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Die geraubten Kinder des Franco-Regimes

Über 30.000 Kinder sollen während des Franco-Regimes ihren Müttern entwendet und Adoptiveltern gegeben worden sein. Diese Zahl nennt Untersuchungsrichter Baltasar Garzón in seinem ersten Bericht zu den Verbrechen der Diktatur. Doch der Richter ist inzwischen von dem Fall abgezogen worden, gegen ihn wurde ein Verfahren wegen Rechtsbeugung eingeleitet. Trotzdem verlangen die Opfer Aufklärung. Für sie haben im Schoß des Franco-Regimes regelrechte Netzwerke mit dem Kinderhandel gute Geschäfte gemacht - auch noch nach dem Tod von Diktator Franco 1975. Erst 1987 schob das Parlament mit einem neuen Adoptionsgesetz dem Handel einen Riegel vor.

Von Hans-Günter Kellner | 26.01.2011
    Doch die Beweisführungen sind bei dem illegalen Babyhandel schwierig. Oft haben die vermeintlichen Opfer nicht mehr als ein paar Indizien in der Hand, nur offizielle Nachforschungen der Justiz könnten Klarheit bringen. Am 27. Januar wollen darum mehrere Opfer eine Sammelklage beim Nationalen Gerichtshof in Madrid einreichen. Hans-Günter Kellner hat sich in Madrid mit einer Frau getroffen, die glaubt, dass ihre kurz nach der Geburt für tot erklärte Schwester noch lebt - und in der Nähe von Hamburg lebt.

    Mar Soriano war noch gar nicht auf der Welt, da passierte etwas, das ihr ganzes weiteres Leben prägen würde. Alles begann ein Jahr vor ihrer Geburt:

    "Meine Mutter brachte am 3. Januar 1964 ein gesundes Kind zur Welt, Beatriz. Sie gab dem Mädchen gerade die Brust, als Krankenschwestern meiner Mutter sagten, das Kind müsse jetzt in den Brutkasten. Meine Mutter war sehr erschrocken. Sie wollte mit dem Arzt sprechen, der sagte nur, sie solle sich keine Sorgen machen und ausruhen. Meine Mutter glaubte diesen Leuten und gab ihnen das Kind."

    Ihr Vater sei noch mehrmals vor eine Glasscheibe geführt worden, hinter der mehrere Babys in den Brutkästen lagen. Ihm sei gesagt worden, dass es dem Mädchen gut gehe, erzählt Mar Soriano 47 Jahre später. Doch als ihre Mutter am 7. Januar 1964 entlassen wurde, durfte sie das Kind nicht mitnehmen. Wegen einer Mittelohrentzündung

    "Einige Tage später teilte der Arzt meinen Eltern mit, dass Beatriz gestorben ist. Das Krankenhaus würde sich schon um "alles kümmern". Meine Eltern wollten das Kind selbst bestatten, doch der Arzt bestand darauf, dass sich das Krankenhaus darum kümmere. Sie durften den Körper nicht mehr sehen und wurden letztlich aus dem Krankenhaus geworfen. Irgendwann kamen sie zu dem Schluss, dass ihnen Beatriz geraubt worden sein muss."

    Ob das lebendige Baby oder der Leichnam verschwand, konnten die Eltern nicht herausfinden. Wer während des Franco-Regimes öffentlich widersprach, musste mit Repressionen rechnen. Erst Jahrzehnte später begann Mar Soriano mit eigenen Nachforschungen. In den Archiven fand sie sogar zahlreiche weitere Todesfälle wegen einer Mittelohrentzündung innerhalb weniger Tage. Die Ingenieurin glaubt inzwischen, dass ihre Schwester gar nicht gestorben, sondern Opfer organisierter Kinderhändler worden ist - und es bis heute nicht weiß:

    "Ich war auf einem Kongress in Klagenfurt. Da nahmen Leute aus ganz Europa teil. Ein Teilnehmer sprach mich auf Deutsch an. Er nahm erst gar nicht wahr, dass ich ihn nicht verstand. Er hatte mich verwechselt. Zunächst nahm ich das nicht ernst. Aber ich kontaktierte diesen Mann später. Ich kann jetzt keine weiteren Details aus Rücksicht auf die Betroffenen nennen. Aber ich bin mir jetzt absolut sicher, dass mich dieser Mann mit meiner Schwester verwechselt hat, und dass sie in der Nähe von Hamburg lebt."

    Ein vermeintlich gefälschter Todesschein, eine zufällige Verwechslung, die sie auf eine Spur ins entfernte Hamburg führt - Mar Soriano weiß, wie unwahrscheinlich ihre Geschichte klingt. Aber Ärzte bestätigen, dass eine Mittelohrentzündung als Todesursache auch in den sechziger Jahren höchst unwahrscheinlich war. Gleich mehrere solcher Fälle innerhalb weniger Tage lassen auf Unregelmäßigkeiten schließen, entweder auf Behandlungsfehler, die vertuscht werden sollten - oder auf Kinderhandel, meinen Ärzte heute. Auch die vermeintliche Spur nach Deutschland wundert Santiago González nicht. Er hat die Internet-Plattform Adoptados.org gegründet, über die adoptierte Kinder und ihre biologischen Familien zusammenfinden sollen:

    "Es ist sehr wahrscheinlich, dass Leute, die glaubten, ein spanisches Kind zu adoptieren, es in Wirklichkeit gekauft haben. Aufgrund des großen Unterschieds der wirtschaftlichen Verhältnisse jener Jahre ist es durchaus möglich, dass deutsche Adoptiveltern für Gebühren hielten, was in Wirklichkeit ein Preis für ein Kind war. Was mich an dem Fall von Mar besonders stutzig macht: Wenn die Familie in Deutschland nichts damit zu tun hat, warum geht sie Mar aus dem Weg? Mar ist nicht aufdringlich. Es wäre doch leicht, das Ganze aufzuklären. Dass das nicht passiert, finde ich merkwürdig."

    Denn der Handel mit Babys war in Spanien bis in die frühen 80er-Jahre durchaus keine Seltenheit. Santiago González wurde zwar nicht gegen den Willen seiner leiblichen Mutter adoptiert, doch auch seine Adoptiveltern mussten sogenannte "Gebühren" bezahlen - an ein ganzes Netzwerk, in das die Kirche, Ärzte, Richter und Notare verstrickt waren. Die spanische Justiz tut sich mit diesen Fällen schwer. Schließlich geht es um einst einflussreiche soziale Gruppen der Franco-Diktatur. Von der Sammelklage beim Nationalen Gerichtshof verspricht sich Mar Soriano nicht viel:

    "Wir kennen die spanische Justiz. Wir haben gesehen, was mit Baltasar Garzón passiert ist, weil er die Verbrechen des Franco-Regimes aufklären wollte. Er bekam den Fall entzogen und wurde wegen Amtsmissbrauchs angeklagt. Wir wollen natürlich den Rechtsweg in Spanien ausschöpfen. Aber ich fürchte, uns bleibt am Ende nur noch der Weg vor die internationalen Gerichte."