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Die Gedanken sind frei - oder?

Neurologie. - Gibt es einen freien Willen? Diese Frage beschäftigt nicht nur die Philosophen, auch die Hirnforschung sieht sich herausgefordert, haben doch nach dem Verständnis der Wissenschaft Wille und Bewusstsein im Gehirn ihren Ursprung. Doch die Forschung ist umstritten, auch weil die Ergebnisse aus dem Labor Auswirkungen auf die Gesellschaft hätten, beispielsweise auf das Rechtssystem. Der freie Wille stand in diesem Jahr gleich zweimal auf dem Programm der Jahrestagung der Amerikanischen Akademie zur Förderung der Wissenschaften.

08.05.2002
    Professor Earl Miller vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) sucht nach dem Willen im Gehirn eines Rhesusaffen. Monatelang hat Miller das Tier trainiert, hat es mit Apfelsaft bestochen, damit es an einem Computerspiel teilnimmt. Der Affe drückt dabei die richtigen Knöpfe je nachdem, ob er zweimal ein Bild desselben Hundes sieht oder ob ein Haus und ein Auto auf dem Bildschirm abgebildet sind. Eine Elektrode direkt in seinem Gehirn, ungefähr hinter den Augen, leitet dabei Nervenimpulse ab. An dieser Stelle im Gehirn befindet sich der Stirnlappen, der nach Ansicht von Miller für Überlegungen, Planungen und damit auch für willentliche Entscheidungen zuständig ist.

    Die Gedanken eines Rhesusaffen kann Miller mit seinem Versuchsaufbau nicht lesen, er konnte aber schon mit komplizierten Computeranalysen aus den Nervensignalen die Signale heraus filtern, die bestimmte Kategorien repräsentieren und zum Beispiel immer dann feuern, wenn der Affe einen Hund sieht. In seinem neuesten Experiment will Miller untersuchen, wie abstrakte Konzepte im Gehirn verarbeitet werden: die Unterscheidung zwischen "Gleich" und "Verschieden": "Wir haben herausgefunden, dass diese Konzepte im Stirnlappen verankert sind. Es gibt dort viele Nervenzellen, die aktiv sind, wenn der Affe das Konzept "Gleich" verwendet. Andere reagieren beim Konzept "Verschieden". Wir glauben, wenn der Affe sich mit dieser Aufgabe beschäftigt, signalisiert der Stirnlappen dem Rest des Gehirns diese beiden Kategorien." In diesem Experiment konnten zum ersten Mal Nerven belauscht werden, die auf solche abstrakten Kategorien reagieren. Earl Miller vermutet, dass komplexere Konzepte wie "Gerecht" und "Ungerecht" von denselben Hirnregionen verarbeitet werden. Damit wird der Stirnlappen als moralisches Organ auch für die Rechtswissenschaft interessant.

    Der Jurist Professor Phillip Heymann von der Harvard Law School kann mit den Vorstellungen der Hirnforscher allerdings wenig anfangen: "Mir scheint, sie glauben, dass jeder geistige Zustand durch einen bestimmten Hirnzustand verursacht wird, durch Nerven, Botenstoffe und Rezeptoren. Da ist kein Raum für den freien Willen. Das Gesetz geht aber von einem freien Willen aus, der sich zwischen Risiken, Gefahren, Fehlverhalten entscheiden kann. Der freie Wille kennt die Versuchung und widersteht ihr. Ich vermute, die Hirnforscher glauben, dass die ganzen Prozesse der Kontrolle und Entscheidung festgelegt sind und in diesem Punkt sind sie einfach im Widerspruch zu juristischen Vorstellungen." Hirnforscher Earl Miller hält dem jedoch entgegen: "Gedanken und Gefühle müssen eine mechanistische Erklärung haben, denn sie entstehen im Gehirn aufgrund physikalischer Prozesse. Das Gehirn ist aber ein sehr komplexes Organ. Es zu verstehen, heißt nicht, dass man nicht mehr für seine Handlungen verantwortlich ist. Es gibt viele Möglichkeiten in der Umwelt, und man kann das selbe Ziel auf vielen Wegen erreichen. Deshalb sind wir am Ende alle verantwortlich dafür, welche Handlungen wir auswählen, und deshalb entwerten diese Experimente die Vorstellung eines freien Willen keinesfalls."

    [Quelle: Volkart Wildermuth]