Freitag, 29. März 2024

Archiv


Die große Sehnsucht

Peter Handke ist schon sehr früh ein Popstar der Literatur gewesen. Auch seine Prosa im hohen Ton, zu der er sich Ende der 70er wandelte, lebt zu großen Teilen von dem, was auch die Popmusik immer ausgemacht hat: das Erhabene, die Ergriffenheit, die große Sehnsucht jenseits des kruden Alltags.

Von Helmut Böttiger | 11.02.2007
    "Auch mir hat sie Angst gemacht, macht sie Angst. Aber ich möchte mich ihr stellen."

    Das ist ein richtig donnernder Anfang: Eine Frau löst Angst aus, und das scheint ihre ständige Eigenart zu sein. Der Ich-Erzähler hat immer noch Angst, während er dies aufschreibt. Mit seiner Erzählung will er sich dieser Angst stellen. Ist das hier eine Liebesgeschichte? Ist das das übliche Kuddelmuddel zwischen Mann und Frau, wie wir es seit jeher kennen? Es wäre keine Geschichte von Peter Handke, wenn man nicht schon in den ersten Sätzen merken würde: Hier ist etwas ganz anderes los. Es geht nicht um Liebe. Und das erzählende Ich verschwindet auch gleich, nachdem es diese ersten Sätze gesagt hat. Jetzt wird der Leser mit jener ominösen Frau allein gelassen, sie wird zur Hauptfigur. Wir verfolgen die Frau, eine Sängerin, durch eine Art Abenteuer - vielleicht sollte man besser, im Sinne der Artusepen, "aventuire" sagen - durch ein Geschehen, das etwas anderes ist als eine bloße Geschichte. Es hat etwas Traumwandlerisches, die Landschaft verwandelt sich allmählich, die wenigen Menschen, denen wir begegnen, zeigen zwar realistische Züge, weisen aber auch auf etwas anderes hin. Alles, was geschieht, wirkt sofort parabelhaft.

    "Der Gitarrist: 'Wo wirst du sein im Winter?' - Sie: 'In meiner Kindergegend. Oder nein, in der Nachbargegend. In der Gegend gleich nebenan, hinter dem Kindheitsfluss, hinter dem Kindheitssee, hinter dem Kindheitshügel. In der Gegend hinter meiner Gegend. Überall sonst, kommt mir vor, bin ich schon gewesen, in Alaska, auf Guadelupe, auf Madagaskar, überall auch hier in Europa, sogar in der Schweiz und in Österreich. Aber durch das Land jenseits meines Kinderwalds bin ich seinerzeit höchstens durchgefahren. Ich weiß von der Landschaft nichts, oder bloß so vom Hörensagen, zum Beispiel: Dort ist der Winter noch Winter. Oder: Es ist eine Auswanderergegend - ob nun die Leute von woanders nach dort ausgewandert waren, oder von dort woandershin auswandern wollten? Das Einzige, was ich noch weiß: Der Untergrund dort besteht bis in die tiefsten Tiefen aus Salz - Kali. Es soll dort einmal ein großes Meer gewesen sein. Und dieses Salz wird abgebaut - auch im Sommer ein schneeweißer Bergrücken mitten in der Ebene.'"

    Das ist der unverkennbare Handke-Ton, der Raum weitet sich sofort aus ins Mythische. Die Sängerin bricht auf aus der Stadt, direkt von ihrem letzten Konzert vor dem Winter, und zuerst sieht es tatsächlich wie eine Reise in die Kindheit aus, was die Frau unternimmt. Doch als sie im Ort ihrer Kindheit und Jugend angelangt ist, der seltsam leer ist, seltsam still und abstrakt, geht es fast unmerklich in eine Jenseitsreise über, mit der Fahrt auf einem Schiff an ein anderes Ufer. Das Schiff heißt "Der Auswanderer".

