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"Die Guten und das Böse"
Gut fühlen mit Auschwitz?

Wie gut sind die Deutschen heute bei ihrer Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Nazizeit? Dieser Frage widmet sich Lukas Hammerstein in seinem Essay "Die Guten und das Böse". Dabei wendet er den zweifelhaften Begriff der "Auschwitzkeule" provozierend ins Gegenteil um.

Von Jan Koneffke | 11.06.2014
    Es gibt eine hellseherische Strophe von Heinrich Heine, die dem Essay Lukas Hammersteins "Die Guten und das Böse" als Motto voranstehen könnte: "Oh, daß ich große Laster säh/ Verbrechen, blutig, kolossal - / Nur diese satte Trägheit nicht/ Und zahlungsfähige Moral." Wo sich Heinrich Heines Sehen als Wunsch äußert, hat ihn die deutsche Geschichte, rund hundert Jahre später zur Genüge erfüllt. Knapp siebzig Jahre nach Kriegsende wiederum scheinen selbstbewusste bis selbstgerechte Trägheit die Unruhe des Schuldbewusstseins verdrängt zu haben, von der "zahlungsfähigen Moral" gar nicht zu reden. Das Sehen Heinrich Heines könnte von hier aus in den Wunsch nach Erkenntnis übersetzt werden, einer Erkenntnis des Abgrunds unserer Geschichte, die ohne Ergriffenheit, sentimentale Gefühligkeit, lockeres Selbstbewusstsein oder leichtfertige Souveränität auskommt. Denn diese zweifelhaften Befindlichkeiten und Verhaltensweisen hat Lukas Hammerstein bei unserer Auseinandersetzung mit den Naziverbrechen beobachtet.
    "Die Deutschen sind gut geworden" - mit diesen Worten leitet der Autor seinen Essay provozierend ein - "nicht nur gut im Organisieren, Verwalten und Verdrängen, sie empfinden Scham und reagieren einmal nicht als trotzig Beladende, sie sind traurig und wollen es zeigen, sie wissen, was sie sich und der Welt schuldig sind, ohne gleich alles besser zu wissen. Sie machen ihre Sache wirklich gut."
    Der "ewig Gestrige"
    Dieses Gutsein der Deutschen ist in Hammersteins Augen ein Stein des Anstoßes und bringt den Stein seiner Gedankenbewegungen ins Rollen. Dabei überzeugt zunächst, dass der Autor ganz ungeschützt von sich selbst ausgeht. "Hier geht es auch um meine Schuld", schreibt er im Anfangskapitel, "ich bin Jahrgang 1958, die Frage: Was hättest du im Dritten Reich getan?, war der Basso Continuo meiner Jugend." Und so bezeichnet er sich mit einer ironischen Wendung als Ewig Gestriger. Ein Ewig Gestriger, der den Demjanjuk-Prozess in München über 90 Verhandlungstage von Anfang bis Ende verfolgte.
    "Der Demjanjuk-Prozess war der Auslöser, quasi ein Ingangsetzen für die ganzen Überlegungen, die ich sowieso immer habe, was die deutsche Schuld angeht, und mir war schon lange aufgefallen, daß sich nicht nur durch den Zeitablauf sehr viel verändert, daß wir auf die Schuld anders blicken, auch weil wir uns davon entfernen, aber auch weil wir etwas anderes daraus ziehen. In dem Prozess hatte ich plötzlich das Gefühl, ich sehe oder begreife etwas davon, nämlich da saßen Richter, die waren kurz vor der Pensionierung, aber eben auch zu jung, um irgendwie involviert zu sein, blutjunge Staatsanwälte, voller Ehrgeiz, sehr engagierte Leute, die wirklich auch die Rechtsprechung ändern wollten, und trotzdem wirkten sie auf eine Weise davon unberührt von dem, was auch durch den Gerichtssaal lief, eine Unberührtheit, die ich mich irgendwie irritiert oder auch schockiert hat. Das hieß für mich, ich sehe eine gewisse Souveränität im Umgang mit diesen schrecklichen Dingen, die durchaus im Gerichtssaal zur Sprache kamen, die mich einfach stört, weil ich das Gefühl habe, wo kommt das her, wir sind doch alle als Deutsche in dieser Schuld befangen, die nicht kollektiv ist, aber eine Verantwortung, die wir von unseren Vorfahren übernommen haben, warum kann man jetzt so locker, geradezu leicht damit umgehen und selbstbewußt."
    Entfernung von Verbrechen und Schuld
    Hammersteins Essay verhandelt sein Thema auf mehreren Ebenen und in verschiedenen Formen, die dennoch eine Einheit bilden. Zum einen arbeitet sich der Autor an seiner eigenen Geschichte als unpolitischer "Naziaufspürer" ab, der unbedingt zu den Guten gehören wollte und stets wußte, dass der moralische Freispruch so einfach nicht zu haben ist. Die autobiografische Erzählung des individuellen Verhältnisses zur Vergangenheit, die ganz und gar uneitel daherkommt, liest sich geradezu mitreißend, zumal Hammerstein auch noch seine Referendariatserfahrungen als angehender Jurist in der Provinz beisteuern kann, und damit auf seine zweite thematische Ebene führt: Die der juristischen Auseinandersetzung mit den Naziverbrechen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland seit Kriegsende.
    Doch damit nicht genug: Hammerstein nimmt die vergangenen siebzig Jahre insgesamt in den Blick, analysiert materialreich und so kurz wie konzise, seien es Verhaltensmuster, seien es Gefühle und ihre Veränderungen im Laufe einer Zeit, die sich von Verbrechen und Schuld zwangsläufig entfernte.
