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Die Evangelische Kirche und Helmut Kentler
Von sexueller Befreiung zu sexuellem Missbrauch

Helmut Kentler stritt in den 1970er und 80er Jahren für die sexuelle Befreiung. Immer wieder wurde er auf Kirchentage eingeladen. Mittlerweile ist bekannt: Er initiierte "Experimente", bei denen er sozial auffällige Jugendliche in die Obhut von Pädophilen gab. Wie geht die EKD damit um?

Von Michael Hollenbach | 31.07.2020
Schauspielerinnen einer Theatergruppe erinnern am Mittwoch zu Beginn des Kirchentages an das Hören auf das Vergangene, Handeln und Vertrauen heute. Standort ist das Polizeigefängnis 'Steinwache'.
Blinder Fleck in der Evangelischen Kirche: Der lange Zeit anerkannte Sexualpädagoge Helmut Kentler, selbst homosexuell, arbeitete in der Jugenderziehung mit Päderasten zusammen (DEKT / Dahlwitz)
Homosexuelle Beziehungen standen bis in die 1970er-Jahre hinein unter Strafe. Auch wer der "Kuppelei" zwischen einem Mann und einer Frau verdächtigt wurde, indem er beispielsweise unverheirateten Paaren ein Zimmer vermietete, musste mit bis zu fünf Jahren Zuchthaus rechnen. Schwangerschaftsabbruch war ein Tabu – an den Folgen illegaler Abtreibungen starben in den 50er- und 60er-Jahren jährlich tausende junger Frauen. In diesem Klima einer repressiven Sexualmoral wirkten die Botschaften des Sexualwissenschaftlers Helmut Kentler wie eine Befreiung, sagt der 70-jährige Uwe Sielert, ebenfalls einer der prägenden Sexualpädagogen der Bundesrepublik:
"Diese lange Repressionsphase gegen alles Sexuelle drehte Kentler im Kontext der 68er-Zeit. Er drehte den Spieß um und konzentrierte seine pädagogischen Visionen einer emanzipierten Gesellschaft auf eine uneingeschränkt positive und damit auch mystifizierende Wirkung von Sexualität."
"Der Star der Sexualerziehung"
"In den 70er-, 80er-Jahren war Helmut Kentler der Star der Sexualerziehung, er war gefragt in den Medien, wenn es um die Fragen der Sexualerziehung ging", sagt Teresa Nentwig.
Sie ist Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Die Politikwissenschaftlerin hat sich eingehend mit dem Wirken von Helmut Kentler befasst und auch seine Beziehungen zum Protestantismus untersucht. Kentler, der ursprünglich Pfarrer werden wollte, begann seine Karriere als Jugendbildungsreferent der Evangelischen Akademie Arnoldshain und als Pädagoge in dem evangelischen Studienzentrum Josefstal am bayerischen Schliersee.
Nentwig: "Die Anbindung war sehr gut. Er hielt Vorträge an evangelischen Akademien, publizierte in verschiedenen evangelischen Zeitschriften. Erst einmal war er als Experte gefragt, dann ging es um Themen wie Sexualmoral, um Jugendarbeit, Einstellungen der Jugend zur Religion, auch um Homosexualität. Dann würde ich eine zweite Ebene unterscheiden: Er trat auch als Kritiker in Erscheinung, und da würde ich vor allem die Ebene der Homosexualität ansprechen. Er hat sich dafür stark gemacht, dass Homosexualität entkriminalisiert und entstigmatisiert wird."
Gegen Stigmatisierung von Homosexualität
Kentler, selbst homosexuell, setzte sich unter anderem auf evangelischen Kirchentagen, auf Akademietagungen und in Kooperation mit der ökumenischen Arbeitsgruppe "Homosexuelle und Kirche" offen für eine Wertschätzung der gleichgeschlechtlichen Liebe ein. Uwe Sielert:
"In einer solchen Atmosphäre ist Kentler als eine Art Schutzheiliger aufgetreten und empfunden worden, der auf dem Kirchentag für eine freundliche Sexualerziehung eingetreten ist, der dafür eingetreten ist, dass auch Kinder sexuelle Wesen sind."
Für seine Positionen wurde er zugleich von konservativen und evangelikalen Gruppen des Protestantismus heftig attackiert. Teilweise wurde versucht, Auftritte von Kentler auf kirchlichen Veranstaltungen zu verhindern – so beispielsweise bei einer Tagung in der Evangelischen Akademie Tutzing 1976. Kentler polarisierte, betont auch Johann Hinrich Claussen, der Kulturbeauftragte der EKD, der Evangelischen Kirche in Deutschland.
Claussen: "Da war eine starke Polarisierung zwischen den Linken und den Rechten, den Progressiven und den Evangelikalen. Da konnte man nicht wahrnehmen, dass andere von der anderen Seite auch zu Recht Skepsis und Kritik äußern, darüber sollten wir heute hinweg sein."
"Experimente": Jugendliche zu Pädophilen gegeben
Seit einigen Jahren weiß man, dass Kentler seit Ende der 60er-Jahre in sogenannten Experimenten verwahrloste 13- bis 15-jährige Jungen bei ihm bekannten Päderasten in Berlin in Obhut gab.
Missbrauch von Berliner Pflegekindern: Studie sieht pädophiles Netzwerk auch in Behörden
Über Jahrzehnte gaben Berlins Jugendämter Pflegekinder in die Obhut eines Sexualstraftäters. Dieser Fall wurde nun von Hildesheimer Forschern aufgearbeitet.
