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"Die größte aller Revolutionen"

Die deutsche November-Revolution von 1918, die im Vergleich zu den Umbrüchen in anderen Ländern dieser Zeit recht unblutig verlief, gehört zu den zu den umstrittensten Ereignissen der neueren deutschen Geschichte.

Von Robert Gerwarth | 15.08.2010
    Am 10. November 1918, einen Tag nach dem Untergang des Deutschen Kaiserreichs und der Geburt der ersten deutschen Demokratie aus Kriegsniederlage und Revolution, veröffentlichte der prominente Chefredakteur des liberalen Berliner Tageblatts, Theodor Wolff, eine Lobeshymne auf die Ereignisse des Vortages:

    "Die größte aller Revolutionen hat wie ein plötzlich losbrechender Sturmwind das kaiserliche Regime mit allem, was oben und unten dazu gehörte, gestürzt. Man kann sie die größte aller Revolutionen nennen, weil niemals eine so fest gebaute, mit soliden Mauern umgebene Bastille so in einem Anlauf genommen wurde ... Gestern früh war, in Berlin wenigstens, das alles noch da. Gestern Nachmittag existierte nichts mehr davon."

    Wolffs enthusiastische Einschätzung der Novemberereignisse in Deutschland ist seither von wenigen Kommentatoren geteilt worden. Auch unter Historikern gehört die deutsche Revolution von 1918/19 bis heute zu den umstrittensten Ereignissen der neueren deutschen Geschichte. Gestritten wird über die Revolution vor allem deshalb, weil ihr wichtigstes Ergebnis, die parlamentarische Demokratie, keinen dauerhaften Bestand hatte und 1933 der Diktatur Hitlers wich. Das Scheitern der Weimarer Republik hat seither die Frage aufgeworfen, ob seine tieferen Ursachen in der Entstehungsgeschichte der ersten deutschen Demokratie zu lokalisieren sind und die Deutschen 1918 nicht zu wenig Revolution gewagt hätten.

    Bemerkenswert ist allerdings, dass in der Diskussion über den historischen Standort der deutschen Revolution nur selten der europäische Rahmen Erwähnung findet, in dem sich die Ereignisse von 1918 abspielten. Denn die deutsche Revolution war lediglich eine unter vielen Erhebungen zwischen 1916 und 1923 und, im internationalen Vergleich, die vielleicht unblutigste. Bereits zu Ostern 1916 hatte sich die IRA in Dublin zum revolutionären Aufstand gegen die britische Besatzungsmacht erhoben. Ein Jahr später stürzte die Romanow-Dynastie in Russland, einem Land, das in den folgenden Jahren den wohl blutigsten Bürgerkrieg der Weltgeschichte erlebte. Im benachbarten Finnland tobte ab Januar 1918 ebenfalls ein Bürgerkrieg, dem ZehnTausende von Menschen zum Opfer fielen.

    Auch in Deutschlands unmittelbarer Nachbarschaft brachten revolutionäre Bewegungen alteingesessene Regime zu Fall: Bereits Ende Oktober war die jahrhundertealte Habsburger-Monarchie zusammengebrochen, in Wien übernahm der Sozialist Karl Renner die Kanzlerschaft, in Budapest strebte Béla Kun die Errichtung einer sozialistischen Republik nach sowjetischem Vorbild an. Selbst im zusammengebrochenen Osmanischen Reich schickte sich eine nationalrevolutionäre Bewegung unter Kemal Atatürk an, die politische Macht zu übernehmen. Politische Gewalt war in der sogenannten "Nachkriegszeit" die europäische Norm, Frieden die seltene Ausnahme. All diesen revolutionären Bewegungen war gemein, dass sie ohne den Ersten Weltkrieg wohl niemals zum Tragen gekommen wären. Wichtiger noch als der Krieg war die Erfahrung der militärischen Niederlage, denn nur in den Staaten, die zu den Verlierern des Ersten Weltkriegs gehörten, war der Staat so geschwächt, dass er den Herausforderungen sozialer und politischer Unruhen nicht begegnen konnte.

