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Die gnadenlose Wahrheit des Krieges

Wassili Grossmanns monumentaler Stalingrad-Roman "Leben und Schicksal" ist ein Meisterwerk der russischen Literatur. Dem Berliner Claasen Verlag ist es zu danken, dass nun eine vollständige Fassung dieses Romans über den nationalsozialistischen Terror und die Stalinsche Funktionalisierung der Barbarei in deutscher Übersetzung vorliegt. Im Bertelsmann Verlag hat ebenfalls in diesem Herbst Antony Beevor unter Mitarbeit von Luba Vinogradova bislang unveröffentlichte Schriften des einstigen Kriegskorrespondenten Grossmann herausgebracht. Brigitte van Kann:

Am Mikrofon: Hermann Theißen | 26.11.2007
    Antony Beevors Buch bietet eine Fülle bislang wenig oder unbekannten, auf jeden Fall aber disparaten und schwer zugänglichen Materials aus Grossmans Frontnotizbüchern, aus seinen Artikeln für den "Roten Stern", aus seiner privaten Korrespondenz. Fast drei von vier Kriegsjahren verbrachte Wassili Grossman an vorderster Front. Aus Gründen der Zensur, aber auch um die Kampfmoral nicht zu untergraben, blieb in den Berichten für den "Roten Stern" vieles ungeschrieben, was der Autor an der Front erlebte. Freimütig vertraute er es seinen Notizbüchern an - womit er sich gleich doppelt in Gefahr brachte: In der Roten Armee war es verboten, Tagebuch oder Ähnliches zu schreiben.

    Antony Beevor ordnet das ausgiebig zitierte Originalmaterial in seinen historischen Hintergrund ein. Er kommentiert, wo es nötig ist; er weist zum Beispiel auf abweichende sowjetoffizielle Versionen hin: So notierte Grossman, dass deutsche Panzer Anfang Oktober 1941 keineswegs überraschend in der Stadt Orjol auftauchten: Mehrfach waren die verantwortlichen Militärs auf die heranrollende Gefahr aufmerksam gemacht worden, hatten aber jede Warnung ignoriert.

    Oh, wie ich diese unerschütterliche Ruhe kenne, die von purer Dummheit zeugt, aber unvermittelt in hysterische Furcht und Panik umschlagen kann. Das habe ich alles schon erlebt - in Gomel, Beschiza, Schtschors, Mena, Tschernigow und Gluchow.

    Den schmachvollen Rückzug der Roten Armee und die heillose Flucht von Millionen Menschen in den ersten Kriegsmonaten sah Grossman mit Entsetzen:

    Ein Exodus von biblischen Ausmaßen! Fahrzeuge zu acht nebeneinander, das Motorengeheul dutzender LKWs, die sich gleichzeitig durch den Morast quälen. Riesige Schaf- und Kuhherden werden über die Felder getrieben, quietschende Pferdewagen, tausende Fuhrwerke, die mit Planen, Sperrholz oder Blech verkleidet sind. In Belew fürchterlicher Schmutz und Gedränge. Irgendwer hat die Straßenbeleuchtung eingeschaltet. Soldaten und Kommandeure schießen aus Gewehren und Pistolen auf die Laternen. Hätten sie doch so auf die Deutschen geschossen!

    Im Spätherbst 1942 wendet sich das Blatt, als in Stalingrad die Einkesselung der 6. Armee gelingt. Der sowjetische Triumph leitet den Siegeszug der Roten Armee ein und besiegelt das Ende Hitlerdeutschlands. Wassili Grossman gehört zu den Korrespondenten, die am längsten in der umkämpften Stadt aushalten. Später wird er in "Leben und Schicksal" Stalingrad als Kulminationspunkt der Freiheitshoffnungen sowjetischer Menschen beschreiben: Kämpfend und weitgehend auf sich gestellt, hatten die Verteidiger Stalingrads eine Art schleichender Entstalinisierung vollzogen. Doch mit der Aussicht auf den Sieg zog Stalin die Zügel wieder an: Das "Rezidiv der Repression", wie der russische Kritiker Lazarev es nannte, bekamen zuerst die sowjetischen Juden zu spüren.

    Wassili Grossman, der 1943 durch die befreiten Gebiete der Ukraine gefahren war, konnte seinen Bericht "Ukraine ohne Juden" über die deutschen Massaker an der jüdischen Bevölkerung nicht mehr im "Roten Stern" veröffentlichen. Er erschien im Spätherbst 1943 auf Jiddisch in "Ejnikejt", dem Organ des Jüdischen Antifaschistischen Komitees. In dessen Auftrag und zunächst gemeinsam mit Ilja Ehrenburg arbeitete Grossman an einem "Schwarzbuch" über die Verbrechen an den sowjetischen Juden. Der fertige Satz dieser Dokumentation wurde 1948 vernichtet. Wundersamerweise überlebte das Manuskript und konnte 1980 erstmals in Israel gedruckt werden. In der Sowjetunion ist das "Schwarzbuch" nie erschienen - der jüdischen Opfer der deutschen Okkupation durfte nicht explizit gedacht und die Kollaboration vieler Ukrainer musste verschwiegen werden. Als die Rote Armee im Januar 1944 Grossmans Heimatstadt Berditschew befreite, erhielt der Autor Gewissheit, dass seine Mutter bereits zu Beginn der deutschen Besatzung, im September 1941, mit allen Bewohnern des Ghettos erschossen worden war. Von den 30.000 Juden der Stadt überlebten nur wenige.