    Spätestens hier wird klar: Wer über Peter Handke spricht, bekennt sich, ob er will oder nicht. Denn er spricht automatisch über das Markenzeichen Handke, über eine unumgängliche Position des Literaturbetriebs. Handke ist durch seinen Rotzbubenauftritt bei der Gruppe 47 in Princeton 1966 schon sehr früh ein Popstar der Literatur gewesen, vermutlich der erste überhaupt, und er hat diese Aura hinübergerettet in das Feld der Poesie. Seine Prosa im hohen Ton, zu der er sich Ende der 70er Jahre wandelte, lebt zu großen Teilen von dem, was auch die Popmusik immer ausgemacht hat: das Erhabene, die Ergriffenheit, die große Sehnsucht jenseits des kruden Alltags. Es ist erstaunlich, wie unbeirrbar Peter Handkes neues Buch "Kali. Eine Vorwintergeschichte" diesen Weg weitergeht: Es geht hier nicht um Familien- und Schwestern- und Brüdergeschichten, nicht um Kuss- und Bett- und Ringelreihgeschichten und nicht um die übliche Einsamkeit in allgemein zugänglicher Sprache. "Kali" befindet sich ganz woanders: im Bereich der Märchen und der Zeitlosigkeit.

    Es wird kaum einen zeitgenössischen Schriftsteller geben, der so stark polarisiert. Das hat natürlich zunächst etwas mit Handkes Status als Popstar zu tun, als einer der wenigen Großdichter, dessen Bücher bei Erscheinen sofort besprochen werden und bei dem die Kritiker endlich mal zeigen können, dass sie auch da sind. Aber auf der anderen Seite ist es auch seine provokative Sprache, diese offensive Poesie. Ab und zu greift Handke geradezu zu einem Predigtton, und auch in seinem neuen Buch tut er das recht genussvoll - weiter entfernt kann man vom Duktus des Poetry Slam, der Hiphop-Lyrik oder des "irgendwer öffnete irgendwann den Mund und sagte zusammenhanglos: Tom Waits" gar nicht sein. In "Kali" tritt eigens eine Pastorin auf, und die sagt Sachen wie:

    "Die Unheilstifter der Epoche, sie sind keine Bösen, keine Dämonen. Jede Spur des eigens Bösen in ihnen ist ausgemerzt. An dem Unheil, das wir durch unser bloßes Dasein anrichten, sind wir unschuldig. Nicht mehr die vorsätzlich, schon im Instinkt, bösen Stiere zertrampeln, spießen auf, schlitzen auf, sondern die stieren zeitgemäßen Ochsen, vorsatzlos, bewusstlos, schlechter noch: ahnungslos. Unsere Jetzt-Leute zielen nicht erklärt auf das Unheil ab. Sie sind das Unheil. Das schuldlos Schlechte nimmt inzwischen, machtvoll und auch nicht mehr zu bekämpfen, die Stelle des einstigen Bösen ein."

    Ohne, dass es konkret zu fassen wäre, fließen Archaisches und unbedingt Zeitgenössisches in Handkes Sprache zusammen. Man kann die Szenenfolge, die sich in "Kali" auftut, kaum in landläufigem Sinn "erzählt" nennen, es handelt sich eher um Filmsequenzen, Traumvisionen. Und das erzählende Ich entwickelt sie, ohne dass es noch sonderlich in Erscheinung treten würde. Die Frau, die es sich imaginiert, erscheint immer etwas entrückt, in einem künstlichen Licht, die einzelnen Phasen ihrer Geschichte wirken wie voneinander abgetrennte Filmschnipsel. Am Anfang wird jedes Mal die Kameraeinstellung neu justiert, wird der Hintergrund neu ausgeleuchtet, sind die Sätze knappe Regieanweisungen:

    "In dem fahrenden Bus. Sie. Neben ihr die Frau mit dem verlorenen und wiedergefundenen Ring."

    Das Geschehen ist vom erzählenden Ich immer ein bisschen weggeschoben, es ist wie ein Probelauf, den es unternimmt. Hier ist nichts 1:1 übersetzbar. Diese moderne Schnitttechnik, dieses flackernde Bewusstseinskaleidoskop geht jedoch einher mit einer Einfachheit und Schlichtheit der Benennungen, die sich fortwährend daran reibt: Es gibt etliche "freilichs" und "gleichsams", und die Wendung "wie nur je eine" taucht des öfteren auf und suggeriert Geschichts- wie Zeitlosigkeit:

    "Jetzt erst die Nacht, die tiefe, tief wie nur je eine."