    Die Ereignisse in Deutschland fügen sich daher in ein breiteres europäisches Muster. Nach dem Scheitern der zunächst glücklich verlaufenen deutschen Sommeroffensive von 1918 musste die Oberste Heeresleitung unter Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff einsehen, dass der Krieg verloren war. Sie drängte auf einen sofortigen Waffenstillstand auf der Grundlage der im Januar 1918 vom amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson proklamierten "14 Punkte" und, damit verbunden, auf die Bildung einer vom Vertrauen der Reichstagsmehrheit abhängigen Regierung. Grundgedanke dieser im Oktober eingeleiteten Wende war, dass die Reform "von oben" einer Revolution "von unten" zuvorkommen sollte. Die rasch um sich greifende Revolutionsfurcht der wilhelminischen Führungsschichten ist ohne den europäischen Kontext schwer nachzuvollziehen.

    Es waren die Ereignisse in Russland und die sich abzeichnenden Revolutionen im Habsburgerreich, die ihnen deutlich machten, dass nur eine radikale politische Kehrtwende einer Eskalation vorbeugen konnte. Doch die innenpolitische Wende kam in Deutschland wie anderswo zu spät. In Kiel meuterten die Matrosen der Hochseeflotte, in München übernahm der unabhängige Sozialdemokrat Kurt Eisner die Macht, und in Berlin sahen die Spartakisten ihre Stunde gekommen und riefen zum Generalstreik auf.

    Es war kein Zufall, dass der revolutionäre Funke auf den Schiffen der kaiserlichen Marine zündete. Als die Marineführung Ende Oktober 1918 den Befehl gab, die Flotte zu einem letzten Gefecht gegen England auslaufen zu lassen, verweigerten die Matrosen den Gehorsam. Sie hatten keine Lust, sich kurz vor Kriegsende für eine sinnlose Todesfahrt opfern zu lassen. Von Kiel aus griff die Bewegung weitgehend ohne Gegenwehr auf Hamburg, Bremen, Lübeck und Cuxhaven über. Hier lag eine der Besonderheiten der deutschen Revolution, die anders als in Russland, Ungarn oder Irland nicht im Zentrum der Macht ihren Ursprung nahm, sondern an der Peripherie.

    Erst zwei Tage später, am 9. November, erreichte die Revolution Berlin. In den Morgenstunden traten die Arbeiter der Großbetriebe in den Generalstreik; die Soldaten in den Garnisonen solidarisierten sich mit ihnen. Von den Außenbezirken bewegten sich lange Demonstrationszüge zum Regierungsviertel in der Wilhelmstraße, wie der Berliner Fabrikant Oskar Münsterberg in seinem Tagebuch beschrieb:

    "Als ich die Wilhelmstraße ... hinunter gehe, sehe ich schwarze Menschenreihen stehen ... Es ist wirkliche Revolution, aber merkwürdig - die großen weltbewegenden Gedanken und Ergebnisse und diese Jungens, Kinder mit roten, erhitzten Gesichtern mit unsympathischem Ausdruck, die eher an Ritter- und Räuberspiele erinnern als an die Träger der weltbewegenden Revolutionskraft."

    Wilhelm II. war zu diesem Zeitpunkt nur noch ein Zaungast der Ereignisse. Seit Tagen hatte der Reichskanzler, Prinz Max von Baden, vergeblich versucht, den im Hauptquartier der Obersten Heeresleitung im belgischen Spa weilenden Kaiser zur Abdankung zu bewegen. Doch Wilhelm zögerte die Entscheidung immer weiter hinaus. Am 9. November blieben ihm nur noch drei Optionen:

    Er konnte entweder den "Heldentod" an der Westfront suchen und damit die Hohenzollern-Dynastie in den Augen deutscher Nationalisten aufwerten oder an der Spitze kaisertreuer Verbände nach Berlin marschieren und versuchen, die Revolution im Keime zu ersticken. Die dritte Option war, sich der Verantwortung ganz zu entziehen und ins neutrale Ausland zu flüchten.

