker dieses neue Lied der Harmonie. Bürgernähe wurde in Brüssel und auch in vielen anderen Hauptstädten zur Zauberformel gegen die Europamüdigkeit erklärt – und als wichtiges Argument für weitere Reform der EU: Wenn sich die Eurokraten nur mehr ums Wohlwollen der Völker bemühten, und wenn die Institutionen nur zugänglicher und demokratischer würden, dann würde alles wieder gut; Vorbei die Euroskepsis, die Kritik an der Brüsseler Bürokratie, an der komplizierten Politikmaschine, an den bedrohlichen Richtlinien und den demokratischen Defiziten.

    Flugs wurde das Mantra in eine PR-Strategie gegossen: Um Europa transparenter zu machen und die EU verständlicher, schickte die EU-Kommission seither Beamte zu Redaktionsbesuchen quer durch Europa. Sie engagierte Fernseh-crews, um You-tube-kompatible Werbespots zu drehen. Ihre Kommissare betätigten sich als Blogg-Autoren und finanzieren millionenschwere Aufklärungskampagnen über all die Wohltaten, die aus Brüssel kommen.

    Doch den Praxistest hatte die EU damit nicht bestanden. Der Praxistest findet zum Beispiel im Baumarkt statt – dort, wo auch mein Vater seine Arbeitshandschuhe einkauft. Die bekam er unlängst samt einer Kurzfassung der entsprechenden EU-Richtlinie: mit Warnungen, dass er Handschuhe nicht zur gewerblichen Arbeit nutzen oder sie erhitzen dürfe. Europa hatte den Schutz des Bürgers im Auge. Mein Vater aber fragte sich: Was geht es die denn an, ob ich meinen Handschuh verbrenne? Warum kümmert sich jemand in Brüssel um ein Paar Handschuhe, das ich für meine Arbeit im Keller brauche? Da sollen sich die Eurokraten raushalten!

    Brüssel war dem Bürger nah gekommen – zu nahe und nervte. Die falsch verstandene Bürgernähe und Fürsorge wird als Bevormundung, als Einmischung empfunden. Im Kleinkram des Alltags hat die EU offenbar nichts verloren - sie soll sich um das Große und Ganze kümmern. In der unmittelbaren Nachbarschaft hat sie nichts zu suchen – aber sie soll sehr wohl die Beziehungen zu den benachbarten Staaten kümmern.

    Vor diesem Hintergrund ist das Ergebnis des zweiten Irland-Referendums zu verstehen: Die Iren stimmten der EU am Ende nicht etwa zu, weil sie plötzlich vom Sinn und Zweck der inzwischen abgeschafften Verpackungsverordnung überzeugt waren – sondern weil sie im Zuge der Finanzmarkturbulenzen erkannt hatten, das Europa in großen Krisen von Nutzen sein kann und dass es deswegen ratsam ist, dabei zu sein. Die meisten Umfragen kommen zu diesem Ergebnis: Die Menschen wollen mehr Europa in der Außenpolitik, bei den Regeln für die Globalisierung. Aber nicht beim Kleinkram.

    Sicher sind die Grenzen fließend. Manches Kleine hat große Wirkung und umgekehrt. Und manches Große – wie die Finanzmärkte – muss auch im Kleinen geregelt werden. Doch als Grundregel könnte gelten: Dort, wo der Einzelne und der Nationalstaat überfordert ist, ist Europa gefordert. Wenn es um Krieg und Frieden geht. Um die Sicherheit. Um Regeln für den weltweiten Kapitalismus. Globale Probleme machen europäische Lösungen erforderlich. Im Lokalen sollte Europa aber zweimal nachdenken, bevor es Regeln entwirft.

    Eigentlich ist der EU das seit Langem bekannt. Sie nennt es Subsidiaritätsprinzip.

    Europa und die Wirtschaftskrise:
    Die Hütte brennt. Aber bloß keine Panik.


    Es ist erst ein paar Monate her, dass ausgewiesene oder selbst erklärte Experten der Europäischen Union im Angesicht der Finanzkrise das umfassende Versagen attestierten. Europas Staats- und Regierungschefs dächten an sich und ihr Land zuerst. Jedem sei das Hemd näher als die Hose. Von gemeinsamen Konzepten und Rezepten keine Spur. Stattdessen ein Rückfall in Protektionismus, staatliche Intervention und nationale Alleingänge. So lassen sich Finanzkrisen nicht bewältigen, lautete das Fazit.