    Details aus der unmittelbaren Gegenwart verbinden sich in der Erzählung mit mythischen Momenten. Es lässt sich kaum nacherzählen, was in jenem "toten Winkel" geschieht, in dem das Schiff mit der Sängerin nach der Überfahrt, jenseits des Kindheitssees, anlegt. Im Mittelpunkt steht ein riesiges Salzbergwerk, der große Kaliberg dominiert die Gegend auf weite Sicht. Doch die visionäre Landschaft in dem, was offensiv "toter Winkel" genannt wird, ist nicht einfach nur abgehoben. In ihr wird die unmittelbare Gegenwart transparent. Sie zeigt mitunter sehr aktuelle Facetten. Manchmal wird der Blick frei für eine allgemeine Beschreibung des Jetzt: Es gibt nur noch "Auswanderer" und Exilanten, es gibt eine Immigration aus Ost und West, Süd und Nord, von einer Richtung in die andere, Heimat- und Ortlosigkeit sind das bestimmende Daseinsgefühl. In das Abenteuer der reisenden Frau hinein sind einige Predigten verstreut, wie wir sie von Handke kennen: große gebundene Rede in biblischem Ton, nicht nur von der Pastorin, sondern manchmal auch von der Sängerin vorgetragen:

    "Ja, die Mächte sind unbesiegbar geworden.
    Alle, lückenlos alle.
    Und jedes Kämpfen ist sinnlos.
    Und jeder Widerstand zwecklos.
    Denn niemand, der zuständig ist.
    Denn niemand, der verantwortlich ist.

    Die Menschenrechte? Kein einziges Menschenrecht besteht mehr.
    Eine neue Menschenrechtserklärung?
    Von wem? Wo? Mit welcher Wirkung?

    Ja, es ist die Hölle.
    Und ganz anders als in der Vorstellung.
    Und ganz anders als in der Überlieferung.
    Eine Hölle ohne Teufel.
    Eine Hölle ohne Flammen.
    Eine Hölle ohne Schall und Wahn,
    erzählbar von niemandem.

    Eine melodische Hölle, eine summende Hölle,
    eine Hölle aus zehn Milliarden verschiedener Erkennungsmelodien.
    Eine Hölle der Apparaturen, Tastaturen und Systeme.

    Und kein Gott, welcher spricht aus dem Säuseln des Windes:
    Was da säuselt von unten und oben,
    von rechts und von links,
    von Westen wie Osten,
    Tag und Nacht säuselt, und säuselt, und säuselt,
    das ist kein Säuseln eines Windes,
    das ist das Säuseln der Hölle,
    der Hölle auf Erden, der Erde als Hölle.
    Und dieses Säuseln höret nimmer auf.

    Aale und Salamander.
    Falken und Weberknechte.
    Glasziegel und Eiszapfen.
    Holunderpfeile und Peitschenstiele.
    Liebe und Tod."

    Handke weiß, was er da tut, und seine Regelverstöße geschehen äußerst lustvoll und schmerzvoll zugleich. Für ihn ist Literatur die andere Sprache, die Sprache jenseits des vordergründigen Verstehens, und es ist vor allem der Ton, der hier die Musik macht. Es ist ein hoher Ton. Er kündigt die voreiligen Übereinkünfte auf. Er hat nichts mit dem gesunden Menschenverstand, mit dem nüchternen Bilanzieren, mit dem Empirischen und Zynischen und Achselzuckenden zu tun. Handke provoziert durch heilige Einfalt. Doch in jedem Satz wird klar, zumindest, wenn man das Ganze noch einmal liest und ihm nachhorcht: Hier ist nichts naiv. Hier gibt es einen unbändigen Willen zur Form und zur Poesie - trotz aller Eckigkeiten und Eigenheiten, die in letzter Zeit bei Handke überhand nehmen.

