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Die göttliche Schnepfe

Die Erzählungen und Romane des mexikanischen Schriftstellers und diesjährigen Cervantes-Preisträgers Sergio Pitol sind im langjährigen und fruchtbaren Dialog mit den Literaturen Europas und Russlands entstanden. Ehe der 1933 in Puebla geborene Pitol in den diplomatischen Dienst seines Landes eintrat und als Kulturattachée oder Botschafter in Prag oder Moskau tätig wurde, hat er sich als Literaturübersetzer einen Namen gemacht und ca. vierzig Romane , darunter Witold Gombrowicz, Henry James und andere Klassiker der Weltliteratur übersetzt.

Von Margrit Klingler-Clavijo | 05.01.2007
    Er hat Italien, Spanien und England bereist und 15 Jahre lang ein ungebundenes, dem Lesen, Übersetzen, Schreiben und Reisen gewidmetes Leben geführt. 1988 ist er nach fast dreißig Jahren im Ausland nach Mexiko zurückgekehrt, hat sich in Jalapa niedergelassen, um sich fortan nur noch der Literatur zu widmen; übrigens ganz in der Nähe der Zuckerrohrplantage seiner Kindheit, wo er nach dem frühen Tod der Eltern mit seiner italienischen Großmutter lebte.. Sie hat den mehrmals an Gelbfieber und anderen Tropenleiden erkrankten Jungen mit Literatur versorgt, so dass Sergio Pitol im Krankenbett mit Jules Vernes Romanen die weite Welt bereist hat. Schreiben sei ein Nebenprodukt seiner leidenschaftlichen Lektüren, hat er unlängst in einem Interview gesagt.

    Bisweilen haben Romane eine lange Inkubationszeit, ehe sich der Autor an die Niederschrift macht. Das gilt auch für eine in den 80er Jahren veröffentlichte Romantrilogie von Sergio Pitol, deren letzter Band Die göttliche Schnepfe nun auch auf deutsch vorliegt. Nach einer schweren Operation musste sich der Schriftsteller, der damals mexikanischer Botschafter in Prag war, in Marienbad auskurieren. Er hatte zwei Bücher dabei, die - das wusste er damals noch nicht - ausschlaggebend für die Entstehung dieser Trilogie sein würden.

    " Ich las damals fast gleichzeitig zwei äußerst unterhaltsame Werke, eins von Michael Bachtin über Humor im Mittelalter, in dem Rabelais allgegenwärtig war. Bachtin ließ sich außerdem lang und breit über Satire und Witz aus und verspottete die Beamten, die Grundbesitzer und die Kirche. (...) Außerdem las ich Gogols Tote Seelen und fühlte mich durch diese Lektüre wie beflügelt; ich machte mir eifrig Notizen und hatte vor, einen ganz und gar unehrerbietigen Roman zu schreiben.. "

    Doch ehe Sergio Pitol dieses Projekt verwirklichte, ist er auf Einladung des Schriftstellerverbandes nach Georgien gereist, wo ihm zu Ehren ein riesiges Festessen veranstaltet wurde.

    "Als ich mich zum Pissoir aufmachte, waren dort viele Menschen, verrichteten das eine oder das andere, redeten über dieses und jenes, vor allem über Fußball und dabei dieser fürchterliche Gestank. Ich machte mich eilig davon, unternahm einen Spaziergang in einem Park und hatte plötzlich die zündende Idee zu dem Roman."

    Die göttliche Schnepfe des Romans ist eine ältere Dame namens Marieta Karrapetiz. Sie hatte in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts mit ihrem Ehemann, einem renommierten Anthropologen ,Südmexiko bereist und sich dabei "wie eine göttliche Schnepfe gefühlt." Sie lebt heute in Istanbul und ist eine in Fachkreisen anerkannte Gogol - Spezialistin, teilt also Pitols Vorliebe für den russischen Schriftsteller.