    Nachdem vier Monate zuvor der Cousin des Kaisers, der russische Zar Nikolaus II., von den Bolschewiki ermordet worden war und Wilhelm befürchten musste, dass ihm Ähnliches drohte, wählte er die für die Hohenzollern-Dynastie verheerende dritte Option: Er floh. Am Morgen des 10. November überquerte er mit seiner Entourage die holländische Grenze. Die Hoheitszeichen auf seinem Auto hatte man zuvor entfernt – aus Furcht vor marodierenden Revolutionären.

    Gegen Mittag des 9. November hatte Max von Baden eigenmächtig die Nachricht verbreiten lassen, dass der Kaiser dem Thron entsagt habe. Kurze Zeit später übertrug er dem Vorsitzenden des Mehrheitsflügels der Sozialdemokratie, Friedrich Ebert, die Reichskanzlerschaft. Um 2 Uhr nachmittags – Ebert und Scheidemann waren gerade beim Mittagessen im Reichstagsgebäude – verlangte eine Menschenmenge vor dem Parlamentssitz den demonstrativen Bruch mit dem alten System. Scheidemann trat spontan auf einen Balkon des Reichstags und rief die "deutsche Republik" aus:

    "Das deutsche Volk hat auf der ganzen Linie gesiegt. Das Alte, Morsche ist zusammengebrochen; der Militarismus ist erledigt! Die Hohenzollern haben abgedankt!"

    Der Beifall der Menge war groß, doch Ebert war von Scheidemanns Alleingang überhaupt nicht begeistert. Seine Position war durch die Überzeugung geprägt, dass das wilhelminische Kaiserreich ungeachtet aller obrigkeitsstaatlichen Züge der Arbeiterschaft eine Reihe an Freiheiten bot: das Recht auf politische Organisation und Partizipation, ein im europäischen Vergleich einzigartiges soziales Sicherungssystem und einen Rechtsstaat, dessen Errungenschaften selbst in Großbritannien mit Interesse studiert wurden. Im Falle eines Bürgerkrieges – und diese Gefahr war im Spätherbst 1918 keineswegs abwegig – hätten deutsche Arbeiter, anders als im zaristischen Russland, mehr zu verlieren gehabt als nur ihre Ketten.

    Was Ebert deshalb vorschwebte, war eine organische Fortentwicklung zur parlamentarischen Demokratie, eine Politik der Evolution, nicht der Revolution. Doch dafür war es jetzt zu spät. Während Ebert die Proklamation Scheidemanns zu weit ging, hielten sie radikalere Sozialisten für halbherzig. Ein Teil der revoltierenden Arbeiter und Soldaten strebte im November 1918 ein Rätesystem nach bolschewistischem Vorbild an, eine "Diktatur des Proletariats".

    Nur zwei Stunden später proklamierte deshalb der Führer des linken Flügels der Unabhängigen Sozialdemokraten, Karl Liebknecht, vom Balkon des Berliner Stadtschlosses aus die "freie sozialistische Republik Deutschland". Liebknecht, der 1914 als einziger SPD-Abgeordneter die Kriegskredite abgelehnt hatte und zwischen 1916 und Ende Oktober 1918 wegen "Kriegsverrats" im Gefängnis einsitzen musste, zeigte sich freudig überrascht über die jüngsten Ereignisse:

    "Die Herrschaft des Kapitalismus, der Europa in ein Leichenschauhaus verwandelt hat, ist gebrochen"."

    Dann aber machte Liebknecht deutlich, dass das eigentliche Werk der revolutionären Umwälzung, die soziale Revolution nach russischem Vorbild, noch bevorstand:

    ""Wir müssen alle Kräfte anspannen, um die Regierung der Arbeiter und Soldaten aufzubauen und eine neue staatliche Ordnung des Proletariats zu schaffen, eine Ordnung des Friedens, des Glücks und der Freiheit unserer deutschen Brüder und unserer Brüder in der ganzen Welt. Wir reichen ihnen die Hände und rufen sie zur Vollendung der Weltrevolution auf."

