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Die Gabe der Nachdenklichkeit

Was macht den Menschen zum Menschen? Die Frage ist so alt wie die Philosophie. In vier Salongesprächen versuchen die ZEIT-Stiftung und die Bucerius Law School eine Annäherung.

Von Ursula Storost | 23.05.2013
    Was aber ist der Mensch?

    Ein unselig Mittelding von Engeln und von Vieh. Du prahlst mit der Vernunft und du gebrauchst sie nie.

    So sah es der schweizerische Naturforscher und Dichter Albrecht von Haller im 18. Jahrhundert.

    Jeder Mensch ist ein Abgrund!

    Das glaubte der Dramatiker Georg Büchner im 19. Jahrhundert.

    Der Mensch ist das Maß aller Dinge.

    So der griechische Philosoph Protagoras knapp fünfhundert Jahre vor unserer Zeitrechnung.

    "Die Frage zu stellen, was ist der Mensch, zeichnet genau die Menschen schon aus. Das heißt, der Mensch ist ein Lebewesen, das in der Lage ist, zurückzutreten, auf sich zu schauen, sich selbst zum Objekt zu machen und zu fragen, wer bin ich. Und das ist eine menschliche Grundstruktur, Grundkompetenz unserer Existenz, die uns befähigt, ein bewusstes Leben zu führen. Was ein sehr hohes Gut ist."

    Sagt Dr. Sven Murrmann. Der Philosoph, Politikwissenschaftler und Verleger lehrt als Dozent im Studium generale an der Hamburger Bucerius Law School.

    "Was ist der Mensch? Dass das eben eine Frage ist durch alle Jahrhunderte hindurch. Aber dass meiner Ansicht nach alle Antworten auf diese Fragen sowohl, was ist menschlich am Menschen, was ist unmenschlich am Menschen, was ist übermenschlich am Menschen, dass alle diese Antworten immer aus jeweils geschichtlichen Situationen getätigt werden."

    Das würde bedeuten, was menschlich oder unmenschlich ist, variiert im Laufe der Jahrhunderte. Eine These, der Dr. Kai-Michael Hingst, Philosoph, Psychologe, Rechtswissenschaftler und ebenfalls Dozent an der Bucerius Law School widerspricht.

    "Die Möglichkeiten des Menschen, denken wir an das Unmenschliche, seine Schattenseite, auszuleben, haben sich sicherlich durch die Errungenschaften der modernen Technik in einem wahnsinnigen Maße gesteigert. Das bedeutet aber nicht, dass der Mensch nicht immer schon diese Seite genau auch ausgelebt hätte. In Schlachtenbeschreibungen schon bei Homer finden wir aufs Grausamste beschrieben, wie der eine den anderen mit oder ohne göttliche Hilfe attackiert und gemeuchelt hat."

    Kai-Michael Hingst beschäftigt deshalb vor allem die Frage nach dem Wesenskern des Menschen.

    "Ich denke, dass es Grundstrukturen des Menschlichen gibt, die wir nicht verleugnen können. Dazu gehören nicht nur die Bestimmung durch Ratio, also die Vernunft, die der Mensch als animal rationale gerne in den Mittelpunkt stellt. Sich selbst geradezu schmeichelnd. Sondern auch die Bestimmung durch Triebe, durch Unbewusstes, durch Emotionen mindestens genauso wichtig sind, wenn wir den Menschen als Ganzes, als Naturwesen in den Blick nehmen."

    Eine Moralphilosophie, die dem Menschen gerecht werden will, müsste nicht nur die Vernunft, sondern ebenso die menschlichen Schattenseiten ins Kalkül ziehen. Und jeder Einzelne ist aufgerufen, sich ganzheitlich als Naturwesen zu reflektieren. Kai-Michael Hingst:

    "Dieses Thema hat schon die alten Griechen bewegt, wenn wir daran denken, dass über dem Apollo zu Delphi der Satz stand, erkenne dich selbst. Das kann den einzelnen Menschen nur weiterbringen, wenn er mehr über sich selbst erfährt."

    Der Mensch an sich sei, laut Immanuel Kant, ein Wissender, resümiert der Frankfurter Philosophieprofessor Dr. Martin Seel.

    "Auch wenn das Wissen Grenzen hat. Es ist jemand, der sich entscheiden muss, so oder anders zu handeln. Und es ist jemand, der auch einiges hoffen kann von sich, vom Leben und vielleicht auch, Kant denkt an die Religion, von einem Leben jenseits des uns bekannten Lebens."