    Stimmt diese Diagnose – hat sie jemals gestimmt? Nein, sie war und ist ein Irrtum. Bisher hat sich Europa in dieser Krise ganz gut behauptet. Die EU ist nicht zum Notfallpatienten geworden und der Euro liegt nicht auf der Intensivstation. Stattdessen haben die Staats- und Regierungschefs die Initiative zurückgewonnen und treiben die internationale Debatte über Auswege aus der Finanzkrise voran. Das Ergebnis: Europa muss den Vergleich mit den USA nicht scheuen.

    Sicher, auch die Europäer haben einen gehörigen Anteil an dem Desaster der Finanzmärkte. Die Folgen der Zockerei sind nicht nur in London zu beobachten, sondern auch in den deutschen Landesbanken, wo sich inzwischen das ganze Ausmaß der Verantwortungslosigkeit abzeichnet. Und doch: Das Modell Amerika hat durch die Finanzkrise viel mehr Kratzer bekommen. Die sozialen Verwerfungen jenseits des Atlantiks sind offen zu Tage getreten. Dass Barack Obama die europäische Idee der allgemeinen Krankenversicherung aufgreift und auch beim Klima- und Umweltschutz den Europäern am liebsten folgen würde, kann kein Zufall sein: Das Modell Europa hat sich insgesamt bewährt. Finanzpolitisch. Wirtschaftspolitisch. Sozialpolitisch.

    Doch ob Europa auch für die Zukunft gut gerüstet ist, muss sich erst noch erweisen. Noch ist nicht ausgemacht, welche Region der Welt sich wie gut und schnell von den Folgen der Krise erholt. Es muss sich erst noch zeigen, ob die Währungsunion die Haushaltskrise ihrer Mitgliedsländer verkraften kann. Vieles wird davon abhängen, wie die EU die Aufräumarbeiten auf den Finanzmärkten vorantreibt. Und welche Dämme sie für die Zukunft errichtet, damit es nicht mehr zu derart katastrophalen Folgen einer spekulationsbedingten Springflut kommen kann.

    Das alles ist leicht gesagt und schwer getan. Denn auch nachdem der Lissabonvertrag in Kraft getreten ist, sind große Teile der europäischen Finanz- und Wirtschaftspolitik Sache der nationalen Regierungen. Und die wollen sich ihre Zuständigkeit nicht aus der Hand nehmen lassen. Die Debatte über die erlaubte Höhe der Verschuldung zeigt das deutlich: In einigen Ländern ist schon wieder vom Sparen die Rede. Die Nordeuropäer wollen auf die Schuldenbremse treten. Frankreich hingegen will noch mehr Schulden machen. Griechenland steht kurz vor dem Staatsbankrott – und braucht dringend finanzielle Hilfe von außen. Bei solch unterschiedlichen Ausgangslagen lässt sich nur schwer ein gemeinsamer Kurs finden. Die währungs- und finanzpolitischen Interessen driften so weit auseinander, dass dem Euro schwere Zeiten drohen, warnen Wissenschaftler.

    Doch es knirscht nicht nur in der Welt der Makroökonomen. Längst sind die Lobbyisten aus den Bankentürmen der Finanzmetropolen unterwegs. Sie haben keinerlei Interesse an einer Reglementierung ihrer Märkte: Der Kampf ist voll entbrannt zwischen den Bankern, die wieder Oberwasser haben, den Spekulanten, die frisches Geld in das ausgetrocknete System schütten wollen, und den Politikern, die sich mit leeren Staatskassen konfrontiert sehen. Für die einen war der Kollaps der Finanzmärkte im Rückblick nur ein Betriebsunfall. Für die anderen ein Warnsignal. Zugleich mehren sich die Anzeichen für die nächste Blase – und beim nächsten Mal könnte es noch viel schlimmer kommen.

    Das weiß die Kommission in Brüssel. Und sie spürt die große Verantwortung, die auf ihr lastet. Denn es geht nicht nur darum, die Interessenvertreter und Lobbyisten der Finanzwelt in Schach zu halten. Es geht darum, verbindliche Regeln festzulegen, die Krisen wie diese künftig verhindern.

    Und es geht – da schließt sich der Kreis – um die Glaubwürdigkeit europäischer Politik: Um das Ansehen der Europäischen Union. Zu selten wird die EU von ihren Bürgern als Schutzschirm gegen die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Globalisierung wahrgenommen, zu oft als Transmissionsriemen für einen immer rücksichtsloseren Markt. Tatsächlich nennt sich die Europäische Union bis heute eine Wirtschaftsgemeinschaft – warum sollte nicht eine Sozialgemeinschaft aus ihr werden?

