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Die Grenzen der Verfassung

Am 10. Juli verhandelt das Bundesverfassungsgericht, ob der Fiskalpakt und der Europäische Stabilitätsmechanismus ESM vorläufig in Kraft treten können. Eine ganze Armada von Klägern ist gegen diese beiden Verträge nach Karlsruhe gezogen.

Von Maximilian Steinbeis | 09.07.2012
    Braucht Deutschland mehr direkte Demokratie? Brauchen wir Volksabstimmungen, um EU-Verträge zu ratifizieren? Brauchen wir womöglich ein ganz neues Grundgesetz?

    Braucht die Europäische Union einen direkt gewählten Kommissionspräsidenten? Braucht das Europaparlament mehr Macht?

    Eben sprachen wir noch über den Euro, über Staatsschulden und wer wofür haftet. Wir sprachen über Geld. Jetzt sprechen wir über die Verfassung. Aus der Schulden- und Eurokrise ist eine Verfassungskrise geworden, eine Krise der fundamentalen Grundlagen unseres politischen Zusammenlebens - und zwar auf der nationalen wie auf der europäischen Ebene. Wie ist das passiert? Wie sind wir da hineingeraten? Und wie kommen wir wieder heraus? Selbst Bundespräsident Joachim Gauck hat mehr Fragen als Antworten. Er forderte die Kanzlerin auf, ihre Europolitik besser zu erklären.

    Morgen verhandelt das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, ob die beiden zentralen Instrumente zur Bekämpfung der Eurokrise, der Fiskalpakt und der Europäische Stabilitätsmechanismus ESM, vorläufig in Kraft treten können. Der ESM soll künftig mit Krediten in Not geratene Mitgliedsstaaten der Eurozone vor der Pleite bewahren, der Fiskalpakt im Gegenzug verhindern, dass sie allzu hemmungslos Schulden anhäufen.

    Eine ganze Phalanx von Klägern ist gegen diese beiden Verträge nach Karlsruhe gezogen. Sie sehen die Rechte des deutschen Volkes und seiner Vertreter im Bundestag gefährdet, selbst zu kontrollieren, was der deutsche Staat wofür ausgibt. Sie stützen sich dabei auf eine Kette von spektakulären Urteilen, in der das Bundesverfassungsgericht in den vergangenen 20 Jahren der Europapolitik immer wieder Grenzen gezogen hat, angefangen mit dem Urteil zum Maastricht-Vertrag 1993. Im Kern ging es dabei stets um eins der höchsten Güter der demokratischen Verfassung Deutschlands: das Recht des deutschen Volkes, über seine eigenen Angelegenheiten selbst zu entscheiden. Dieses Recht dürfe auf dem Weg ins vereinte Europa nicht preisgegeben werden, wie das Gericht in seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon 2009 betonte:

    "Das Grundgesetz ermächtigt die für Deutschland handelnden Organe nicht, durch einen Eintritt in einen Bundesstaat das Selbstbestimmungsrecht des Deutschen Volkes in Gestalt der völkerrechtlichen Souveränität Deutschlands aufzugeben. Dieser Schritt ist wegen der mit ihm verbundenen unwiderruflichen Souveränitätsübertragung auf ein neues Legitimationssubjekt allein dem unmittelbar erklärten Willen des Deutschen Volkes vorbehalten."

    Was heißt das konkret? Wo genau verläuft diese rote Linie? Wo ist die Grenze zwischen europäischer Integration einerseits und dem Demokratieprinzip andererseits? Wenn jemand diese Fragen beantworten kann, dann Udo Di Fabio. Der Bonner Staatsrechtsprofessor war Richter im Zweiten Senat des Verfassungsgerichts. Bevor er im vergangenen Jahr aus dem Amt schied, war er für europapolitische Verfahren zuständig und hat auch das Lissabon-Urteil mitverfasst.

    "Denken wir jetzt an die aktuellere und ja auch zurzeit umstrittene Politik der Stabilisierung des Euro-Währungsraumes. Hier hat das Bundesverfassungsgericht noch im letzten Jahr recht deutlich gesagt, dass die Bundesrepublik Deutschland sich keinen Automatismen unterwerfen darf, die über Einnahmen und Ausgaben faktisch ohne Zutun des deutschen Bundestages entscheiden würden."

