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Die große Verhundung

Ein Straßenköter kommt ins Paradies. Glaubt er jedenfalls, als Professor Philipp Philippowitsch ihn in seine Wohnung in Moskau bringt und verköstigt. "Hundeherz" heißt die Erzählung von Michail Bulgakow, die Cesare Mazzoni fürs Theater umschrieb, und ein russischer Komponist machte daraus jetzt die Oper "A Dog’s Heart", die nun an der Niederländischen Staatsoper in Amsterdam zu sehen war.

Von Frieder Reininghaus | 09.06.2010
    Alexander Raskatovs Hundemusik kann zucken, knurren, winseln, wedeln, bellen und die Zuhörer mit den sprichwörtlichen Hundeaugen der scheinbaren Naivität anblicken.

    Am Anfang liegt da ein Häuflein Elend – allein auf der großen weiten leeren Bühne im Muziektheater an der Amstel: ein bißchen Haut und Knochen, Hundefell und Hundeskelett, das nicht einmal mehr seine Kette verlieren kann, weil es dergestalt aus dem sozialen Netz fiel, daß es keine mehr hat.

    Ein Hundführer-Sextett macht dem Objekt Beine, bringt es in Bewegung und verleiht ihm Stimme - eine angenehme und eine unangenehme. Professor Philipp Philippowitsch, eine international anerkannte Chirurgen-Koryphäe und von Sergei Leiferkus mit einer prächtig dazu passenden herrschaftsbewußten Stimme und gravitätischen Gesten ausgestattet, lockt den Köter mit einem Stück Krakauer.

    Die Wurst ist allerdings präpariert. Das diskret injizierte Medikament scheint das Tier gefügig zu machen. Es zieht ein in den Korb, den der Mediziner in seinem Studierzimmer aufstellen ließ.

    Das hochherrschaftliche Domizil deutet eine hohe Wand mit einer hohen Tür an, deren Klinke so hoch angebracht ist, dass das Stubenmädchen Zina immer ein wenig hochspringen muss, um sie niederdrücken zu können. Sie macht das allerliebts, diese Perle, der Nancy Allen Lundy die gertenschlanke Figur verleiht und die ein wenig zur Hysterie inklinierende Stimme.

    Während der Ordination des Medizinalrats, bei der sich russische Lust gleichsam von der Unterseite zeigt, beginnt der Hund zu gesunden (sein neuer Herr nennt ihn Scharik, ‚Kügelchen’, wiewohl er von der Kugelgestalt zu jener Zeit noch weit entfernt ist). Bei der Darstellung der Patienten hat Michail Bulgakow seine Erfahrungen als Arzt offensichtlich ohne viel Hang zur Übertreibung eingebracht.

    Zu grellen Farben der Groteske neigt eher der in Schostakowitsch- und Alfred-Schnittke-Nachfolge angesiedelte Tonsatz von Alexander Raskatov: da geistern drei Tenorhörner über die Bühne mit einer schrägen Erinnerung an "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit" (die Melodie stammt vom russischen Arbeiterlied "Langsam bewegt sich die Zeit"); das Wohnblock-Komitee mit seinem musterproletarischen Lautsprecher versucht angesichts der allgemeinen Notlage die bourgeoisen Lebensbedingungen des Ärztestars ein wenig zu beschneiden, wird aber durch einen Anruf bei der Nummer 1 disqualifiziert; die Schreibmaschine Bulgakows klappert als Maschinenmusik dazwischen.

    Die Operation am offenen Hund wird nur als Schattenriß gezeigt: Dem Tier wird die Hypophyse eines frisch liquidierten Gauners implantiert. Und diese Hirnanhangsdrüse läßt das Tier rasch vermenschlichen, Scharik zu Scharikow mutieren: Ville Rusanen schlüpft virtuos in diese Rolle.

    Die Mutation bereitet dem Professor Alpträume und reale Schwierigkeiten, da das Geschöpf nun sprechen lernt (allerdings nur ordinär) und ihn mit Papa anredet. Der Bursche will und erhält Identität und Papiere, verdingt sich bei der Stadtreinigung als Spezialist für die Säuberung der Straßen von streunenden Katzen. An diesem Punkt erweist sich der Text von 1925 als wahrhaft visionär.

    Die mit surrealen Momenten spielende Inszenierung in den realistischen Versatzstücken von Michael Levines Ausstattung unterstreicht dies gebührend, auch der leibhaftige Auftritt der Nr. eins. Allerdings wirkt die vom Werk aufgeworfene Frage, wie ein gutmütiger Hund sich zu einem derartigen Scheusal entwickeln kann, heute allzu gemütlich. Dies scheint, liebe Theatermacher, an der hündischen Natur zu liegen!

    Die große Verhundung kann in Raskatovs erster Oper nach knapp drei Stunden vielfarbiger Musik aufgehalten und zurückgenommen werden. Das ist ein schöner Zug des Theaters - gegenüber der Wirklichkeit von unschätzbarem Vorteil. Die AmsterdamerInnen waren entzückt.