    Auf leisen Sohlen zum global player:
    Die Perspektiven europäischer Außenpolitik


    Hin und wieder hilft es, sich und seine Heimat mit den Augen der Anderen zu sehen. Schaut man also für einen Moment, sagen wir, mit den Augen eines Inders oder Chinesen auf Europa, dann geraten London, Paris, vielleicht auch Berlin ins Blickfeld – aber sicherlich nicht Brüssel und die EU. Sie finden in Neu Delhi oder Peking schlichtweg nicht statt. Es sei denn, das Gespräch kommt auf die europäische Agrar- und Handelspolitik. Dann allerdings kommt schnell schlechte Stimmung auf: Sie wird als eigennützig, sogar als unfair empfunden.

    Außenpolitisch jedoch spielt Europa keine Rolle. Allen Wunschvorstellungen zum Trotz: Die EU ist weit davon entfernt, ein global player zu sein.

    Das soll künftig anders werden. Ende November lösten Europas Regierungschefs eines ihrer großen Versprechen ein: Sie wählten, wie es der Lissabonvertrag von ihnen verlangt, eine europäische Außenministerin: Catherine Ashton. Offiziell ist die Britin zwar nur die Hohe Beauftragte für die Außen- und Sicherheitspolitik. Doch immerhin soll sie dafür sorgen, dass Europa künftig die Welt mehr in den Blick nimmt. Mit ihrer Hilfe soll Europa handlungsfähiger werden. Aktiver. Effektiver. Die EU soll mit einer Stimme sprechen. Gemeinsam auftreten. Gemeinsam handeln.

    Doch ist dies wirklich realistisch? Oder nur Wunschdenken?

    Sicher ist: Es wird in absehbarer Zeit keinen außenpolitischen Urknall geben. Die Regierungen in Berlin, London Paris, Prag oder Warschau werden sich ihre außenpolitischen Kompetenzen nicht aus der Hand nehmen lassen – gerade die neuen EU-Mitglieder aus Osteuropa pochen auf ihre außenpolitische Souveränität, die sie so mühsam zurückerobert haben. Der außenpolitische Chor der Europäisch Union wird also weiter vielstimmig sein. Es wird noch viele Jahre dauern, bis das Kanzleramt, der Elyseepalast, Downing Street, der Hradschin oder die vielen anderen Regierungszentralen Brüssel nicht mehr als unangenehme Konkurrenz begreifen. Europäische Außenpolitik wird ein zäher, mühsamer Abstimmungsprozess bleiben. Jedes Mal werden neue Lösungen gefunden werden müssen. Ob auf dem Balkan. Im Nahen Osten. Oder gegenüber Russland.

    Die neue Hohe Beauftragte für Außen- und Sicherheitspolitik wird hart daran arbeiten müssen, die Gegensätze zu überbrücken.

    Und doch ist das neue Amt ein Fortschritt. Erneut hat die Europäische Union die Chance, an neuen Aufgaben zu wachsen. Man erinnere sich nur an den Spanier Javier Solana – als er zum ersten Hohen Beauftragten ernannt wurde, war europäische Außen- und Sicherheitspolitik noch eine vage Idee, eine politische Chimäre. Doch was hat Solana aus dem Amt gemacht? Er hat der Öffentlichkeit eine Vorstellung davon vermittelt, wozu eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik in der Lage wäre, wenn sie nur könnte, wie sie wollte. Nicht mehr und nicht weniger. Und das ist schon eine ganze Menge.

    Daraus haben auch die nationalen Regierungen mittlerweile ihre Konsequenzen gezogen. Sie koordinieren ihre Aktivitäten in der Ferne heute weit besser als noch vor ein paar Jahren. In vielen Regionen, die nicht immer im Scheinwerferlicht der Medien stehen, arbeiten sie längst geräuschlos unter Brüsseler Regie zusammen - weil es effektiver ist, weil es weniger kostet und mehr Gewicht verleiht. Vom Kongo bis in den Libanon, vom Balkan bis nach Indonesien sind inzwischen 70.000 Soldaten und zwei Dutzend europäische Sonderbeauftragte aktiv.

    Künftig kommt noch etwas Neues dazu: Catherine Ashton wurde der Aufbau eines europäischen diplomatischen Dienstes übertragen. Dessen Vertretungen könnten manche nationale Botschaft ersetzen – zwar nicht in Washington oder Peking, aber in kleinen Ländern.

    Und welche Schlüsse werden Neu Delhi, Peking oder Sao Paolo daraus ziehen? Sie werden sich weiterhin an die Regierungen in Berlin, London, Paris oder Warschau wenden. Es sei denn, sie könnten sich irgendwann einige Anrufe ersparen. Und nur noch die eine, die maßgebliche Nummer in Brüssel wählen.