    Denn über den Bundestag bestimmt das deutsche Volk, wofür der deutsche Staat sein Geld ausgibt. Wenn er das nicht mehr kann, etwa weil ihm die vertraglichen Verpflichtungen Deutschlands gar keinen Handlungsspielraum mehr lassen, dann wäre die rote Linie überschritten. Das gleiche gilt, wenn die Haftungssumme so groß ist, dass Deutschland im Falle ihres Eintretens selbst pleite wäre.

    "Wenn man ein solches Gedankenspiel mal bei zwei Billionen Euro machen würde, dann würde man schnell sehen: Bei zwei Billionen, wenn der Bund versuchen würde, eine solche Summe über Bundesanleihen zu refinanzieren, dann würde er schnell Probleme haben, vielleicht sogar Probleme, wie sie Griechenland kennt."

    Der Fiskalpakt wiederum soll dafür sorgen, dass die EU-Kommission künftig darüber wacht, dass die Mitgliedsstaaten solide haushalten.

    "Dem Grunde nach entsteht kein Problem, wenn Staaten sich zu bestimmten Pflichten vertraglich bekannt haben wie die Stabilitätskriterien, die wir seit dem Maastrichter Unionsvertrag kennen, wenn die nicht eingehalten werden, dass man sich dann einer Sanktionsordnung unterwirft. Dadurch wird im Grunde genommen nicht über die Freiheit disponiert. Wer sich vertraglich bindet, der muss irgendwann, wenn er den Pflichten nicht nachkommt, auch mit dem Gerichtsvollzieher rechnen."

    Für Ex-Verfassungsrichter Di Fabio kommt es dabei vor allem darauf an, was dieser Gerichtsvollzieher – konkret: die EU-Kommission – alles tun darf:

    "Wenn etwa ein europäischer Kommissar in den Haushalt hineinregieren würde und sagen würde, also, die Ausgaben für die Rentenversicherung sind in Deutschland zu hoch und die müssen gekürzt werden, dann wäre wiederum das Budgetrecht im Kern getroffen."

    Aber nicht nur auf nationaler, auch auf europäischer Ebene würden die Verfassungsgrundlagen in Bewegung geraten, wenn die EU sich zu einer Gemeinschaft wandelt, in der den Mitgliedsstaaten und ihren Bürgern fiskalische Solidarität mit ihren europäischen Nachbarn abverlangt wird. Christoph Möllers, Verfassungsjurist und Rechtsphilosoph aus Berlin, erklärt, warum:

    "In föderalen Gebilden sind ja wahrscheinlich doch Transferfragen auch immer Identitätsfragen. Ich denke, es ist klar, dass man die Frage, wer man ist, zu welcher Gemeinschaft man gehört, zu welcher politischen, in Zeiten, in denen man vielleicht nicht mehr unbedingt das mit Krieg assoziiert, man das wahrscheinlich am ehesten tatsächlich noch mit dem Transfer von Leistungen, mit Solidarität identifiziert und die Frage, inwieweit man jemandem etwas abgibt, der zur eigenen Gemeinschaft gehört, natürlich auch immer die Frage aufwirft, was die eigene Gemeinschaft ist und inwieweit das, was man jemand anders gibt, man auch sich selbst gibt oder eben nicht."

    Das bleibt in Zeiten, wo die EU-Staaten Milliarden in die Hand nehmen, um sich wechselseitig vor der Pleite zu bewahren, nicht folgenlos:

    "Es ist ja klar, dass wir hier über Mittel reden, die in der Größenordnung von wesentlichen Teilen eines Bundeshaushaltes sind",

    sagt Möllers, der den Bundestag als Bevollmächtigter in der morgigen Verhandlung vor dem Verfassungsgericht vertreten wird.

    "Es geht wirklich darum, dass wir hier etwas investieren, was wir normalerweise im Ganzen für uns investieren. Und wenn wir das tun, dann heißt das in gewisser Weise auch, dass wir nolens volens auf einmal zu einer anderen Form von Gemeinschaft gehören und deswegen auch die politische Frage stellen müssen, wie wir so eine Gemeinschaft organisieren."