Sielert: "Er hatte die Vorstellung, dass eine liebevolle, pädophile Beziehung in pädagogischen Kontexten schwierige Kinder und Jugendliche auf den richtigen Weg bringen könnte. Und das ist eine Haltung, die völlig außer Acht lässt, dass zwischen Erwachsenen und Kindern ein großer Machtunterschied besteht."
Und Kentler wusste, was er tat: Diese "Experimente" machte er erst zehn Jahre später öffentlich, als die Straftat verjährt war.
Folgen des sexuellen Missbrauchs
Nentwig: "Er hat über dieses Experiment ja geschrieben und es so ausgelegt, dass es eben als eine Initiative herüberkam, die eine gute Absicht hat, und er hat die Folgen sehr positiv dargestellt, dass die Jugendlichen nachher sozial integriert waren, eine Familie gegründet haben."
Helmut Kentler, der 2008 starb, habe seine positive Beurteilung dieser "Experimente", die eine Form sexualisierter Gewalt waren, nie revidiert, sagt die Politikwissenschaftlerin Teresa Nentwig.
Nentwig: "In Wirklichkeit ist das sogenannte Experiment nicht so erfolgreich verlaufen. Ich habe auch mit zwei Opfern gesprochen: Man kann sie als Opfer bezeichnen und denen geht es richtig dreckig. Die leiden bis heute unter den Folgen des sexuellen Missbrauchs, der damals durch den Pflegevater begangen wurde."
Sielert: "Heute weiß die Sexualwissenschaft aufgrund der bekanntgewordenen massenhaften Formen von sexuellem Missbrauch, dass diese Haltung eine ganz problematische ist, weil sie die Machtverhältnisse und das Verständnis von Gewalt verniedlicht."
Erste Hinweise auf Kentlers strafwürdige Arbeit mit Päderasten wurden Mitte der 90er Jahre publik. Doch selbst nach seinem Tod 2008 würdigte unter anderem das Evangelische Zentrum für Jugendarbeit sein Werk. Erst in den vergangenen Jahren wurden im Auftrag der Berliner Senats-Jugendverwaltung sowie der Universität Hannover, wo Kentler 20 Jahre als Hochschullehrer tätig war, das Wirken des Sexualpädagogen genauer untersucht. Mittlerweile blickt man auch in der evangelischen Kirche kritisch auf die Kooperation mit dem Sexualwissenschaftler.
"Freiheit wurde mit Grenzenlosigkeit gleichgesetzt"
Die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs ist Sprecherin des EKD-Beauftragtenrates zum Schutz vor sexualisierter Gewalt:
"Ich gehöre ja auch in die Generation derer, die diese reformpädagogischen Ansätze großartig fanden und mit dem Blick jetzt zurückzugucken und zu sagen: was gab es für eine Kultur der Grenzverachtung dabei, weil Freiheit gleichgesetzt wurde mit Grenzenlosigkeit, und dass wir an der Stelle als Kirchen auch einen blinden Fleck hatten, da müssen wir zu stehen und auch eine Verantwortung für übernehmen."
Auch der Kieler Sexualwissenschaftler Uwe Sielert sieht noch Aufklärungsbedarf in der evangelischen Kirche.
Sexualisierte Gewalt in der Evangelischen Kirche: Aufgeschobene Aufklärung
Während die katholische Kirche gemeinsam Standards zur Aufklärung der Missbrauchsfälle beschlossen hat, gibt es von der Evangelischen Kirche nur eine Absichtserklärung.
"Ich bin mir nicht sicher, inwieweit Kentler mit seinen Freunden im kirchlichen Bereich vernetzt war mit all denjenigen, die auch im kirchlichen Bereich als Pfarrer oder Jugendgruppenleiter sexuelle Grenzüberschreitungen vollzogen haben. Und inwieweit Kentler da legitimierend mitgemischt hat. Das muss kritisch angeschaut werden und aufgearbeitet werden."
Und der EKD-Kulturbeauftragte Johann Hinrich Claussen fragt sich:
"Was sind eigentlich bestimmte Strukturen, die dazu führen, dass man ihm eine Bühne gegeben hat, ihm ein Renommee verschafft hat, die es ihm möglich gemacht hat, seine Taten zu begehen?"
Claussen erinnert daran, dass Gerold Becker, einer der Haupttäter im Skandal um sexualisierte Gewalt an der reformpädagogischen Odenwaldschule, unter anderem auch von 1993 bis 1997 im Präsidium des evangelischen Kirchentages tätig war und die EKD in Bildungsfragen beraten hat.
Differenzierte Rückschau nötig
Claussen: "Ich glaube, dass Reformpädagogik und bestimmte Sexualpädagogik nicht so ist: Das war gut, das war schlecht; beides hängt immer miteinander zusammen."
Eine Akzeptanz von Pädophilie als integraler Bestandteil der Reformpädagogik? Das sehen Teresa Nentwig und Uwe Sielert durchaus anders. Sie plädieren für eine differenzierte Sicht auf das Wirken von Helmut Kentler:
Nentwig: "Wenn man sich sein Engagement für die Entstigmatisierung der Homosexualität gerade in der Kirche anschaut, dann bin ich der Meinung, dass ist sehr positiv zu bewerten. Wenn man sich die zweite Ebene anschaut, sein Eintreten für sexuelle Kontakte zwischen Kindern und Erwachsenen, dann kann man sagen: Das ist hoch problematisch."
Sielert: "Ich würde eine differenzierte Rückschau empfehlen: Ich würde betonen, dass die sexualitätsfreundlichen und die Homosexualität befreienden Intentionen von Kentler, dass die durchaus Würdigung vertragen und dass auf der anderen Seite genauso gesagt wird, Kentler war auch jemand, der auch Pädophilie legitimiert hat, und dass Kentler Segensreiches und sehr Problematisches mit sich gebracht hat."