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"Die ganze Stadt brannte"

Es sollte der triumphale Höhepunkt seines Russlandfeldzugs werden: Am 15. September 1812 zieht Napoleon an der Spitze seiner Truppen in Moskau ein. Doch noch am gleichen Abend geht die Stadt in Flammen auf. Der Brand von Moskau leitete die endgültige Niederlage des Kaisers der Franzosen ein.

Von Bernd Ulrich | 15.09.2012
    "Vom Poklonnajaberge sah man Moskau weit hingebreitet vor sich liegen, mit seinem Fluß, seinen Gärten, mit seinen Kirchenkuppeln, die sternengleich unter den Strahlen der Sonne flimmerten. Beim Anblick dieser seltsamen Stadt mit ihrer noch nie gesehenen Architektur empfand Napoleon jene ein wenig neidische und unruhige Neugier, die man wohl beim Anblick fremder Lebensformen empfindet. Im klaren Vormittagslicht schaute er bald auf die Stadt, bald auf den Plan, und in der sicheren Gewißheit des Besitzes beschlich ihn ein erregendes und beängstigendes Gefühl."

    Lew Tolstoi, der diese Szene am Vorabend des 15. September 1812 in seinem epochalen Werk „Krieg und Frieden“ beschreibt, hatte schon Recht: So aufregend es für Napoleon war, das Ziel seiner Wünsche seit seinem Einmarsch in Russland am 24. Juni 1812 vor Augen zu haben, so unsicher zeigte sich die unmittelbare Zukunft. Denn es hatte zwar kurz vor Moskau so etwas wie eine Entscheidungsschlacht gegeben. Jedenfalls glaubte der Kaiser, die verlustreiche Schlacht bei Borodino am 7. September hätte die Niederlage der Russen besiegelt, aber der russische Zar macht keine Anstalten, ihm den Frieden anzubieten – und es kam auch keine Abordnung der Stadtoberen herbei, um ihm Moskau zu Füßen zu legen. Tolstoi charakterisiert bissig, wie Napoleon, hingerissen von seinem Edelmut, mit dem er Russland den Frieden diktieren wollte, eben darauf wartet, - während sich seine Offiziere darüber Gedanken machen, wie ihm das Unvermeidliche mitgeteilt werden konnte, ohne den Imperator das Ridiküle der Situation fühlen zu lassen. Schließlich, so Tolstoi:
    "Sagte Napoleons Schauspielerinstinkt ihm, daß der erhabene Augenblick, allzusehr in die Länge gezogen, von seiner Erhabenheit einiges zu verlieren begann. So gab er denn ein Zeichen mit der Hand und nun marschierten die von mehreren Seiten her um Moskau aufgestellten Truppen in die Stadt ein."

    Ihnen folgte endlich auch der Kaiser, der am 15. September an der Spitze der Garde und deren Musikkapellen in Moskau einritt und sein Quartier im Kreml nahm, - entschlossen, weiterhin zäh darauf zu warten, dass Zar Alexander ihm Friedensverhandlungen anbot. Allerdings, so der Leutnant Fantins des Odoards:

    "Die Einsamkeit und Stille, die uns in Moskau empfing, dämpfte unseren Glückstaumel, an seine Stelle trat nun ein unangenehmes und vages Gefühl der Angst."

    Ein Gefühl, das sich nur allzubald bestätigen sollte. Denn die nahezu entvölkerte Stadt - nur Kriminelle und Prostituierte waren angeblich noch in Moskau - begann am Abend des 15. September zu brennen, erst an den Rändern, dann auch in der Innenstadt. Der britische Historiker Adam Zamoyski:

    "Gegen vier Uhr früh am 16. September, als das Feuer auch an den Kremlmauern zu züngeln begann, wurde Napoleon von seinem verschreckten Gefolge geweckt. Im Arsenal des Kreml lagerten große Pulvervorräte, und man fürchtete, umherfliegende Funken oder glühende Holzspäne könnten sie entzünden. Schließlich ließ er sich bewegen, die Stadt durch die brennenden Straßen zu verlassen und ein Schloß einige Kilometer außerhalb Moskaus zu beziehen."

    Fjodor Wassiljewitsch Rostoptschin, General und Minister des Zaren, hatte beim Abzug seiner Truppen dem Moskauer Polizeipräsidenten Woronenko den Befehl erteilt, alle Speicher, Lagerhäuser für Lebensmittel, Stoffe und Leder anzuzünden und die Löschpumpen aus der Stadt hinauszuschaffen. Doch als Woronenkos Männer das Werk begannen, loderten bereits einige der Holzhäuser, aus denen Moskau überwiegend bestand, angezündet durch plündernde Banden und wohl auch französische Soldaten. Bis zum Abend des 16. September hatte sich ein wahrer Feuersturm entwickelt. Der Feldmedicus Baron Larrey:

    "Die ganze Stadt brannte, überall stiegen dicke Flammengarben in unterschiedlichen Farben gen Himmel. Ihr schauriges Pfeifen und die donnernden Explosionen entstanden, wenn sie in den Häusern und Läden lagerndes Pulver, Salpeter, Harzöl und Alkohol entzündeten."

    Insbesondere von letzterem blieb indessen noch so viel in allen Varianten übrig, dass von nun an mancher Soldat und Offizier bis zum Rückzug in Alkoholexzessen schwelgte, ganz zu schweigen von den sofort einsetzenden Plünderungen von allem, was sich nur irgendwie mitschleppen ließ. Und Napoleon? Er, der am 18. September wieder in die ausgebrannte Stadt zurückgekehrt war, gestand einem russischen Gutsbesitzer, der in Moskau geblieben war:

    "Ich möchte wieder weg von hier. Ja, ich möchte wieder nach Hause. Wenn Zar Alexander Frieden wünscht, braucht er es mich nur wissen lassen."

    Aber der Zar meldete sich nicht. Das Ende war so bitter wie absehbar. Mitte Oktober 1812 begann der Rückzug – einen ganzen russischen Winter lang.