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Die Geschichte des Braunschweiger Fußballpioniers

Konrad Koch, ein Braunschweiger Altphilologe und Theologe war es, der im Jahr 1874 das Fußballspiel in Deutschland eingeführt hat. Rainer Moritz erzählt Kochs Geschichte und die der Einbürgerung des Fußballspiels in Deutschland.

Von Hartmut Kasper | 06.05.2011
    Rainer Moritz leitet heute das Literaturhaus Hamburg. In jungen Jahren aber waltete er als Schiedsrichter auf schwäbischen Fußballplätzen. Außerdem ist er bekennendes Mitglied des Turn- und Sportvereins 1860 München. Der Verein wurde erstmals im Jahr 1848 gegründet, kurz darauf aber wegen republikanischer Umtriebe verboten. Heute zählt ihn deswegen natürlich niemand mehr zu den kriminellen Vereinigungen.

    Der TSV hat – wie manch anderer Verein, dessen Mitglieder sich der Leibesertüchtigung verschrieben haben – auch eine Fußballabteilung. Und Fußball war, wenn man diesem Roman Glauben schenken darf, zu seinem Beginn in Deutschland vielleicht nicht als kriminell angesehen – aber das Spiel um die Lederkugel war den damals vor allem klimmziehenden, bockspringenden und rumpfbeugenden Deutschen des Zweiten Kaiserreichs auch nicht ganz geheuer. Konrad Koch, ein Braunschweiger Altphilologe und Theologe war es, der im Jahr 1874 das Fußballspiel in Deutschland eingeführt hat. Rainer Moritz erzählt seine Geschichte.

    Den für das als ungestüm und barbarisch geltende Spiel notwendigen Rugbyball hatte Koch wie die dazugehörigen Regeln aus England importiert. Koch unterrichtete als Gymnasiallehrer am Braunschweiger Martino-Katharinäum.

    Der historische Koch verabreichte seinen Schülern den britischen Ball als Mittel gegen das damals grassierende Stubenhockertum. Auch sollte das Spiel auf grünem Rasen die jungen Männer von Touren durch die Braunschweiger Kneipenlandschaft abhalten. Fußball statt Alkohol – was für eine schöne Idee.

    Die Geschichte des Braunschweiger Fußballpioniers wurde im Jahr 2010 verfilmt, und in gewisser Weise ist das Buch auch ein Buch zum Film. Es liegen allerdings keine Kinokarten bei – und das braucht´s auch nicht. Der Roman, den Moritz aus der Geschichte gemacht hat, amüsiert genug – und mehr als nur 90 Minuten.

    Bei Moritz ist Koch eine geradezu sozialrevolutionäre Figur. Das Spiel soll Klassengrenzen überschreiten und sozial divergente Burschen – Bankierssöhne wie Proletarier – in ein Team integrieren. Dazu passt auch Kochs Auftreten vor der Klasse und seine höchst ungewöhnliche Mimik:

    "Lächelt der etwa?" Ungläubig wandte sich Emanuel Witthuhn seinem Sitznachbarn Otto Schricker zu. ( ... ) "Ein fröhlicher Lehrer, spinnst du?", flüsterte er hinter vorgehaltener Hand zurück. "Das muss ´ne Kriegsverletzung sein."

    Noch freilich bockt die Klasse und fremdelt gewaltig. Joost, der einzige Junge aus einem schlichten Arbeiterhaushalt, wird von den Machthabern in der Klasse gemobbt. Endlich lockt Koch die Klasse in die Turnhalle und packt sein Mitbringsel von der Insel aus – ein Sportgerät, das die Schüler für die englische Schrumpfform eines deutschen, bleigefüllten Medizinballes halten:

    "Eine abgewetzte, mehr ovale als runde Lederkugel. Ein Funken umspielte seine Augen; beseelt streichelte er über das raue Leder und eilte mit seinem Schatz aus der Wohnung."

    Ganz schön ballverliebt. Koch pflegt aber nicht nur sein quasi-erotisches Verhältnis zum Ball, sondern ist auch Reformpädagoge. Er begeistert seine Jungens für das neue Spiel und lässt sie bisherige Außenseiter wie Joost in ganz neuem Licht erleben – denn natürlich entpuppt sich der viel geprügelte Joost als der begnadete Fußballspieler der Klasse.