    Liebknechts Rede barg enormen Sprengstoff für das ohnehin angespannte Verhältnis zwischen den beiden deutschen Arbeiterparteien: den Mehrheitssozialdemokraten, die bis zum bitteren Ende 1918 im Reichstag der kaiserlichen Regierung Kriegskredite bewilligt hatte, und der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei, kurz USPD genannt, die sich im Frühjahr 1917 aus Opposition gegen diese Politik von der Mutterpartei getrennt hatte.

    Um die Spannungen zwischen den beiden Flügeln der deutschen Arbeiterbewegung nicht in einen gewaltsamen "Bruderkampf" eskalieren zu lassen und um jeden Preis zu verhindern, dass sich in Deutschland Zustände entwickelten wie in Russland nach der Revolution der Bolschewiki im November 1917, schlug Ebert noch am Nachmittag des 9. November den Vertretern der USPD vor, gemeinsam eine Regierung zu bilden.

    Nach der Bildung des Rates der Volksbeauftragten trat eine gewisse Beruhigung ein. Doch die brennende Frage der zukünftigen Richtung der revolutionären Erneuerung Deutschlands war durch die Gründung des Rates der Volksbeauftragten lediglich vertagt worden. Anders als der linke Flügel der USPD wollten sich die Führer der Mehrheitssozialdemokratie nicht auf radikalsozialistische Experimente einlassen. Die Herausforderungen waren enorm:

    Das Deutsche Reich hatte soeben den bis dahin blutigsten Krieg der Menschheitsgeschichte verloren, einen Krieg in dem mehr als 13 Millionen deutsche Männer mobilisiert und zwei Millionen gefallen waren. Abgesehen von der Entwertung ganzer Biografien durch die militärische Niederlage gab es bei Kriegsende etwa 2,7 Millionen physisch und psychisch versehrte Veteranen und nur wenige Politiker waren naiv genug um anzunehmen, dass der noch zu verhandelnde Friedensvertrag ein Verständigungsfrieden ohne finanzielle und territoriale Forderungen der Alliierten sein würde. Anders als die Bewältigung dieser enormen Tagesprobleme sollte die langfristige Frage der gesellschaftlichen und politischen Zukunft Deutschlands von einer demokratisch gewählten verfassunggebenden Nationalversammlung entschieden werden.

    Die Vertreter des linken USPD-Flügels und die sogenannte "Spartakusgruppe" um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht lehnten dagegen die Nationalversammlung ab und sprachen sich für ein Rätesystem aus. Unter der Parole "Alle Macht den Räten!" entfaltete die Spartakusgruppe eine rege Agitation für das Weitertreiben der Revolution. Rosa Luxemburg schrieb am 18. November, weniger als zwei Wochen nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis in Breslau, in der Roten Fahne:

    "Scheidemann-Ebert sind die berufene Regierung der deutschen Revolution in ihrem heutigen Stadium. Aber die Revolutionen stehen nicht still. Ihr Lebensgesetz ist rasches Vorwärtsschreiten, über sich selbst Hinauswachsen."

    Auch wenn die reale Machtbasis der "Spartakusgruppe" klein war, zeigte das Beispiel der russischen Revolution doch sehr anschaulich, dass es keiner Massenbewegung bedurfte, um die Regierung zu übernehmen. Ebert hatte vor Augen, wie die Minderheit der Bolschewiki in Russland im Herbst 1917 das Parlament verjagt und das Land in einen verheerenden Bürgerkrieg gestürzt hatte. Entsprechend wollte er die Radikalen um Luxemburg und Liebknecht unbedingt von der Macht fernhalten.

    Wie angespannt das Verhältnis zwischen den Flügeln der Arbeiterbewegung mittlerweile war, sollte sich in den Weihnachtstagen zeigen, als ein seit Längerem schwelender Konflikt zwischen der nach links tendierenden Volksmarinedivision und dem Berliner Stadtkommandanten und MSPD-Politiker Otto Wels eskalierte. Wels bestand auf einer starken Verkleinerung der Division und hielt als Faustpfand den Lohn der Soldaten zurück. Am 23. Dezember besetzten daraufhin rebellierende Matrosen vorübergehend die Reichskanzlei und nahmen Wels gefangen. Ebert reagierte schnell: Ohne Rücksprache mit dem Koalitionspartner USPD forderte er militärische Hilfe an.