    Die Auseinandersetzungen um Handke haben eine lange Geschichte. Handke hat schon früh, zu seinen Zeiten als Beatlyriker und Pilzkopf, als er im Sound der Zeit lag und in einem deutschen Atemzug mit John Lennon genannt werden konnte, als Antipoden jemanden wie Marcel Reich-Ranicki ausgemacht. "Reich-Ranicki und die Natürlichkeit" heißt eine der ersten Polemiken von ihm. Handke wusste von Anfang an, dass das, was er tut, extrem unnatürlich ist. Selbst in seinen Montagetexten und Bastelsprachen und Publikumsbeschimpfungen lag diese Unnatürlichkeit, also die literarische Entgrenzung. Was die dominierende Literaturkritik aber immer einfordert, ist für Handke das genaue Gegenteil davon. Da will man in der Literatur einen Spiegel sehen, bloß keinen Zerr- oder Brenn- oder anderweitig irrealen Spiegel. Die Forderung des Tages an die Literatur ist immer die, dass man seine eigenen Gefühle wiedererkennen kann und sich gleichzeitig kunstvoll berauschen. Literatur als die Fortsetzung des Gewohnten in den Feierabend hinein. Der Konsument - und Reich-Ranicki war in der Literaturkritik sein erster vehementer und wortreicher Fürsprecher - will von Literatur dasselbe, was er in den Nachrichten und auf dem Boulevard hört, nur irgendwie raffinierter. Es ist kein Zufall, dass der einflussreichste Literaturkritiker in der alten Bundesrepublik vom sozialistischen Realismus geprägt wurde, von Georg Lukács. Der sozialistische Realismus verlangte, die Zustände so zu beschreiben, dass man sich in ihnen wohl fühlen konnte. Nichts anderes steckt für Handke in jener Art von kapitalistischem Realismus, den Reich-Ranicki einfordert. Alles, was sich dem verweigert, wird verdammt. Handke hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass er sich auf einer ganz anderen Seite befindet: auf der Seite der Außenseiter, der Einzelgänger, der Narren, auf der Seite derer, die sich dem allgemeinen Einverständnis entziehen.

    Handke sucht schon seit Jahrzehnten nach der Gegensprache, nach der Sprache der Poesie. Und da werden die Erfahrungen verhandelt, die in der Wahrnehmung normalerweise ausgeblendet werden. "Kali" ist zwar auch eine Abenteuerreise zu einem Salzbergwerk, doch schnell wird klar: Es handelt sich vor allem um eine Reise in die Literatur. Erinnerungen aus mehreren Zeiten und Epochen kommen zusammen, ein Assoziationsgeflecht, das undurchdringlich wird und ein eigenes Gewebe bildet. Die Romantik blitzt auf. Novalis, der die Suche nach der "blauen Blume" zum Inbegriff der menschlichen Existenz und der Sehnsucht machte, war gleichzeitig Bergwerks-Ingenieur und hat das Bergwerk als große Metapher geschaffen, oder Adalbert Stifter, ein Stilideal von Handke seit jeher, dessen geologisch-geographische Poesie-Exaktheit, dessen "Bunte Steine" hier zu weißen Salzkristallen werden. Zum anderen ist Dantes "Göttliche Komödie" gegenwärtig, in Handkes Kaliberg verbirgt sich dessen Läuterungsberg mit seinen verschiedenen Stufen. Der ureigene literarische Raum, der hier entfaltet wird, entzieht sich allen vorschnellen Zuschreibungen.

    Handke geht allerdings von einer unmittelbar zeitgenössischen Erfahrung aus: Das untergründige Krisenbewusstsein, das unabweisbare Gefühl, dass etwas mit den gesellschaftlichen Werten nicht stimmt, wird von der Sprache der Experten und Welterklärer an Universitäten und Feuilletons nicht abgedeckt. Für das Krisenbewusstsein gibt es im aktuellen Bewusstseinsmanagement das Wort "Kulturpessimismus". Der Märchenton von Handke nimmt das Krisenbewusstsein auf und verstößt gegen alle Übereinkünfte. Einmal etwa deklariert der Bergwerksdirektor über seine Mitmenschen:

    "Sie sind auf ewig Schiffbrüchige, zu nichts mehr fähig, als von früh bis spät sinnlos zu sortieren, und zu sammeln. Freilich: sammeln, das immerhin können sie, wie keiner von den Angestammten. Was die so alles sammeln, oho! Nur so recht fündig werden sie nie. Manchmal scheint mir, sie sind die Überlebenden des Dritten Weltkriegs, der rund um uns schon seit langem wütet, unerklärt, wenig sichtbar, aber umso böser. Sicher ist: sie sind Überlebende und haben in ihrem Überlebenskampf jede Lebenskraft verloren. Von Grund auf Verwirrte sind sie."