    Die Schüler freunden sich nicht nur mit dem Ball an, sondern auch mit ihrem neuen, liebenswürdigen Lehrer, was, wir sind ja im Roman, den Hass und die Verachtung des konservativen Kollegiums nach sich zieht.
    Man wittert, was Koch betrifft, Verrat am deutschen Wesen.

    Die Deutschen kommen, soweit sie keine Begeisterung nicht für das neue Spiel aufbringen, so gut weg: Sie sind – und bleiben bis ans Ende des Romans – Karikaturen.

    So feiert der Turngeräte- und Medizinballhersteller Karl-Friedrich Schricker – dessen Sohn später im Roman die ersten deutschen Fußbälle produzieren wird, noch mit einer derben Ochsenblase im Zentrum – seine privaten kaufmännisch-turnerischen Saturnalien:

    "Zweimal im Jahr empfing er Gäste in seinem Haus ( ... ). Eine Militärkapelle begrüßte die Gästeschar mit unbeschwerten Marschmelodien. ( ... ) Zwei Turner in knielangen gestreiften Anzügen boten eine Vorführung an einem eigens für diesen Abend in der Villa installierten Reck und sorgten jedes Mal für aufbrausenden Applaus, sobald ein besonders kühner Aufschwung geglückt war."

    Wozu sollte, wer solcher Feldaufschwünge fähig ist, denn Fußball brauchen? Die drollig-dösigen Wortführer altgermanischen Turnergeistes wollen Koch der Anstalt verweisen; ein geschickter Schachzug aber bringt eine Kaiserliche Delegation ins Spiel, die sich vom pädagogischen Wert des Fußballertums überzeugen möchte.

    In einem Schaukampf gegen Kochs englische Freunde gewinnt, wie in Freundschaftsspielen zwischen Deutschland und England seitdem üblich, Deutschland – und das zur großen Begeisterung der Kaiserlichen Schulinspektoren.

    Der Sieg verdankt sich natürlich auch und gerade der sozialintegrativen Kraft des neuen Spiels. Der Star der Mannschaft, der Proletarier Joost, darf denn auch das Credo der neuen Ballspielglaubensgemeinschaft verkünden:

    "Ich habe, Mutter, durch meine Begabung fürs Fußballspiel Anerkennung in der Klasse gefunden. ( ... ) Ich bin jetzt Teil eines Teams. Gesellschaftliche Unterschiede zählen da nicht, weil alle zusammenspielen."

    Am Ende liegen sich dann nicht nur die Spieler des Teams in den Armen. Auch der gut-bürgerliche Bankierssohn und Stürmer Felix ...

    " ...lief ( ... ) über die Seitenbegrenzung hinaus und nahm Rosalie in den Arm. Ohne zu zögern, küsste er sie, und es störte ihn nicht im geringsten, dass sein Vater keine fünf Meter danebenstand."

    Wer möchte da nicht Spielerbraut sein.

    Rainer Moritz erzählt die Einbürgerungsgeschichte des Fußballspiels höchst vergnüglich. Er hat hier und da ein bisschen künstliche Patina aufgelegt, sodass man manchmal meint, den alten Fontane über ein Match plaudern zu hören, vielleicht den Berliner FC Germania gegen den TSV 1860 München: Da "herrscht" noch "eitle Freude", da "leuchten" mütterliche Augen, da wird "Contenance" bewahrt oder "zur Weißglut getrieben", was das Zeug hält. Aber wir sind ja auch im Jahr 1874.

    Der Roman ist, alles in allem, eine gelungene Melange aus reichlich rühmannscher Feuerzangenbowle, einem nach Braunschweig verlegten "Wunder von Bern" und schließlich – wenn die Schüler den Aufstand zugunsten ihres geliebten Lehrertrainers proben – noch einer Prise "Club der Toten Dichter".

    Man muss kein 1860er sein, um das Buch zu mögen. Auch Dauerkarteninhaber anderer Ballspielvereine werden ihre Freude haben, Gelegenheitskicker und vor allem Leser gut trainierter Geschichten.

    Rainer Moritz: Der ganz große Traum.
    Roman. Nach einem Drehbuch von Philipp Roth und Johanna Stuttmann und einer Idee von Sebastian Grobler und Raoul Reinert
    Rowohlt Taschenbuch Verlag. Reinbek bei Hamburg 2011
    250 Seiten, 8,99 Euro