    Die Kämpfe, die daraufhin am Heiligen Abend um das Berliner Stadtschloss entbrannten, hatten zwei unmittelbare Folgen. Die Erste war der Bruch der Regierungskoalition. Am 29. Dezember schieden die drei USPD-Vertreter aus dem Rat der Volksbeauftragten aus. Zweitens wurde der Berliner Polizeipräsident, Emil Eichhorn, der zum linken Flügel der USPD gehörte und der Volksmarinedivision mit der Berliner Sicherheitswehr zur Hilfe geeilt war, von seinem Posten entlassen. USPD und KPD reagierten auf diese, wie sie meinten, gezielte Provokation, mit einem Aufruf zu einer Protestkundgebung am 5. Januar, die rasch eskalierte.

    Eine Gruppe von Demonstranten besetzte das Gebäude des sozialdemokratischen Vorwärts und andere Verlagshäuser. Dieser spontanen Aktion, die den sogenannten "Spartakusaufstand" einleiten sollte, folgte am Abend des 5. Januar die Bildung eines "Revolutionsausschusses", der zum "Sturz der Regierung Ebert-Scheidemann" aufrief. Das doppelte Ziel der Erhebung war die Verhinderung der Wahl zur Nationalversammlung und die Errichtung einer "Diktatur des Proletariats".

    Der Erfolg dieses Unterfangens war von Anfang an mehr als fragwürdig, doch die Regierung Ebert nahm die Drohung ernst und war entschlossen, ihr mit aller Härte zu begegnen. Die zentrale Figur in dieser Situation war der SPD-Militärexperte Gustav Noske, der nach dem Ausscheiden der USPD in den Rat der Volksbeauftragten nachgerückt war. Mit den berühmten Worten, "Meinetwegen! Einer muss der Bluthund werden, ich scheue die Verantwortung nicht!", übernahm Noske den Oberbefehl über die Regierungstruppen in Berlin. Für ihn war klar: Diesmal sollte ein Exempel statuiert und mit allen verfügbaren militärischen Mitteln "Ruhe und Ordnung" wiederhergestellt werden.

    Noske gab damit all jenen einen Freibrief, die der Revolution von Anfang an mit glühendem Hass gegenübergestanden hatten und seit zwei Monaten auf eine Gelegenheit zur Abrechnung warteten. Einer von ihnen, Ernst von Salomon, der die Revolution als 16-jähriger Kadett erlebte und vier Jahre später an der Ermordung Walther Rathenaus beteiligt war, beschrieb seine Wahrnehmung der Revolution in dem autobiografischen Roman Die Geächteten:

    "Der (roten) Fahne nach wälzten sich müde Haufen, regellos durcheinanderstapfend. Weiber marschierten an der Spitze. Sie schoben sich mit breiten Röcken voran, die graue Haut der Gesichter hing in Falten über spitzen Knochen. ... Die Männer, alte und junge, Soldaten und Arbeiter und viele Kleinbürger dazwischen, schritten mit stumpfen, zermürbten Gesichtern ... So zogen sie, die Streiter der Revolution. ... Unmöglich, vor denen da zu kapitulieren. ... Ich steifte mich und dachte >Kanaille< und >Pack< und >Mob< und kniff die Augen zusammen und besah diese dumpfen, ausgemergelten Gestalten; wie Ratten, dachte ich, die den Staub der Gosse auf ihren Rücken tragen ... "

    Am 11. Januar stürmte das "Regiment Potsdam" das Zeitungsviertel. Fünf Besatzer des Vorwärts, die über die Bedingungen des Abzugs verhandeln wollten, wurden festgenommen und zusammen mit zwei abgefangenen Kurieren erschossen. Insgesamt kamen 162 Menschen ums Leben. Der Mordlust der Freikorps fiel am 15. Januar auch Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zum Opfer, die Führer der KPD, die sich seit Tagen auf der Flucht befanden. In der Wilmersdorfer Wohnung eines USPD-Mitglieds brachten beide ihre letzten Texte zu Papier, darunter Rosa Luxemburgs flammende Prophezeiung gegenüber den Kräften der Gegenrevolution:

    "Ihr stumpfen Schergen! Eure >Ordnung < ist auf Sand gebaut. Die Revolution wird sich morgen schon rasselnd wieder in die Höh' richten und zu eurem Schrecken mit Posaunenklang verkünden: Ich war, ich bin, ich werde sein!"

