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Die Heilung des höchsten Amts im Staate

Als die Bundesversammlung Joachim Gauck zum neuen Staatsoberhaupt wählte, war das Amt schwer beschädigt und sanierungsbedürftig. Zwei Rücktritte von Bundespräsidenten innerhalb von nicht einmal zwei Jahren hatten es in eine tiefe Krise gestürzt. Wie ist Joachim Gauck damit umgegangen?

Von Stephan Detjen | 17.03.2013
    September 2012. Der Bundespräsident sitzt in seinem Amtszimmer, blickt nachdenklich in den spätsommerlichen Park von Schloss Bellevue und zieht eine erste, vorsichtige Bilanz:

    "Wenn ich hier mit den Menschen zusammentreffe, dann spüre ich, das ist schon in Ordnung. Es gibt ein Zutrauen zum Amt und zur Person, das mir dann auch Freude gibt, sodass ich sagen kann, das ist schon in Ordnung."

    Joachim Gauck hat einen weiten Weg in das höchste Staatsamt zurückgelegt. Obwohl er es erst im zweiten Anlauf erlangte, hat er es nicht wirklich angestrebt. Das Amt ist zu ihm gekommen – überraschend, schwer beschädigt und sanierungsbedürftig.

    Morgen jährt sich der Tag seiner Wahl zum ersten Mal. Für Joachim Gauck selbst war dieses Jahr eine Zeit der Verwandlung: Der freie Bürger wurde zum Staatsoberhaupt. Für das Amt war es eine bitter notwendige Heilzeit.

    Kapitel eins: Die Zeit der Krisen. Eine staatspolitische Lehrstunde

    Horst Köhler: "Ich erkläre hiermit meinen Rücktritt vom Amt des Bundespräsidenten. Mit sofortiger Wirkung."

    Christian Wulff: "Ich trete deshalb heute vom Amt des Bundespräsidenten zurück, um den Weg zügig für die Nachfolge freizumachen."

    Zwei Rücktritte von Bundespräsidenten innerhalb von nicht einmal zwei Jahren hatten das höchste Staatsamt der Bundesrepublik in eine tiefe Krise gestürzt. Es war keine Verfassungskrise. Nicht die Kompetenzen des Bundespräsidenten standen infrage oder sein Verhältnis zu den anderen, obersten Verfassungsorganen. Es ging um das Ansehen des Amtes, seine Würde, das Bild und die Rolle des Präsidenten in einer Öffentlichkeit, die mehr als je zuvor von den machtvollen Eigengesetzlichkeiten der Medien bestimmt ist.

    Köhler: "Diese Kritik entbehrt jeder Rechtfertigung. Sie lässt den notwendigen Respekt für mein Amt vermissen."

    Der Rücktritt Horst Köhlers sollte ein Fanal sein. Ein Aufschrei gegen eine in seinen Augen enthemmte Medienmacht. Doch der wirkliche Machtkampf zwischen Staatsoberhaupt und Medien stand erst noch bevor:

    Wulff: "Die Berichterstattungen, die wir in den vergangenen zwei Monaten erlebt haben, haben meine Frau und mich verletzt. Ich wünsche unserem Land von ganzem Herzen eine politische Kultur, in der die Menschen die Demokratie als unendlich wertvoll erkennen und sich vor allem – das ist mir das Wichtigste – gerne für die Demokratie engagiert einsetzen."

    Mit Christian Wulff war nicht nur der zweite Amtsinhaber innerhalb kurzer Zeit gescheitert, sondern auch der Versuch, das Amt selbst und sein Bild in der Öffentlichkeit neu zu erfinden. Der Journalist Michael Götschenberg, Hörfunkkorrespondent des Mitteldeutschen Rundfunks in Berlin, hat in einem eben erschienenen Buch eine nüchtern distanzierte Bilanz der Präsidentschaft Wulffs gezogen. Gerade als Gegenentwurf zu allen seinen präsidialen Vorgängern sowie zu seinem Konkurrenten Gauck sei Wulff zunächst durchaus erfolgreich gewesen, sagt Götschenberg:

    "Er war ja im Prinzip der Präsident, den die Medien nicht wollten und der dementsprechend bei der Bevölkerung auch als zweite Wahl empfunden wurde, gerade im Vergleich auch zu Joachim Gauck. Und dann ist ihm in kurzer Zeit ja gelungen, bei der Bevölkerung sich große Sympathien zu erwerben. Der junge Präsident, die junge Familie im Bellevue, das junge, moderne Gesicht für Deutschland – er war ja auch viel auf Auslandsreisen, die ihm alle gut gelungen sind. Also, dieses Modell ist ja zunächst mal aufgegangen."

    Hätte der Versuch einer Neuinterpretation des höchsten Staatsamtes gelingen können? Der Historiker Thomas Hertfelder ist einer der besten Kenner der Geschichte der Bundespräsidenten in Deutschland. Er leitet die Bundesstiftung Theodor Heuss Haus in Stuttgart:

    "Der Präsident soll ein Mahner sein, ein Warner, der die Zeichen der Zeit deutet, der den gesellschaftlichen Common Sense auf den Begriff bringt. Und das ist eben nicht vereinbar mit der Aura von Glamour und erst recht nicht vereinbar mit Skandalen, die solchem Glamour in der Regel auf dem Fuße folgen."

    Die Frage, wie die Rolle des Bundespräsidenten in der Mediendemokratie des 21. Jahrhunderts ausgefüllt werden kann, war offen, als Joachim Gauck das Amt vor einem Jahr übernahm. Nicht nur in den Massenmedien, selbst unter Verfassungsjuristen war damals offen über die Frage diskutiert worden, ob das Amt im modernen Verfassungsstaat überhaupt noch erforderlich sei. Die Interpretationsspielräume seien deshalb eng gewesen, als Joachim Gauck das Amt antrat, meint Michael Götschenberg:

    "Das Amt befand sich in einem so desolaten Zustand wie noch nie zuvor. Auch Wulff hatte es ja in einer Ausnahmesituation übernommen. Aber die Ausnahmesituation bei Gauck war um vieles größer. Die Erwartungen an Gauck waren so groß, dass eigentlich klar war, dass er sie gar nicht erfüllen kann. Eigentlich musste ihm klar sein, dass er diese Erwartungen nur ein Stück weit enttäuschen konnte."

    Die Krise des Amtes war aber auch eine staatspolitische Lehrstunde für den neuen Bundespräsidenten und seine Mitarbeiter im Schloss Bellevue. Der Medienwissenschaftler Lutz Hachmeister war früher Direktor des renommierten Grimme Instituts und ist heute Leiter des Instituts für Medienpolitik in Berlin.

    "Ich glaube, es ist gelernt worden, dass das Amt des Bundespräsidenten nicht sakrosankt von allen Mediengeschwindigkeiten mehr agieren kann. Ich glaube, wenn die Administration schlau ist, die Gauck um sich geschart hat, dann weiß sie das. Man wird da vorsichtiger agieren. Man wird das einkalkulieren. Und der Gauck ist natürlich wesentlich abgebrühter als zum Beispiel Köhler war und als auch Wulff auf eine gewisse Weise war. Der hat alle möglichen Medienstürme und öffentlichen Stürme schon überstanden, selbst als er in der DDR noch war. Der kann damit, glaube ich, besser umgehen."

    Kapitel zwei: Zwischenzeit. Joachim Gaucks glückliches Intermezzo

    Die beiden Jahre, in denen sein Vorgänger wie auf einer abschüssigen Bahn auf den Abgrund zu stürzte, waren für Joachim Gauck eine Zeit unverhofften Lebensglücks. Als Präsidentschaftskandidat von SPD und Grünen war der prominente Ruheständler nach dem Rücktritt Horst Köhlers zum Hoffnungsträger einer breiten Öffentlichkeit geworden. Eine Woge der Sympathie aus allen Schichten der Gesellschaft trug ihn im Sommer 2010 auf seinen Vorstellungsreisen durch das Land. Dass sich am Ende das parteipolitische Kalkül der Kanzlerin als übermächtig erweisen würde, war Gauck bewusst. Die Freude an seiner Kandidatenrolle aber ließ er sich deswegen nicht schmälern.