    Der Autor holt weit aus und bleibt trotzdem streng bei der Sache: Er zeichnet, eher in assoziativen Sprüngen, als in chronologischer Reihenfolge ein Panorama, das vom Auschwitzprozess in Frankfurt Anfang der 60er Jahre, über die "neuen", nämlich radikal ablehnenden "Gefühle" der 68er, bis zur Fernsehserie "Holocaust" und ihren Einfluss auf das kollektive Bewusstsein reicht. Auch das neu erwachte Nationalgefühl bei der Fußballweltmeisterschaft von 2006 wird selbstverständlich untersucht. Dabei gelingen Hammerstein immer wieder eindrückliche, paradoxe Formulierungen, die Erkenntnis stiften.
    Kritik an den "guten" Deutschen
    Über den Verlauf des Demjanjuk-Prozesses etwa heißt es: "München zeigte, wie sehr wir uns aus der Rolle der Täter befreit haben, um Beobachter zu werden, und alle Seiten, Opfer wie Täter zu verstehen. Das alte Schuldgefühl sitzt nur noch als Zeuge mit im Saal. Darin liegt etwas Unbekümmertes, das mir irgendwie frivol vorkommt." In Anspielung auf die These von der Unfähigkeit zu trauern, formuliert Hammerstein in einer Bestandsaufnahme der "Epoche des Sentimentalen", indem er die berühmte Mitscherlich-These der 60er Jahre aktualisiert: "Aus der Unfähigkeit zu trauern, scheint die Lust zu trauern geworden zu sein."
    "Wenn ich das übertrage, aus dem Gerichtssaal hinaustrage, auf unsere gesamte Gesellschaft blicke, dann habe ich natürlich das Gefühl, daß wir uns sehr wohl gerne mit Gefühlen beschäftigen, inzwischen sogar gerne mit den negativen Gefühlen aus der deutschen Geschichte wie Schuld und Scham, und daß wir es sogar schaffen, diese Gefühle uns gewissermaßen wie im Kino über die Leinwand flimmern zu lassen, und auch ein wenig daran berauschen und es sogar manchmal schön oder erregend finden, auch das Böse aus der Vergangenheit uns nochmal anzuschauen. Wir fühlen uns in einer Weise damit vertraut, wir wollen diese Gefühle nochmal nachvollziehen, wir wollen quasi uns sentimental erregen, vielleicht können wir das auch und wollen wir das auch, weil wir uns gleichzeitig nicht wirklich betroffen fühlen."
    Ein Verdienst dieses Essays liegt sicher auch darin, dass der Autor nicht nur die diskursiven Werke zum Thema kennt, sondern auch die Kulturprodukte untersucht, die sich mit dem Dritten Reich auseinandergesetzt haben, ob es sich dabei um Kinofilme, Theaterstücke oder erzählende Literatur handelt. Bündig diskutiert er die Veränderungen der kulturellen Bilder, den immer wieder "unschuldigen Zugriff auf das Grauen als Material" oder die sentimentale Erregtheit. Manchmal freilich hat man bei der Lektüre den Eindruck, als scheue der Autor die harte Verurteilung, um nicht als das gescholten zu werden, als was er sich selbst ironisch bezeichnet: Als ewig Gestriger; als habe er Angst vor dem Etikett des Moralapostels; oder wisse, aufgrund seiner eigenen Geschichte nicht mehr recht, was ihn eigentlich daran stört, dass die Deutschen in der Auseinandersetzung mit dem schrecklichsten Teil ihrer Geschichte "so gut" geworden sind.
    Ambivalenz als Grundstimmung
    Doch dieser Eindruck würde dem Essay nicht gerecht, der für unser Verhältnis zur Vergangenheit auf "Ambivalenz" plädiert - eine Ambivalenz als Bewusstseinshaltung und Grundstimmung, die bei der Auseinandersetzung mit Schuld und Verbrechen die sie begleitenden Widersprüche aushält und reflektiert. Diese Forderung spiegelt sich in einem immer wieder ambivalent vorwärtstreibenden Essay, dem es dennoch nie an Klarheit fehlt.
    "Also das eine, ja, also die Herangehensweise ist ambivalent, ich bleibe nach vielen Seiten offen, ich versuche gewissermaßen ein Schweben, ein Schillern auch nachzuvollziehen und einzufangen. Ich behaupte nicht, daß die Deutschen, daß wir Deutschen schon die Ambivalenz des Lebens wieder erobert haben, ich glaube, wir sind irgendwie auf dem Weg dorthin, aber zur Ambivalenz fehlt etwas ganz Wesentliches, nämlich das, was ich an anderer Stelle Demut nenne, oder vielleicht eine gewisse Bescheidenheit. Ich glaube, daß wir mit einem doch starken Selbstbewußtsein sogar auf die Schuld blicken, wenn wir wirklich aber ambivalent wären, dann würden wir es aushalten, ein Schuldgefühl zu bewahren und dennoch selbstbewußt zu sein. Ich sage sogar, daß wir dank des Schuldbewußtseins so etwas wie ein Selbstbewußtsein entwickeln. Das ist nicht wirklich ambivalent. Für mich ist dieser ganze Essay schon eine harte Kritik an der Haltung der Deutschen, an unserer Haltung zur Schuld, zum Schatten, der auf uns lastet. Ich störe mich daran, daß wir uns eben auf eine frivole Weise aus dem Schatten zu befreien suchen und ins Licht treten, ich traue dem Licht, das wir spüren und sehen, nicht, ich halte es eben für ein sentimentales oder verfälschtes und zu früh errungenes. Ich glaube dem Frieden nicht."
    Lukas Hammerstein: "Die Guten und das Böse".
    Essay. Matthes & Seitz, Berlin 2014. 224 Seiten, 14,80 Euro.