    In den Abendstunden des 15. Januar wurden Luxemburg und Liebknecht verhaftet und in das Nobelhotel Eden, das vorübergehende Hauptquartier der Garde-Kavallerie-Schützen-Division verschleppt. Auf Befehl des Kommandeurs, Waldemar Pabst, wurde Liebknecht kurze Zeit später im Tiergarten erschossen, Rosa Luxemburg ereilte noch am gleichen Tag dasselbe Schicksal; ihr Leichnam wurde in den Landwehrkanal geworfen, die verweste Leiche erst Monate später aus dem Wasser gefischt.

    Die Ermordung Liebknechts und Luxemburgs war ein prominentes Beispiel für die Verrohung politischer Sitten durch Krieg und latenten Bürgerkrieg. Dies traf allerdings nicht allein auf Deutschland zu. Politische Morde waren in der unmittelbaren Nachkriegszeit überall in Europa verbreitet. Im bürgerkriegserschütterten Irland fielen ihr unter anderem Männer wie Michael Collins, der Führer des irischen Unabhängigkeitskampfes, in Ungarn der linksliberale Starkolumnist Béla Bacsó und der Chefredakteur der sozialdemokratischen Tageszeitung Népszava, Béla Somogyi zum Opfer. Die Welle politischer Morde ebbte auch nach 1919 nicht ab.

    Auch wenn politische Gewalt in Deutschland weniger verbreitet war als in anderen europäischen Gesellschaften, die von Revolutionen erfasst waren, so hatten die Morde an Luxemburg und Liebknecht doch langfristige Folgen, vor allem für das Verhältnis zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten.

    Bei der Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 erhielt die MSPD 37,9 Prozent der Stimmen, die USPD dagegen nur 7,6 Prozent. Gemeinsam mit der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei und der katholischen Zentrumspartei bildeten sie die sogenannte Weimarer Koalition. Das Ergebnis machte klar, dass die Mehrheit der Deutschen einen demokratischen Neuanfang, aber keinen Umsturz der Gesellschaft wollte. Eine Demokratie erschien ihnen als unabdingbare Voraussetzung dafür, dass die Sieger Deutschland einen gerechten Frieden gewähren würde, einen Frieden, wie ihn der amerikanische Präsident Wilson in seinen "14 Punkten" vom Januar 1918 versprochen hatte.

    Dass der Friedensvertrag ganz anders, nämlich weit weniger versöhnlich ausfiel als Wilsons "14 Punkte", dürfte sehr viel mehr zum Ansehensverlust der Demokratie beigetragen haben als die vermeintlich "halbe Revolution" von 1918. Am 28. Juni 1919 unterzeichnete die deutsche Delegation in Paris unter Protest den Versailler Friedensvertrag, der von den erstarkenden Gegnern der Demokratie rasch als die eigentliche Verfassung Weimars gebrandmarkt wurde. Die Grenzen Europas wurden neu gezogen, Deutschland verlor seine kolonialen Besitzungen und ein Achtel seines Territoriums an Frankreich, Belgien, vor allem aber an den neubegründeten polnischen Nationalstaat.

    Doch auch dort, wo das Selbstbestimmungsrecht der Völker geachtet wurde, entpuppte es sich schnell als eine revolutionäre Idee mit enormem Konfliktpotenzial. "Ethnische Säuberungen" wurden in den folgenden Jahrzehnten zur blutigen europäischen Norm, ob in der Türkei, auf dem Balkan oder, in den 30er und 40er-Jahren, in Polen, der Tschechoslowakei und den baltischen Staaten. Denn in den multi-ethnischen Territorien der vormaligen Großreiche Mittel- und Südosteuropas, in denen Christen, Juden, und Muslime, Slawen, Ungarn und Deutsche Tür an Tür lebten, war die Vision national homogener Staaten eigentlich nur durch Vertreibung und Gewalt durchführbar. Hierin lag, mehr noch als in der bürgerlichen Furcht vor einer Weltrevolution, die größte Belastung für den künftigen Frieden in Europa.