    "Ich habe in meinem Leben Ereignisse erlebt, die lange als unwahrscheinlich galten. Also, deshalb gehe ich mit einer fröhlichen Gelassenheit auf den 30. Juni zu."

    Die Medien, die sich später in eine Frontstellung gegen Christian Wulff begeben sollten, feierten Gauck 2010 als bürgerliche Lichtgestalt. Wulff und Gauck erlebten die Macht der Medien in ihrer ganzen Ambivalenz: Für Wulff und seine Ehefrau wurde das Internet zum düsteren Verbreitungsraum übler Nachreden. Für Gaucks dagegen entpuppte sich das Netz während seiner ersten Präsidentschaftskampagne als zentraler Mobilisierungsfaktor. Zehntausende Nutzer sozialer Netzwerke schlossen sich spontan zu Gauck-Fangruppen und Unterstützergemeinden zusammen.

    "Also, ich wusste, was Facebook ist durch die Gespräche in der Familie mit meinen Enkeln und mit meinen Kindern. Aber ich habe mein ganzes Leben noch nicht einmal Facebook aufgemacht, auch jetzt nicht. Wenn ich um diese Unterstützung weiß und über sie spreche, dann weil mein Sohn und andere Teile meiner Familie und Freunde mich anrufen. Mein Sohn Christian hält mich dauernd auf dem Laufenden - "weißt Du eigentlich, was da abgeht?" Und so ein Mensch wie ich freut sich natürlich wie jeder Mensch über Zuspruch und Unterstützung."

    Auch als sein erster Anlauf auf das Präsidentenamt am Abend des 30. Juni 2010 nach drei spektakulären Wahlgängen gescheitert war, trat Gauck nicht als Verlierer, sondern beseelt vom Glück des öffentlichen Zuspruchs vor Kameras und Mikrofone:

    "Ich bin gefragt worden, als ich präsentiert wurde in der Bundespressekonferenz vor vier Wochen, wie es mir wohl gehen würde am Abend des 30. Juni. Ich sagte: Ich werde dastehen und mich freuen. Genauso ist es gekommen."

    Die erste Kandidatur hatte Gaucks Popularität auf ihren vorläufigen Zenit steigen lassen. Eine Autobiografie, die er 2009 veröffentlicht hatte, war zum Bestseller geworden. Den Vorstellungsreisen als Präsidentschaftskandidat schlossen sich nach der Bundesversammlung von 2010 Lesereisen kreuz und quer durch Deutschland an. In der Beschäftigung mit dem Buch findet Gauck zu sich selbst und zu den Menschen im Land:

    "Außerdem bin ich als Redner dauernd unterwegs und spreche über Freiheit, Verantwortung oder über Ossis und Wessis, und dann erkläre ich immer wieder mal wieder, dass die Demokratie besser ist als die Diktatur, und ich werde nicht eher aufhören diese Reden zu halten, bis es alle begriffen haben – habe ich noch ein bisschen zu tun."

    Im Herbst 2010 sitzt ein entspannter Bürger Gauck im Studio des Deutschlandfunks und spricht am Tag der Deutschen Einheit über sich, über seine Freude an Demokratie und Freiheit. Über Schloss Bellevue sind zu diesem Zeitpunkt erstmals einige dunkle Wolken aufgezogen. Christian Wulff steht wegen eines Ferienfluges und seinem Verhalten in der Diskussion um den ehemaligen Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin in der Kritik. Joachim Gauck weiß, dass mit diesem Amt auch ein Kelch an ihm vorübergegangen ist.