    Der Mensch, sagt Martin Seel, habe Tugenden und Laster. Wer den Pfad der Tugenden gehen, sich selbst und anderen im Leben gerecht werden wolle, der habe keinen graden Weg vor sich. Er gerate immer wieder an Weggabelungen, in Situationen, in denen er sich entscheiden müsse. Der Pfad des Lasters, ein Leben ohne Rücksicht auf Andere, sei scheinbar eindeutiger. Aber:

    "Jemand, der radikal seinem eigenen Interesse folgt, der glaubt ja, für sich selbst etwas Gutes zu tun. Schon da kann er sich täuschen Das wird schon seit der Antike diskutiert. Bei Platon in seinem Dialog Gorgias sagt Polos, einer der Gesprächspartner von Sokrates: Wie, du willst kein Tyrann sein? Der Tyrann als der Inbegriff von jemandem, der tun und lassen kann, was er will. Und Sokrates sagt: Ne, der Tyrann ist ein armes Würstchen. Der kann niemandem vertrauen. Der kann sich auf niemanden, nicht mal auf seine Palastwache, verlassen. Ganz abgesehen von den Grausamkeiten, die er gegenüber anderen begeht."

    Was Menschen unter Moral verstehen, so Martin Seel, sei relativ. Unterschiedliche Individuen hätten unterschiedliche Biografien, Anlagen und auch Schwächen. Es gebe keinen Menschen, der nur gerecht sei.

    "Jemand, der am Ende seines Lebens die Arme zusammenlegt und sagt, ich hab mir nichts vorzuwerfen, ich habe in der Erziehung meiner Kinder alles richtig gemacht, den möchte ich sehen. Und so ein Mensch wäre niemand, den wir menschlich nennen würden. Das heißt, der Zweifel an der Richtigkeit der eigenen Entscheidung ist ein wesentliches Zeichen eines moralischen Bewusstseins."

    Der Mensch ist fähig zu Selbstzweifeln. Aber genauso zu Grausamkeit, Krieg, Verbrechen. Kain erschlug Abel. Heute morden die Hutu die Tutsi in Ruanda, sagt der Philosoph Sascha Suhrke von der Zeit-Stiftung. Er hat die Vortrags-Reihe mit konzipiert.

    "Das ist ein besonders schreckliches Beispiel, weil Leute mit Macheten auf ihre Nachbarn eingeschlagen haben. Leute, mit denen sie lange zusammengelebt haben. Aber natürlich war das auch ein Krieg, der in diesem Land ausgelöst wurde durch eine sehr geschickte menschenverachtende Propaganda. Man darf ja nicht vergessen, dass Menschen manipulierbar sind."

    Heute weiß man: Soziale Verhältnisse begünstigen oder hemmen moralisches Handeln. Und längst fragen nicht mehr nur Philosophen nach dem Wesen des Menschen. Sascha Suhrke:

    "Es ist auch eine Frage der Theologie, der Hirnforschung. Auch durchaus der Physik und anderer Disziplinen. Wir kommen um die Frage nach dem Menschen nicht nur aus philosophischer Sicht, sondern überhaupt gar nicht drum herum."

    Mit der Entwicklung der Wissenschaften hat sich auch die Verantwortung der Menschen vervielfacht, behauptet Dr. Friedrich Wilhelm Graf, Professor für systematische Theologie und Ethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Beispiel: der Tod.

    "Heute gibt es so etwas wie den natürlichen Tod gar nicht mehr, weil wir vielfältige medizinische Möglichkeiten der Verlängerung des Lebens haben. Also müssen wir darüber nachdenken, wie wir den Tod definieren, was wir unter menschenwürdigem Sterben verstehen, wie wir mit der Frage umgehen, dass bestimmte Menschen sagen, sie wollen nicht mehr länger leben usw."

    Damit der Mensch überhaupt Verantwortung übernehmen kann, braucht er zwei elementare Gaben, die nur dem Menschen eigen sind: die Fähigkeit, sprachlich mit anderen zu kommunizieren, und die Fähigkeit der Nachdenklichkeit.

    "Wir können uns von unserer eigenen Unmittelbarkeit distanzieren. Und Nachdenklichkeit, find ich, ist eine sehr wichtige und oft auch heilsame Tugend."

    In diesem Sinne gehört es für den Ethiker Friedrich Wilhelm Graf zu einem gelungenen Leben, von dieser Gabe der Nachdenklichkeit und Reflexion Gebrauch zu machen. Aber selbst, wenn alle Menschen das tatsächlich tun würden, könne es niemals eine vollkommene Gesellschaft geben.

    "Die meisten haben eine Sehnsucht und ein Verlangen nach Vollkommenheit. Aber sie definieren die Vollkommenheit ganz anders. Der eine möchte morgens gerne um neun Uhr frühstücken und der andere bis zum Mittagessen im Bett bleiben. Das sind unterschiedliche Entwürfe guten Lebens."