    Mit anderen Worten: Eine EU, in der tatsächlich der eine des anderen fiskalische Last trägt, ob Deutscher oder Portugiese, ob Finne oder Zypriot – eine solche EU kann nicht auf die gleiche Weise regiert werden wie die bisherige EU. Die Umverteilungsfragen, die sich dann stellen, verlangen nach echten demokratischen Institutionen. Das EU-Parlament müsste sich zu einem Ort entwickeln, in dem über die Verteilung der Mittel und die politische Richtung gestritten und entschieden wird. Die Kommission müsste, wenn sie die Haushaltsführung der Mitgliedsstaaten, wie im Fiskalpakt vorgesehen, überwacht und kontrolliert, mit einer eigenen robusten Legitimation ausgestattet sein.

    Der Jurist Mattias Kumm, der in New York und Berlin zum Europa- und Verfassungsrecht forscht, nennt noch einen weiteren Aspekt, warum die Eurokrise demokratischen Handlungsbedarf in der EU aufwirft:

    "Normalerweise sind wir es gewohnt, wenn wir Streit haben und wirklich Orientierungslosigkeit vorherrscht, dass verschiedene Parteien verschiedene Angebote präsentieren und wir dann in einem halbwegs demokratischen Verfahren darüber bestimmen, was wir unter den Umständen für vorzugswürdig halten. Was charakteristisch ist für die Art und Weise, wie die Krise hier gelöst werden soll, ist, dass wir nachts irgendwelche Treffen in Brüssel haben, und dann kommen irgendwelche Vorschläge, die entweder vernünftig oder weniger vernünftig sind, je nachdem, wen Sie fragen, aber auf jeden Fall scheinen sie ohne Alternative zu sein."

    Und diese Treffen auf höchster Ebene finden meist hinter verschlossenen Türen statt.

    "Es gibt also keinerlei Möglichkeiten, institutionell Bürger in eine Situation zu bringen, dass sie mit Alternativen konfrontiert sind, über die sie irgendwie ein eigenständiges Urteil bilden können und dann irgendwann in Wahlen ihre Antwort geben können, ob sie die Resultate für plausibel halten oder nicht."

    Je mehr allerdings die Europäische Union zu einer solchen demokratisch legitimierten Solidargemeinschaft würde, desto größere Probleme entstünden wiederum auf nationaler Seite. Denn dann würde sich die Frage stellen, ob ein "europäischer Bundesstaat" entstanden ist - den nach Meinung des Bundesverfassungsgerichts das Grundgesetz eben nicht zulässt. Beantworten kann diese Frage nur das Bundesverfassungsgericht selbst. Bisher hat es das noch nie getan. Stets fanden die acht Richterinnen und Richter des Zweiten Senats einen Weg, auch auf andere Weise die Korrekturen, die sie für nötig hielten, zu erreichen – etwa indem sie forderten, den Bundestag enger in das Entscheidungsverfahren einzubinden. Kann das Gericht das noch lange durchhalten, ohne seine Glaubwürdigkeit zu beschädigen? Mattias Kumm, Verfassungsrechtsprofessor aus New York und Berlin, sieht die Gefahr:

    "Das Bundesverfassungsgericht hat immer wieder Linien in den Sand gezogen und gesagt, so weit, aber weiter nicht. Die Linien waren meistens relativ abstrakt formuliert, so dass man immer wieder sagen konnte, naja, wir sind jetzt wieder ein Stückchen näher dran, aber sie sind noch nicht überschritten worden. Aber die meisten glauben, dass wir jetzt in einer Situation sind, dass, wenn das Bundesverfassungsgericht das auch in Hinblick auf den Fiskalpakt und den ESM sagen würde, dass es dann irgendwann seine Glaubwürdigkeit verlieren würde."

    Und was, wenn das Gericht nun tatsächlich zu dem Schluss kommt, dass die rote Linie überschritten ist? Es wäre nicht irgendein Verfassungsverstoß. Auf dem Spiel steht das Demokratieprinzip, und das gehört zu den grundlegenden Prinzipien des Grundgesetzes. Es ist geschützt durch die "Ewigkeitsklausel" der Verfassung: Danach können diese Prinzipien nicht, wie der sonstige Text des Grundgesetzes, mit Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat geändert werden. Sie sind unantastbar – jedenfalls so lange es das Grundgesetz gibt.