    "Christian Wulff ist natürlich nicht zu beneiden in dieser ersten Phase, was ihm da an Problemen auf den Tisch kamen - oder was er sich vielleicht auch selber auf den Tisch gezogen hat. Er hat eine wichtige Bewährungsphase zu durchlaufen, und wir wünschen ihm alle, dass das gut gelingt. Und ich bin ganz zuversichtlich, dass er das packen wird."

    Gauck konnte nicht ahnen, dass die Zeit nach der ersten Kandidatur für ihn selbst nur eine Zwischenzeit bleiben sollte. Es war für ihn eine Zeit des Glücks. Aber auch ihn beschlich damals die Frage, wohin ihn diese Erfahrung noch führen sollte.

    "So ein Mensch wie ich freut sich natürlich wie jeder Mensch über Zuspruch und Unterstützung. Das ist das eine Thema. Aber da ist man natürlich auch verwirrt und sagt sich: So schön bist Du nun nicht, und Du heißt auch nicht Beckenbauer. Und wo kommt das alles her? Was will das alles?"

    Kapitel drei: 18. März – gewonnene und verlorene Freiheiten

    Der Rücktritt Christian Wulffs im Februar 2012 und die nach einem kurzen aber heftigen Ringen in der Berliner Regierungskoalition verkündete Nominierung zum überparteilichen Nachfolgekandidaten hat Joachim Gauck sprichwörtlich aus dem unbeschwerten Leben als freudiger Wanderprediger für Freiheit und Demokratie gerissen:

    "Ich komme aus dem Flieger und war im Taxi, als die Frau Bundeskanzlerin mich erreicht hat. Und ich bin noch nicht einmal gewaschen. Und es schad‘ auch nichts, dass ich überwältigt und auch ein wenig verwirrt bin."

    Das Erschrecken über die zerstörerischen Energien, die das Amt des Bundespräsidenten getroffen hatten, schweißte die Parteien – mit Ausnahme der Linken - zusammen. Mehrere Tage lang hatte Angela Merkel zwar geglaubt, die Präsidentschaft Gaucks ein zweites Mal verhindern zu können. Am 18. März vergangenen Jahres aber war klar, dass das einer der schwersten Einschätzungsfehler ihrer Kanzlerschaft gewesen war.

    Bundestagspräsident Norbert Lammert: "Gültige Stimmen: 1228, Enthalten haben sich 108 Mitglieder der Bundesversammlung. Auf Herrn Dr. Rose sind drei Stimmen entfallen. Auf Frau Beate Klarsfeld 126 Stimmen und auf Herrn Dr. h.c. Joachim Gauck 991 Stimmen"

    Der damals 72-Jährige nahm die Wahl in staatsmännischer Demut an. In seiner Antrittsrede erinnerte er an den 18. März 1990, den Tag der ersten freien Volkskammerwahl in der DDR, an dem aus dem Pastor der demokratisch gewählte Parlamentarier Gauck geworden war. Eine andere Glückserfahrung im Leben des Joachim Gauck. Auf den Tag genau 22 Jahre später aber ahnte er auch, dass ihm das neue Amt einen Teil genau jener Freiheit wieder rauben würde, die er 1990 gewonnen und in der Zeit vor der Wahl zum Bundespräsidenten so freudig ausgekostet hatte: Die Freiheit des ungebundenen Redners:

    "Ja, das wird weniger sein. Das, was ein Teil der Öffentlichkeit an mir schätzt und ein anderer nicht mag, dass ich auch mal Ecken und Kanten zeige, das geht in der Weise nicht. Und nun muss ich mir eine Form erarbeiten, in der ich noch erkennbar bleibe."

    Im ZDF-Interview wird Gauck am Abend seiner Wahl gefragt, ob die Zukunft für ihn nun aus dem Verlesen vorgeschriebener und mit Beraterstäben abgestimmter Reden bestehen werde. Der frisch gewählte Bundespräsident kommt hörbar ins Grübeln:

    "... pffh ...tja ... Ich sehe es fast so. Mir liegt das eigentlich nicht. Aber ..."