    Im Frühjahr 1919 allerdings hatte die deutsche Regierung noch andere Sorgen, denn an der bürgerkriegsähnlichen innenpolitischen Lage änderte sich durch den Zusammentritt der Nationalversammlung nichts. Vielmehr begann im Frühjahr eine zweite, radikalere Phase der Revolution. Diese neue revolutionäre Welle richtete sich nicht mehr, wie im November 1918, gegen den monarchischen Obrigkeitsstaat, sondern gegen die demokratisch legitimierte Weimarer Koalition.

    Die Brutalität der Auseinandersetzungen lag auch daran, dass Noske den Regierungstruppen einen Freibrief für politische Morde erteilt hatte. Am 9. März verhängte er das Standrecht über Berlin und ordnete an:

    "Die Grausamkeit und Bestialität der gegen uns kämpfenden Spartakisten zwingen mich zu folgendem Befehl: Jede Person, die mit Waffen in der Hand gegen Regierungstruppen kämpfend angetroffen wird, ist sofort zu erschießen."

    Dabei ist bemerkenswert, dass der sogenannte "Rote Terror" in Deutschland in Wirklichkeit weitgehend gewaltfrei ablief und die Folter- und Mordfantasien, die in den Köpfen vieler Freikorpsmänner heranreiften, eher auf Ereignissen beruhten, die sich außerhalb Deutschlands abspielten. Deutsche Zeitungen der unmittelbaren Nachkriegszeit widmeten der Russischen Revolution und dem finnischen Bürgerkrieg größte Aufmerksamkeit, was fraglos den subjektiven Eindruck verstärkte, in Deutschland würden vergleichbare Geschehnisse unmittelbar bevorstehen.

    Anfang Mai 1919 schließlich wurde, wiederum unter dem Oberbefehl Noskes, die Reichsexekution gegen die Münchner Räterepublik verhängt. Bayern war seit dem 8. November 1918 das erste deutsche Land, das nicht mehr von einem König regiert wurde. Die Ermordung des sozialistischen Präsidenten Kurt Eisner Ende Februar 1919 durch einen jungen Infanterieleutnant, Anton Graf von Arco auf Valley, spitzte die ohnehin angespannte Situation weiter zu. Als Ende April Anhänger der Räterepublik bürgerliche Geiseln im Münchener Luitpold-Gymnasium erschossen, schufen sie einen Vorwand für die blutige Unterdrückung der bayerischen Revolution. Bei der unmittelbar danach erfolgenden Erstürmung der bayerischen Landeshauptstadt durch Reichswehreinheiten und rechtsgerichtete Freiwilligenformationen kamen erneut Hunderte von Menschen ums Leben, unter ihnen der sozialistische Schriftsteller Gustav Landauer.

    Mit der Niederwerfung der Münchner Räterepublik endete die deutsche Revolution. Eberts Republik schien vorläufig gesichert. Es ist viel darüber diskutiert worden, ob der Preis dafür nicht zu hoch war und ob die tieferen Ursachen des Scheiterns der Weimarer Republik nicht bereits in ihrer Entstehungsgeschichte, vor allem in dem Zweckbündnis der Mehrheitssozialdemokraten mit den alten Eliten des Kaiserreiches, zu lokalisieren sind. Weil die Revolution "unvollendet" blieb und ihr wichtigstes Ergebnis, die parlamentarische Demokratie, nicht von Dauer war, so die immer wieder anzutreffende Schlussfolgerung, sei sie – wenn überhaupt – eine europäische Revolution zweiten oder dritten Ranges gewesen.