    Nun gibt es allerdings für das Grundgesetz selbst keine Ewigkeitsgarantie. Immerhin sieht es in Artikel 146 seine eigene Abschaffung vor: Es verliert seine Kraft in dem Moment, in dem das deutsche Volk sich eine neue Verfassung gibt. Aber muss das tatsächlich eine vollständig neue Verfassung sein? Aber wäre diese Klausel nicht auch so zu verstehen, dass man die europapolitisch nötigen Verfassungsänderungen in den ansonsten unveränderten Text des Grundgesetzes hineinschreibt – und diesen dem Volk zur Abstimmung vorlegt?

    Das scheint zwar trickreich, aber konsequent: Den Weg in ein Europa, in dem der Bundestag die Kontrolle über die deutschen Staatsausgaben abgegeben hat, kann laut Lissabon-Urteil nur die verfassungsgebende Gewalt beschreiten, also das deutsche Volk. Wer so etwas will, kann das somit durchaus tun – nur muss er vorher das Volk befragen. Einige prominente Mitglieder des Zweiten Senats, etwa der für Europarecht zuständige Richter Peter M. Huber, haben in Interviews erkennen lassen, dass sie diese Lesart für sympathisch halten.

    Die Idee leuchtet allerdings nicht jedem ein. Für den Berliner Verfassungsrechtsprofessor Christoph Möllers gibt das Grundgesetz einen solchen Weg, das deutsche Volk per Referendum zum Entscheider in Europasachen zu machen, nicht her. Schon der Glaube, dass damit mehr Demokratie zu erreichen sei, sei jedenfalls nicht der Standpunkt des Grundgesetzes.

    "Das Grundgesetz war immer eine Verfassung, die sehr großen Wert auf repräsentative Demokratie gelegt hat und eigentlich plebiszitäre Elemente immer sehr kurz gehalten hat. Vielleicht zu kurz, das kann ja sein, darüber kann man sicherlich reden, aber jetzt zu sagen, die Volksabstimmung ist einfach viel demokratischer als eine mit Zweidrittelmehrheit beschlossene Entscheidung, wäre ungewöhnlich."

    Das Volk als verfassungsgebende Gewalt, so Möllers, könne sich natürlich ein neues Grundgesetz geben, wenn es das wolle. Aber das sei dann ein revolutionärer, rein politischer Vorgang, der nicht mehr durch Recht und Verfassung steuerbar sei. Ein Referendum, bei dem in einem geordneten Verfahren die Regierung dem Volk eine Frage vorlegt, habe mit verfassungsgebender Gewalt überhaupt nichts zu tun. Schon gar nicht, wenn eine solche Volksabstimmung ausgerechnet vom Bundesverfassungsgericht angestoßen würde.

    "Es gibt kein Verfassungsorgan, das so weit von der verfassungsgebenden Gewalt, die eine rohe, reine, politische Gewalt ist, entfernt ist und entfernt sein sollte wie das Gericht."

    Zumal die Idee, ein scheinbar neues, faktisch aber weitgehend wortgleiches Grundgesetz dem Volk zur Abstimmung vorzulegen, um die Hürde des Demokratieprinzips zu überwinden, dann auch solchen Politikern zur Verfügung stünde, die ganz andere Werte in Frage stellen – fundamentale Werte, die der Verfassungsgeber ebenfalls durch die Ewigkeitsklausel geschützt hat:

    "Warum stimmen wir dann nicht auch über die Menschenwürde ab? Was ist dann der Unterschied? Nur dass das Gericht das für zulässig erklärt hat?"

    Die Ewigkeitsklausel, sagt Christoph Möllers, verbiete es, fundamentale Prinzipien wie Menschenwürde und Demokratie anzutasten. Ein quasi verschärftes Verfahren, diese Prinzipien mittels Volksabstimmung doch überwinden zu können, lasse sich aus ihr bestimmt nicht ableiten.

    "Es wäre dann jedenfalls keine Ewigkeitsklausel mehr. Das kann man, glaube ich, sagen."

    Aber gibt es noch andere Möglichkeiten, die demokratische Selbstbestimmung der Deutschen zu schützen, ohne dabei die europäische Integration zu blockieren? Die gibt es durchaus, sagt der Jurist Mattias Kumm.

    "Die Idee, dass das Verfassungsgericht eine konstruktive Rolle spielen könnte, um stärker demokratische Prozesse anregen zu können im Kontext der europäischen Integration, ist eine, die im Grunde genommen nicht unplausibel ist."

    Das Gericht als Mahner demokratischer Willensbildung.