    Aber Gauck nimmt das Amt auch als staatsbürgerliche Pflicht auf sich. Im Amtszimmer von Schloss Bellevue wird ihm - im nachdenklichen Rückblick auf die Zeit davor - deutlich, wie sehr dieses Amt auch als Last auf seinen Schultern liegt.

    "Ja, die Existenz vorher war gefüllt mit Arbeit. Ich hatte sehr viele Einladungen, gute Möglichkeiten, mit Leuten zu sprechen. Und ich hatte auch noch so eine Welle der Zustimmung und musste nicht jeden Tag beweisen, dass das richtig ist, dass ich diese Zustimmung empfange. Das ist jetzt anders, und man schaut sehr genau hin. Aber dieses halbe Jahr hat mir auch dazu verholfen, ein inneres ‚Ja‘ zu dieser Aufgabe zu sagen."

    Kapitel vier: Das Amt heilen

    Hat Joachim Gauck das Amt übernommen? Oder hat das Amt Joachim Gauck übernommen? Die Kunst seiner Amtsführung bestand darin, dass Joachim Gauck in diesem ersten Jahr keine klare Antwort auf diese Frage zuließ.

    Mit staatsmännischer Routine nimmt er die Amtsgeschäfte auf: Empfänge im Schloss Bellevue, Entgegennahme von diplomatischen Akkreditierungsschreiben, Antrittsbesuche in den europäischen Nachbarländern. Einen ersten Akzent setzt er nach Wochen, als er mit Blick auf die Inhaftierung der Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko einen Staatsbesuch in der Ukraine absagt und damit eine politische Isolierung der Janukowitsch-Regierung im Vorfeld der Fußball-Europameisterschaft einleitet. In den Niederlanden zeigt Gauck als Redner am Nationalen Befreiungstag starke Emotionen und gewinnt damit die Sympathie der niederländischen Öffentlichkeit. Herzlich und mit pastoralen Gesten geht Gauck in Israel auf Holocaust-Überlebende zu:

    Holocaust-Überlebende in Israel: "Ein warmer Mensch" – "Ein sehr guter Deutscher und er ist auch sehr gut für Israel" – "Er hat ein warmes Herz. So denke ich."

    Zuhause in Deutschland warten die Medien darauf, dass sich Gauck als Gegenpol zur Kanzlerin profiliert.

    "Früher als andere haben Sie erkannt, dass es Zeit für die Energiewende ist."

    Bei der offiziellen Zeremonie zur Entlassung von Umweltminister Röttgen sorgt ein deutlich akzentuierter Nebensatz des Bundespräsidenten für ein kurzes Zucken in den Mundwinkeln Angela Merkels. Nach einem sommerlichen Medieninterview wittern die Medien den Frontalangriff auf die Kanzlerin.

    "Sie hat nun die Verpflichtung sehr detailliert zu beschreiben, was das bedeutet, auch fiskalisch bedeutet. Ich habe diese Aufgabe nicht. Ich bin auch keine Ersatzregierung."

    Die Erwartung der Kommentatoren ist klar formuliert: Gauck soll die Gegenmacht personifizieren, die Merkel in der parlamentarischen Opposition nicht findet. Doch Gauck wird vehement, wenn er sich mit dieser Erwartungshaltung konfrontiert sieht:

    "Sicher erwarten das viele. Und auch manche meiner Unterstützer im Internet wünschten sich vielleicht ein Gegenmodell gegen die Parteipolitik. Dazu eigne ich mich nicht."

    Das Staatsoberhaupt als Lehr- und Zuchtmeister der Parteipolitik - in dieses Rollenbild präsidialer Amtsführung wollte und will Gauck sich partout nicht einfügen.

    "Gauck hat in dem einen Jahr, das Amt eher auf eine traditionelle und defensive Weise ausgeführt. Man kann auch sagen, mit einer gewissen konstitutionellen Bescheidenheit."

    Beobachtet der Historiker Thomas Hertfelder.