    Über beide Argumente lässt sich streiten. Erstens zeichnet sich in der Geschichtswissenschaft seit einigen Jahren ein neuer Konsens ab, der darin besteht, dass die Weimarer Republik keineswegs von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Geschichte sollte nicht vom Ende her gelesen werden und die Machtergreifung Hitlers 1933 war alles andere als das zwangsläufige Ende einer Entwicklung, die im November 1918 begann. Bis zum Ausbruch der Großen Depression Ende 1929 war die deutsche Demokratie durchaus in der Lage, sich ihrer innenpolitischen Gegner zu erwehren. Putschversuche von rechts und links wurden abgewehrt, die NSDAP sollte erst Anfang der 30er-Jahre zu einer Massenpartei werden. Gemessen an den anderen demokratischen Neugründungen Europas nach 1918 – etwa Polen, Ungarn, oder den baltischen Staaten – erwies sich die Weimarer Republik sogar als vergleichsweise langlebig, denn spätestens ab 1930 galt die Staatsform der Demokratie in Mittelosteuropa als politisches Auslaufmodell.

    Der europäische Vergleich ist auch da sinnvoll, wo es um eine adäquate historische Einordnung der deutschen Revolution in den Kontext der neueren Geschichte geht. Sowohl die große Revolution des Westens – die Französische Revolution von 1789 – als auch die große Revolution des Ostens – jene in Russland im Herbst 1917 – mündeten über kurz oder lang in Bürgerkrieg und Diktatur, ohne dass man ihnen ihre historische Bedeutsamkeit absprechen würde. Auch gemessen an anderen, zeitnah ablaufenden europäischen Revolutionen – etwa in Irland, Finnland oder Ungarn – waren die revolutionären Ereignisse in Deutschland nicht nur relativ unblutig, sondern auch auffallend erfolgreich.

    Während der irische Aufstand von 1916 rasch niedergeschlagen wurde und in Finnland und Ungarn die Gegenrevolution triumphierte, verwandelte sich Deutschland binnen weniger Tage von einem monarchistischen Fürstenbund in eine Republik, die trotz extremer innerer und äußerer Herausforderungen vierzehn Jahre überlebte. Theodor Wolffs eingangs zitierte Bemerkung, die deutsche Revolution von 1918 sei die "größte" aller Revolutionen gewesen, war fraglos überzogen. Doch im europäischen Vergleich scheinen die Errungenschaften der gemäßigten deutschen Revolution heller, ihre Versäumnisse weniger schwerwiegend als sie aus der deutschen Binnenperspektive oftmals wahrgenommen werden.

    Robert Gerwarth ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Dublin. 2007 veröffentlichte er bei Siedler ein Buch über den "Bismarck-Mythos".

    Die Serie "Gewalt im 20. Jahrhundert"
    Das 20. Jahrhundert war das blutigste in der Menschheitsgeschichte. Leider ist die Diskussion über die Ursachen, Manifestationen und Konsequenzen politischer Gewalt allzu oft auf den eigenen Nationalstaat verengt worden. Unsere fünfteilige Serie befasst sich deshalb mit der "politischen Gewalt im 20. Jahrhundert" in einem europäischen Kontext.

    Teil 1: Die Dämonen des Terrors

    Am kommenden Sonntag setzen wir die Reihe mit einem Beitrag von Dieter Langewiesche über den "Zweiten Weltkrieg oder Gesellschaften im Ausnahmezustand" fort (Teil 3).
    Der damalige Reichspräsident Friedrich Ebert (Mitte), zusammen mit dem damaligen Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer (rechts) in Köln, 1920
    Der damalige Reichspräsident Friedrich Ebert (Mitte) 1920 - gegen Mittag des 9. November 1918 hatte Max von Baden dem Vorsitzenden des Mehrheitsflügels der Sozialdemokratie, Friedrich Ebert, die Reichskanzlerschaft übertragen (AP Archiv)
    Rosa Luxemburg, linke Sozialdemokratin und Mitgründerin der KPD. Sie wurde am 15. Januar 1919 in Berlin ermordet.
    Rosa Luxemburg, linke Sozialdemokratin und Mitgründerin der KPD. Sie wurde am 15. Januar 1919 in Berlin ermordet. (AP Archiv)