    Dieses ungeheuerliche Gemetzel an unschuldigen, hilflosen Menschen hielt den ganzen Tag an. Den ganzen Tag sickerte ihr Blut in die gelbe, lehmige Erde. Es füllte die Gräben, denn der Lehmboden nahm es nicht auf. Schließlich trat es über die Ränder und stand in riesigen Lachen auf dem Feld, floss auseinander und sammelte sich in Bodenwellen. Die Stiefel der Mörder waren von Blut durchtränkt.

    Seiner ermordeten Mutter wird Wassili Grossman viele Jahre später seinen Roman "Leben und Schicksal" widmen. Nach den Erschütterungen von Berditschew zieht er mit der Roten Armee weiter westwärts, nach Polen. Als einer der ersten Berichterstatter betritt Wassili Grossman das Vernichtungslager Majdanek. Im November 44 veröffentlicht die sowjetische Literaturzeitschrift "Znamja" seinen Bericht "Die Hölle von Treblinka", eines der beeindruckendsten literarisch-dokumentarischen Zeugnisse über die deutsche Todesmaschinerie. In den Nürnberger Prozessen zitierte die Anklage aus Grossmans Text, den Antony Beevor in seinem Buch fast vollständig abdruckt.

    Wassili Grossman ging es um die "gnadenlose Wahrheit des Krieges", wie er selbst einmal schrieb. Bei allem Entsetzen angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen, bei allem Stolz auf die siegreiche Rote Armee verschloss er die Augen nicht vor den Gräueltaten, die viele Rotarmisten auf polnischem und deutschem Gebiet verübten. Ihre Alkoholexzesse, das Plündern und Vergewaltigen sah er mit Abscheu. In Schwerin notierte er:

    Eine Deutsche in Schwarz mit totenbleichen Lippen spricht mit kaum hörbarer Stimme. Sie hat ein ganz junges Mädchen bei sich, auf dessen Gesicht und Hals dunkle Blutergüsse zu sehen sind. Dieses Mädchen ist von einem Soldaten aus dem Nachrichtenzug des Generalstabs vergewaltigt worden. Er steht dabei - rotwangig, pausbäckig und schläfrig. Der Kommandant befragt ihn ohne besonderen Nachdruck. Frauenschreie aus offenen Fenstern. Ein Kommandeur der Roten Armee, Jude, dessen Familie die Deutschen umgebracht haben, ist in der Wohnung eines flüchtigen Gestapo-Mannes einquartiert. Solange er da ist, geschieht Frauen und Mädchen nichts. Als er wegfährt, fleht ihn die ganze Familie weinend an zu bleiben.

    Wenig später ist Wassili Grossman in Berlin. Aus der brennenden, zerschossenen deutschen Hauptstadt, die am 2. Mai 1945 kapituliert, stammen seine letzten Frontberichte.

    Grossmans Texte sind authentische und berührende Zeugnisse aus einer Perspektive, die in der deutschen Wahrnehmung des Zweiten Weltkriegs kaum vorkommt: Es ist die der leidenden und kämpfenden Sowjetmenschen, von denen 27 Millionen den von Deutschland verschuldeten Krieg nicht überlebten. Neun Millionen fielen an der Front, fast zweieinhalb Millionen starben in deutscher Kriegsgefangenschaft. Die Ermordung der sowjetischen Juden, die Massaker unter der ukrainischen und belorussischen Zivilbevölkerung, die Belagerung Leningrads, Bomben, Hunger und Vertreibung: Die Liste der deutschen Verbrechen an den Menschen der Sowjetunion ist lang, und Bücher wie dieses können dazu beitragen, dass sie nicht in Vergessenheit geraten.

    Leider müssen aber auch ein paar kritische Anmerkungen gemacht werden: Antony Beevors Buch ist für eine wissenschaftliche Auswertung kaum zu gebrauchen - nicht nur, dass Kommentar und Quellenangaben bunt miteinander vermengt sind, saubere editorische Notizen zu den einzelnen Grossman-Texten fehlen ganz: Man erfährt nichts über die Veröffentlichungsgeschichte eines Texts, man erfährt nicht, ob er aus einem Notizbuch, aus einem gedruckten oder ungedruckten Artikel stammt - was angesichts der sowjetischen Zensur von Belang ist. Etliche Kommentare Beevors zwischen den stilistisch brillanten Grossman-Passagen lassen sprachlich sehr zu wünschen übrig; so manche seiner Überleitungen auf ein neues Thema sind platt und peinlich - auch ein preisgekrönter Bestsellerautor und seine Lektoren dürfen gern etwas mehr Sorgfalt an den Tag legen.

    Brigitte van Kann über "Ein Schriftsteller im Krieg. Wassili Grossman und die Rote Armee 1941-1945". Der Band wird von Antony Beevor unter Mitarbeit von Luba Vionogradova herausgegeben und von Helmut Ettinger aus dem Russischen und Englischen übersetzt. Er ist erschienen im Bertelsmann Verlag in Gütersloh, umfasst 479 Seiten und kostet 24 Euro 95.

    Wassili Grossmans Jahrhundertroman "Leben und Schicksal" ist erschienen im Berliner Claasen Verlag, 1085 Seiten, 24 Euro 90.