    "Er wahrt die Grenzen, die dem Amt gesteckt sind, sehr bewusst, und jedenfalls versucht er sich nicht ein weiteres Mal an einer Neuerfindung nach den Versuchen von Köhler und Wulff. Und das ist wahrscheinlich der einzig richtige Weg, der nach der schweren Krise des Amtes vor einem Jahr dem Amt wieder zu Ansehen verhelfen kann."

    Und auch der Medienwissenschaftler Lutz Hachmeister meint, dass Gauck nach wie vor alle Experimente scheut, mit denen nicht nur seine beiden unmittelbaren Vorgänger sich und das Amt zu profilieren versuchten.

    "Ich denke, dass man in diesem Amt vorsichtiger agiert, als es zum Beispiel Roman Herzog es sich noch leisten konnte. Roman Herzog erscheint heute mit seiner Ruck-Rede wie aus einer ganz anderen Zeit. Dass wir im Augenblick von Gauck fast gar keine Grundsatzreden bekommen, nur so vorsichtige Anmerkungen und Streicheleinheiten für die arme politische Klasse, die mit diesen gigantischen europapolitischen Problemen umgehen muss, das ist auch bezeichnend. Es ist eine verhaltenere Form, das Amt auszuüben."

    Fast ein Jahr hat es gedauert, bis Joachim Gauck kurz vor dem ersten Jahrestag seiner Wahl die große, präsidiale Geste wagt: die solitäre Rede, zu der er am 22. Februar ins Schloss Bellevue lädt. Doch auch mit seiner Europarede fügt er sich ganz in die Tradition bundesrepublikanischer Staatspraxis. Bis an den Rand der Selbstverleugnung verzichtet Gauck fast vollständig auf die Akzentuierung seines ostdeutschen Erfahrungshorizonts. Dass sein Europa lange anders, vor allem östlicher war als das der meisten seiner Zuhörer bleibt unerwähnt. Gauck aktualisiert stattdessen die Rhetorik und Argumentationsmuster der klassisch westlichen Europapolitik.

    "Wichtig ist mir auch der Dank an unsere deutschen Politikerinnen und Politiker, die ihre nationalen Aufgaben mit unseren europäischen Verpflichtungen verbunden haben. Besonders denke ich dabei an die, die beim Begriff Solidarität nicht allein die Sorge um den Besitz der Besitzenden angetrieben hat."

    Nicht in der kritischen Abwendung von der Politik, sondern in der Hinwendung zu den Menschen, denen er im Amt begegnet, entfaltet Gauck im ersten Jahr als Bundespräsident seine stärkste Wirkung. Oft wird in Beschreibungen Gaucks an sein Wirken als Jugendpfarrer und Pastor in Rostock erinnert. Thomas Hertfelder findet indes auch in der westdeutschen Ahnenreihe der Bundespräsidenten Anknüpfungspunkte, die Gauck in die Tradition präsidialer Amtsführung einreihen:

    "Auch Gustav Heinemann hat seinen pastoralen Habitus in das Amt eingebracht und dort auch damit sich großen Respekt verschafft."

    Das sollte fürs erste Jahr genügen. Als Heilsbringer der Nation, zu dem er bei seinem ersten Anlauf auf die Präsidentschaft stilisiert wurde, musste sich Gauck nicht mehr bewähren. Nach der institutionellen Katastrophenfolge seiner beiden Vorgänger war die Heilzeit wichtiger, die er dem lädierten Amt verschafft hat.

    "Er ist präsidial und sonor, so wie man sich einen Bundespräsidenten vorstellt – von gelegentlichen Aufwallungen gegen junge Feministinnen abgesehen - finden das die Leute sehr angenehm und zurückhaltend, viel zurückhaltender, als man das bei einer so pastoralen Figur eigentlich gedacht hatte. Von daher sehe ich keinen bleibenden Schaden für das Amt des Bundespräsidenten."
    Christian Wulff bei seiner Rücktrittserklärung vom Amt des Bundespräsidenten
    Christian Wulff bei seiner Rücktrittserklärung (picture alliance / dpa/Michael Kappeler)

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