    Für Handke ist der Ton des Märchens schon lange ein erstrebenswerter, und er sucht danach, so rein und eindringlich wie möglich den Ton eines modernen Märchens zu finden, abseits der gewohnten Sprache des Alltags und der Medien. Er findet Bilder für das allgemeine Krisenbewusstsein, die einer ganz anderen Welt anzugehören scheinen und deswegen für viele anstößig sind. Die Kindheits- und Jenseitsreise der fahrenden Sängerin handelt vom heutigen Lebensgefühl, sie ist der Versuch einer literarischen Wahrnehmung des gegenwärtigen Zustands der Welt. In einer der typischen Wut-Kaskaden, für die Handke immer gut ist, geht es um die "beleidigendsten Geräusche der Gegenwart":

    "Quietschen einer Garagentür, gefolgt vom Zuknallen.
    Brot, das aus einem Toaster springt.
    Kaugummiblase beim Platzen.
    Anziehen einer Handbremse in einer stillen Seitenstraße.
    Das Aufheulen mehrerer Mountainbike-Bremsen in einem stillen Wald.
    Lachen in einer Talkshow.
    Hundertschlüsselbundklirren eines, der im Leben sonst nichts zu sagen hat.
    Zungenschnalzen eines, der sein Gegenüber abtut und dazu noch den Kopf schüttelt.
    Das Zudonnern, im Durcheinander, von hundert grabkammerschweren Stahltüren nach dem Passieren der Sperren in den Weltbahnhöfen.
    Das Rummsen, das Bummsen, das Krachen der drei lockeren Metallplatten damals dort in meiner Wohnstraße nachts, ein jedesmal, wenn in Abständen ein Auto darüberfuhr, die erste Lockerplatte für die unterirdischen Weltfernsehkabel, die zweite Lockerplatte für die zur Alarmzentrale führenden Alarmanlagenkabel, die dritte Lockerplatte für den Einstieg in die Atomschutzschächte."

    Handke kann auch keine Hunde leiden. Darüber hinaus ist "Kali" jedoch riskanterweise eine große Fantasie der Erlösung, mit einer ungeahnten Wendung, die sich an der tiefsten Stelle, tausend Meter unter der Erde, im Salzschacht vollzieht. Als Motiv für das grundlegende Gefühl der Bedrohung taucht immer wieder der Protest der Kinder auf: Sie machen nicht mehr mit. Sie verschwinden. Sie, als die Zukunft, verweigern sich. Die Sängerin erweist sich aber auf ihrer Reise bei einigen Kleinigkeiten als eine beiläufige Finderin, sie sucht nicht, und deswegen findet sie. Einige Male wird dieses Motiv angespielt. Daraus geht dann das Motiv des verlorenen Kindes hervor, das Andrea heißt und im Lauf des Buches immer stärker die Leerstelle konturiert, die das Zentrum von "Kali" bildet. Es schließt zum Schluss den Kreis.

    Man kann es aber wohl nicht unbedingt Happy End nennen. Handke schreibt in "Kali" also durchaus konsequent weiter an seiner poetischen Durchdringung der Welt, an seiner einfachen, aber überaus komplexen Gegensprache. Auffällige Manierismen, die spätestens seit dem umfangreichen Roman "Der Bildverlust" von 2002 zu beobachten sind, treten allerdings immer deutlicher hervor: das Sich-Unterbrechen im Satz, das beständige Nach-Fragen, das Innehalten und Neuansetzen, das oft auch die üblichen grammatikalischen und stilistischen Formen negiert.

    "Das Leben ist neu erschienen. Die Träume sind zurückgekommen: Schaut, schaut - hört, hört. Nach all dem Schrecken, dem Grauen: wie sehe ich klarer, wie höre ich besser. Unsere Geschichte: aufzugeben? Ausgeträumt? Nein, ich gebe die Geschichte nicht auf. Sie weiterträumen."

    Bei so etwas sagt der Journalist, der sich unter Literatur nichts anderes vorstellen kann als das, was der eigene Horizont gerade noch zulässt, reflexhaft "Kitsch". Das Poetische und der mediale Zeitgeist stehen sich meist konträr gegenüber. Wie einige der ersten Reaktionen auf "Kali" zeigen, gelingt es Handke anscheinend immer noch, die stärksten Ressentiments zu provozieren, Häme und Hohn vermeintlicher Bescheidwisser. Handke, so forciert das auch manchmal wirken mag, kündigt den dumpfen Konsens der Konsumenten darüber, wie Literatur zu sein hat, grundsätzlich auf und erinnert an das Pathos, die Schlichtheit und die radikale Eigenwelt der großen Texte - etwas, was der durchschnittliche Karriere-Spießer in der entwickelten Mediengesellschaft längst als obsolet erkannt hat. Es ist durchaus angenehm, und auch lustig, wie Handke sich weder um kleine noch um große Kläffer schert, wie er sie nebenbei sogar beschreibt und links liegen lässt.