    " Für mich gehört die russische Literatur zu den außergewöhnlichen Literaturen und Tschechow verehre ich als eine der großen Figuren der russischen Literatur; doch auch Gogol, der so ganz anders ist. Anhand meiner Lektüren, doch auch zu bestimmten Zeiten meines Lebens, habe ich viele eigenartige Gestalten kennen gelernt. Ich habe mit etlichen Exzentrikern gelebt, viele Exzentriker gelesen und meines Erachtens ist Gogol der allergrößte Exzentriker (...) Gogol war neurotisch, exzentrisch in seinem Leben und in seinem Schreiben. In dem Roman Die göttliche Schnepfe habe ich mich ganz direkt und oft auf Gogol bezogen. "

    In diesem Roman will das ebenso ignorante wie arrogante Geschwisterpaar Rodrigo und Ramona Vives der alten Dame, der egozentrischen Marieta Karrapetiz, einen Besuch in Istanbul abstatten. Begleiten soll sie der junge Dante de la Estrella. An einem verregneten Samstagnachmittag erzählt dieser im mexikanischen Kolonialstädtchen Tepoztlán seinen Freunden ein paar Begebenheiten von seiner tragikomischen Reise in die türkische Hauptstadt. Soweit das Handlungsgerüst. Wer bereits die ersten beiden Romane der Trilogie - Eheleben oder Defilee der Liebe - gelesen hat, weiß, dass Pitol kein linearer Erzähler ist und die kunstvolle Verschachtelung der Erzählstränge liebt, mühelos Erzählebenen und Handlungsschauplätze wechselt, nicht mit literarischen Anspielungen geizt und im scheinbar harmlosen Plauderton die Abgründe menschlichen Verhaltens freilegt, mal mit beißendem Spott, mal mit bitterer Ironie; hier als Parodie, als Verbindung von Elementen der hohen Literatur und des orgiastischen Karnevals wie Pitol ihn aus Veracruz kennt und beim eingangs erwähnten Bachtin beschrieben findet. Seine Erzählkunst kommt bei der facettenreichen Romanfigur der Marieta Karapetiz zur vollen Entfaltung, einschließlich gelegentlicher Überzeichnungen. Aus der Sicht des schüchternen Dante de la Estrella ist sie die Verkörperung einer ebenso animalischen wie bedrohlichen Weiblichkeit, eine vulgäre Megäre, die fast noch überzeugender über Scheiße, als über Gogol zu schwadronieren weiß. Kein Wunder, dass

    Dante de la Estrella von "einer Zähmung der göttlichen Schnepfe" absieht, was Pitol - ich zitiere - so beschreibt: "Wie konnte ich es mir anmaßen, eine Frau zu zähmen, die sich zu allem Übel noch als göttliche Schnepfe fühlte, wenn ich mich in jeder neuen Situation gezwungen sah, mit all meinen Anstrengungen bei Null anzufangen? Uns verband keine Geistesverwandtschaft, wir gehörten gegensätzlichen Linien an!" Wer das Aberwitzige und Groteske liebt, die Verspottung des Wohlanständigen, so wie es die mexikanische Mittelklasse gern nach außen hin zur Schau stellt, wer sich an den Karikaturen idiotischen Small Talks zu ergötzen vermag oder literarische Anspielungen und Querverweise goutiert, kommt bei der Lektüre dieses Romans voll und ganz auf seine Kosten, zumal Pitol alles hinwegfegt, was seiner Spottlust im Weg stehen könnte und zu einem Stil findet, den der spanische Schriftsteller Enrique Vila-Matas im Vorwort zu einem 2004 erschienenen Band mit Pitols besten Erzählungen so beschrieb:

    "Pitols Stil besteht darin, vor diesen schrecklichen Menschen zu fliehen, die voller Gewissheit sind. Sein Stil ist das zu entstellen, was anschaut. Sein Stil besteht darin, zu reisen und Länder zu verlieren und dabei stets ein oder zwei Brillen (...) Die Brille verlieren, die Länder verlieren, alles verlieren, nichts haben und immer fremd sein."