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Die EU und Erdogan
Zum Zuschauen verdammt?

Wie wird der gescheiterte Putsch in der Türkei wahrgenommen - dort und hier in der EU? Wie legitim ist das Vorgehen der Regierung? Was wird jetzt aus dem Flüchtlingsabkommen? Trägt es noch, oder ist es so gut wie erledigt? In der Sendung "Zur Diskussion" gab es dazu Antworten. Und neue Erkenntnisse.

Diskussionsleitung: Annette Riedel, Deutschlandradio | 03.08.2016
    Türkische Polizisten patrouillieren auf dem Taksim-Platz in Istanbul.
    Türkische Polizisten patrouillieren auf dem Taksim-Platz in Istanbul. (pa/dpa/EPA)
    Gesprächsgäste:
    • Bekir Alboğa, DITIB, Islamwissenschaftler
    • Peter Beyer, CDU MdB
    • Gerald Knaus, Vorsitzender der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI)
    • Birgit Sippel, SPD MdEP
    Das Vorgehen der türkischen Regierung und die Verhaftungswelle nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei sorgen europaweit für viel Kritik. Auch die SPD-Europapolitikerin Birgit Sippel hält die Geschwindigkeit und die hohe Zahl der Entlassungen in Militär, Justiz und anderen Bereichen sowie die vielen Inhaftierungen für bedenklich. Das lasse den Verdacht aufkommen, dass "etwas vorbereitet gewesen" sei. Eine gewisse Kritik am Handeln Erdogans und der Regierung sei deshalb berechtigt, sagte sie in der Sendung "Zur Diskussion" im Deutschlandfunk.
    Peter Beyer, Bundestagsabgeordneter der CDU, forderte dazu auf, besonderes Augenmerk auf die Haftbedingungen in der Türkei zu legen. Man müsse genau hinsehen, ob das Vorgehen während des Ausnahmezustands mit europäischen Standards in Einklang stehe.
    "Das macht die Maßnahmen nicht richtig"
    Der Vorsitzende des Think Tanks "Europäische Stabilitätsinitiative" (ESI), Gerald Knaus, hingegen wies darauf hin, dass die Maßnahmen der türkischen Regierung im Zuge des Putschversuches in der Türkei selbst zu einem breiten Schulterschluss verschiedenster politischer Gruppierungen geführt habe. Grund sei die negative Erinnerung an frühere Militärputsche. Sehr viele Türken seien mit den meisten Maßnahmen der Regierung einverstanden. Knaus wörtlich:
    "Das macht die Maßnahmen nicht richtig, aber es bedeutet, dass es hier nicht um – wie das im Ausland oft wahrgenommen wird – einen Präsidenten geht, der jetzt als Alleinherrscher der türkischen Gesellschaft seinen Willen aufzwängt. In der Türkei gibt es sehr, sehr viele, die unter Schock stehen. Und dass das gefährlich ist, haben wir auch in westlichen Gesellschaften gesehen nach Terroranschlägen oder weniger dramatischen Ereignissen. Wenn Gesellschaften unter Schock stehen, sind sie oft bereit, Dinge mitzutragen, die sich im Nachhinein als nicht legitim und auf keinen Fall als menschenrechtsfreundlich erweisen."
    Zugleich betonte Knaus:
    "Jeder Zweifel an den Fähigkeiten der türkischen Justiz, den Anschuldigungen - die hier vorliegen und die sehr schwerwiegend sind - in einem rechtstaatlichen Verfahren auf den Grund zu gehen: Diese Zweifel sind alle berechtigt aufgrund der Erfahrungen mit dieser Justiz in den letzten Jahren und Jahrzehnten. Es gibt in der Türkei eine Tradition politischer Prozesse."
    Einen Generalverdacht gegen jegliches Handeln der Regierung lehnt er jedoch strikt ab. Die Europäische Union müsse im Falle der Türkei differenziert, kritisch, streng aber zugleich fair urteilen.
    Ausgebliebener Schulterschluss?
    Bekir Alboga, Islamwissenschaftler und Vorstandsmitglied der DITIB, des Dachverbands der türkisch-islamischen Moscheegemeinden in Deutschland, betonte in der Gesprächsrunde insbesondere die Enttäuschung in der Türkei über die europäischen Reaktionen nach dem Putschversuch. Man habe einen Schulterschluss erwartet, der jedoch ausgeblieben sei.
    Breit diskutiert wurden unter den Teilnehmern die möglichen Auswirkungen der derzeitigen Lage auf den Flüchtlingspakt zwischen EU und Türkei. Die türkische Regierung hatte unlängst ein Ultimatum für die Einführung der Visafreiheit für türkische Bürger in der EU gestellt und ein Ende des Flüchtlings-Abkommens angedroht. Die EU-Abgeordnete Sippel (SPD) und der Bundestagsabgeordnete Beyer (CDU) betonten jedoch, dass beide Seiten, EU und Türkei, ein starkes Interesse am Fortbestand des Abkommens hätten. Die Türkei müsse sich nach wie vor an die Vereinbarungen des Abkommens halten und sämtliche von der EU geforderten Bedingungen zur Erreichung der Visa-Freiheit erfüllen.
    Ditib-Vertreter Alboga gab sich ebenfalls überzeugt, dass die Türkei den Pakt nicht aufs Spiel setzen werde. Die Regierung wolle der Öffentlichkeit gerade jetzt Erfolge bei den Verhandlungen mit der EU präsentieren.
    Gefahr der Unglaubwürdigkeit
    Deutlich skeptischer zeigte sich hingegen Gerald Knaus, einer der Ideengeber für das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei. Der Pakt funktioniere derzeit nicht richtig, da die Türkei die Bedingungen nicht erfülle, um als sicherer Drittstaat zu gelten. Deshalb würden kaum Flüchtlinge in die Türkei zurückgeführt. Sollte sich die EU in der Frage der Visafreiheit nicht bewegen, werde die Türkei keine weiteren Anstrengungen unternehmen, um diesen Umstand zu ändern, die Situation der Flüchtlinge im Land würde dann nicht weiter verbessert.
    Stattdessen bestehe die Gefahr, dass die Türkei erklären könnte, keine Flüchtlinge mehr zurückzunehmen. Das gesamte Abkommen würde damit unglaubwürdig. Knaus wies auch darauf hin, dass es bereits jetzt für bestimmte Personengruppen in der Türkei die Möglichkeit gebe, visafrei in die Europäische Union zu reisen. Er kritisierte, dass es die türkische Regierung sei, die darüber entscheide, wer einen solchen "grünen Pass" erhalte.
    Der CDU-Parlamentarier Beyer forderte zwar grundsätzliche Dialogbereitschaft der EU mit der Türkei. Gleichzeitig sei es aber notwendig, die Flüchtlingskrise zu bewältigen, ohne sich in eine strategische Abhängigkeit von einem Land wie der Türkei zu begeben. Die EU-Mitgliedstaaten müssten die Sicherung der europäischen Außengrenzen selbst gewährleisten. Auch die Frage der Verteilung der Flüchtlinge auf die verschiedenen EU-Länder müsse geklärt werden.