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Die grausame Wahrheit des Krieges

In seinem neuen Werk greift Wladimir Makanin, Jahrgang 1937, den Kaukasuskonflikt als Thema auf. In Anknüpfung an Tolstoi geht es dem russischen Schriftsteller nicht um reine faktische Darstellung, sondern um die "Tragödie des Menschen im Krieg überhaupt".

Von Karla Hielscher | 14.07.2011
    Das Kaukasusthema – der nie ganz beendete, immer wieder aufglimmende Krieg der Bergvölker gegen Russlands imperialen Anspruch - ist einer der großen Mythen der klassischen russischen Literatur. Die bedeutendsten Schriftsteller – Puschkin, Lermontow, Tolstoi – haben seit Anfang des 19. Jahrhunderts eine literarische Traditionslinie geschaffen, deren Spuren bis in die Tschetschenienkriege unserer Zeit hineinwirken.

    Wladimir Makanin, Jahrgang 1937, der inzwischen als Klassiker der zeitgenössischen russischen Literatur gilt, hat sich schon in den 90er-Jahren mit seiner formvollendeten, erfolgreich verfilmten Erzählung "Der kaukasische Gefangene" in diese Tradition eingeschrieben.
    Sein jüngster Roman "Benzinkönig", der 2008 den renommierten Preis "Das große Buch" erhielt, greift dieses Thema wiederum auf und gibt ihm eine neue, originelle Wendung. Dabei wird allein schon mit dem Namen der Hauptgestalt, der wie der Held aus Tolstois Erzählung "Der Gefangene im Kaukasus" Schilin heißt, demonstrativ an diese Tradition angeknüpft.

    Makanin hat mehrfach betont, dass es ihm nicht um die Darstellung des Tschetschenienkrieges, sondern um "die Tragödie des Menschen im Krieg überhaupt" geht. Der Schriftsteller selbst hat nämlich keinerlei eigene Kriegserfahrung: Nach Erscheinen des Buches wurde er von einigen Kritikern deshalb verächtlich geschmäht, und Veteranen des Tschetschenienkriegs überboten sich im Internet gegenseitig mit Nachweisen von Fehlern in den geografischen Angaben oder Details des militärischen Alltags.

    Eine derartige Sicht wird dem Roman jedoch keinesfalls gerecht. Es handelt sich eben nicht um faktographische Reportageliteratur, sondern um ein höchst raffiniert konstruiertes literarisches Kunstwerk. Aber gerade dadurch eröffnet das Buch eine ungewöhnliche und überraschende Perspektive auf die grausame Wahrheit des Krieges in unserer Zeit.

    Die Besonderheit liegt in der Hauptgestalt des Buches, Major Alexander Sergejewitsch Schilin, aus dessen Innensicht – mal in direkter Icherzählung, mal in Form der erlebten Rede – fast das gesamte Geschehen dargestellt wird.

    Dieser Major Schilin, Offizier der Russischen Armee, ist der "Benzinkönig", der Leiter eines Treibstofflagers, von dem aus die Truppeneinheiten im ganzen Land – unter dem Schutz von bewaffneten Begleitkolonnen – mit Benzin, dem "Blut des Krieges", versorgt werden.

    Im Laufe dieses schrecklichen Gebirgskrieges, der keine Frontlinie kennt, hat sich Schilin durch seine Tätigkeit eine einflussreiche Machtposition erarbeitet und wird von Russen wie Tschetschenen hoch geachtet. Er gewährleistet nämlich die Sicherheit der Straßen für die Treibstofftransporte, indem er auch an die tschetschenischen Feldkommandanten Benzin verkauft, die dafür dann nach Absprache die russischen Versorgungskolonnen durchlassen. Außerdem hat er sich unter den tschetschenischen Einheimischen ein ganzes Netz von Informanten und Beziehungen aufgebaut. Er verkauft den Bauern, die an wichtigen Transportwegen leben, Diesel für ihre Traktoren oder gibt ihnen Handys, und sie halten ihn dafür über Kampfbewegungen auf dem Laufenden.

    Und erstaunlicherweise funktionieren in diesem Krieg ohne Regeln oder Gesetzmäßigkeiten die Deals mit den Tschetschenen und deren Bezahlung mit Geld äußerst verlässlich. Schilin schafft gleichsam mit seinem einfühlsamen Verhandeln und heiklen Lavieren zwischen den Seiten die Grundvoraussetzungen für marktwirtschaftliche Beziehungen. Dabei betreibt er sein anstrengendes und gefährliches Business durchaus nicht uneigennützig, streicht den Erlös für jedes zehnte Fass Benzin für sich selber ein und freut sich, wenn seine Frau im zärtlichen nächtlichen Telefongespräch von Fortschritten bei ihrem Hausbau an einem großen russischen Fluss berichtet.

    Mit den üblichen Kategorien wäre Major Schilin also als korrupter käuflicher Geschäftemacher oder sogar bestechlicher Kriegsverräter zu bezeichnen. Es zeigt sich aber, dass Schilin ein Mensch mit Gewissen ist, der niemals mit Waffen handelt und seine vielfältigen, durch Geld abgesicherten Beziehungen dazu nützt, in Erdgruben gehaltene Gefangene freizukaufen oder den Aufenthalt von verschleppten Söhnen russischer Soldatenmütter aufzuspüren. Sein Verhalten im Umgang mit den Tschetschenen stellt die herrschenden Vorstellungen von Heldentum infrage und entlarvt die ganze Sinnlosigkeit und Absurdität des Krieges.

    Aber auch ein Mann wie Schilin hat unter den unmenschlichen Kampfbedingungen, die die Menschen traumatisieren und psychisch zerstören, keine Chance. Er kommt auf tragische Weise durch Menschen um, die er liebt.

    Trotz dieser faszinierenden Hauptfigur mit ihrem so anderen Blick auf den Krieg gelingt es Makanin nicht, in dem Hunderte Seiten langen Text die Spannung durchzuhalten. Der Leser muss sich das Geschehen aus dem schwerfällig vor- und zurückfließenden Gedankenstrom des Helden mühsam zusammensetzen, und die ständig sich wiederholenden Szenen des deprimierenden Kriegsalltags wirken bald ermüdend und monoton. Dennoch ist dies ein wichtiges Buch, das wegen seiner originellen Perspektive ernsthafte Beachtung verdient.

    Wladimir Makanin: "Benzinkönig". Roman. Aus dem Russischen von Annelore Nitschke. Luchterhand Literaturverlag München, 2011. 479 Seiten, 22,99 Euro.
    Cover Wladimir Makanin: "Benzinkönig"
    Cover Wladimir Makanin: "Benzinkönig" (Luchterhand Literaturverlag)