    "Aber der Ansatz wäre wiederum, dort nicht einfach nur auf die nationale Ebene zu schielen und etwa zu erwägen, ob nicht vielleicht ein Akt des pouvoir constituant erforderlich wäre, ein Referendum in irgendeiner Form würde das dann praktisch sein, sondern eben auch zu erwägen, dass es verfassungsrechtlich geboten sein könnte, den europäischen Prozess stärker zu politisieren. Und da gibt es meines Erachtens Ansatzpunkte, auf die das Verfassungsgericht hinweisen könnte. Und wenn es das tun würde, könnte es möglicherweise seinen Status gleichsam als Praeceptor Europeae in demokratischen Angelegenheiten weiter verteidigen, wenn auch mit ganz anderer Ausrichtung."

    Von Demokratie, auch auf europäischer Ebene, ist nämlich im Grundgesetz durchaus die Rede - im Europa-Artikel 23. Der verpflichtet die Bundesrepublik, an der Entwicklung einer EU mitzuwirken, die "demokratischen Grundsätzen verpflichtet ist".

    "Man kann argumentieren, dass es in Hinblick auf das Demokratieprinzip auf europäischer Ebene durchaus Ansatzmöglichkeiten gibt, gerade im Zusammenhang mit dem europäischen Parlament, dass die aber noch nicht im gebotenen Maße entwickelt sind. Und dass entsprechend die Verpflichtung seitens der deutschen Staatsorgane und der Regierung (...) bestünde, dem (....) Parlament ein größeres Gewicht im demokratischen Prozess zukommen zu lassen. Und ganz praktisch könnte das dadurch geschehen, dass wir auf europäischer Ebene einen europäischen Präsidenten hätten, von dem es klar wäre, das er das Ergebnis wäre der (...) Wahlen zum Europaparlament."

    Bei den nächsten Europawahlen werden die europäischen Parteien voraussichtlich erstmals Spitzenkandidaten ins Rennen schicken, die in der ganzen EU um Stimmen werben.

    Das Verfassungsgericht könnte das zum Anlass nehmen, so Mattias Kumm, die Bundesregierung an ihre Pflicht zu erinnern, die Demokratie in der EU zu befördern – und zwar dadurch, dass sie dafür sorgt, dass der Sieger der nächsten Europawahl zum nächsten Kommissionspräsidenten gewählt wird. In ihrer Entscheidung könnten die Karlsruher Richter etwa die Bundesregierung dazu verpflichten, ihren Einfluss im Europäischen Rat in diesem Sinne geltend zu machen.

    Ein solcher gewählter Kommissionspräsident würde zum einen der Kommission einen demokratischen Legitimations-Boost verschaffen – den sie dringend braucht, zumal sie künftig die Haushaltsführung der Mitgliedsstaaten überwachen soll. Zum anderen würde das auch den Charakter der Europawahlen völlig verändern.

    "Also, die Idee wäre, dass wenn wir Europawahlen haben, dass es da tatsächlich um etwas ginge",

    sagt Juraprofessor Kumm. Die Spitzenkandidaten würden im Wahlkampf für ihre Ideen werben – und die Wähler hätten Alternativen zur Verfügung, aus denen sie je nach Präferenz tatsächlich wählen könnten.

    "Man kann sich vorstellen einen sozialdemokratischen Kandidaten, der zum Beispiel mehr auf Eurobonds, Solidarität und dergleichen pocht. Und wir können uns vorstellen einen Kandidaten der Europäischen Volkspartei, der vielleicht eher die Tugenden von Selbstverantwortung und Austerität vertreten würde."

    Ob tatsächlich das Bundesverfassungsgericht diesen Pfad einschlagen wird? Mehr als unwahrscheinlich. Viel wahrscheinlicher ist, dass das Gericht die ungeheuren Erwartungen weder erfüllen will noch kann. Denn, so sagt auch Ex-Verfassungsrichter Udo Di Fabio, ein Gericht ist am Ende doch nur ein Gericht:

    "Auch heute trauen viele Bürger dem parteipolitischen Prozess nicht so richtig und hoffen auf Richter, die es richten. Das ist mit Verlaub manchmal auch eine übertriebene Erwartung; dafür sind Gerichte nicht da - noch nicht einmal so ein starkes Gericht wie das Verfassungsgericht."