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Die Hundertjahrfeier

In Jorge Victoriano Alonsos Debüt Die Hundertjahrfeier geht es zu wie bei einem Kneipenpalaver. Schon nach wenigen Zeilen hat man einen behäbigen Erzähler vor Augen, der auf Geheiß seiner versammelten Kumpane Geschichten hervor kramt und sie lauthals zum besten gibt Jeder kriegt sein Fett ab, an Pointen, deftigen Stellen und schönen Frauen herrscht kein Mangel, für eine tragische Liebe und eine Moral am Schluss ist ebenfalls gesorgt. Die Leute wollen unterhalten werden, also lässt der beflissene Erzähler ganze Heerscharen von Figuren auf- und wieder abtreten, fügt Anekdote an Anekdote, Episode an Episode, Posse an Posse und gruppiert alles um die Hundertjahrfeier einer Provinzstadt herum, die mitten in der argentinischen Einöde liegt.

Maike Albath | 18.06.2002
    Aguinaldo heißt das Städtchen, um das sich die krakenartigen Haupt-, Neben- und Nebenebenhandlungen von Die Hundertjahrfeier winden Aus seiner Herkunft schöpft der Verfasser das Material für seinen Debütroman: Jorge Victoriano Alonso, aus einem 20.000-Seelen-Ort namens Coronel Suarez, 600 Kilometer südöstlich von Buenos Aires, gebürtig, hat nach einer erfolgreichen Medienkarriere seine literarische Ader entdeckt und mit Anfang 60 das aufgeschrieben, womit er seine Freunde seit Jahren am Cafetisch bei Laune hielt So jedenfalls schildert der Argentinier seine schriftstellerische Initiation, und damit das Ganze nicht in einem Possenfeuerwerk verpufft, erfand er noch etwas hinzu Umerfilttert wird der Geschichtenreigen durch eine Legende über die Entstehung der Stadt: Im Jahre 1906 war der spanische Kapitän und Apotheker Elogio de Aguinaldo nach einem spektakulären Schiffbmch irgendwo im Landesinneren aus dem Koma erwacht und hatte beschlossen, genau an dieser Stelle Puerto de Aguinaldo aufzubauen Dass der Ort gar nicht am Wasser lag, war dem noch von Fieberanfällen geschwächten Weltumsegler egal - seiner Erinnerung zufolge versank genau auf diesem Flecken sein geliebtes Schiff Celeste in den Fluten. Deshalb taufte er die zukünftige Stadt auf den Namen Puerto de Aguinaldo, Hafen von Aguinaldo Sogar einen Pier sollte er später bauen lassen

    Doch bevor man Näheres über die historischen Hintergründe erfährt und der geheimnisumwobene Kapitän samt seiner tragischen Liebe zu der schönen Melchora an Profil gewinnt, muss man 200 Seiten lang den Alltag von Aguinaldo über sich ergehen lassen Alonso will keine biedere Stadtchronik verfassen und kehrt deshalb die Reihenfolge der Geschehnisse zwischen der Gründung 1870 und der Feier hundert Jahre später um: Als erstes wird der Leser über das Festprogramm des Jubiläums informiert. Dann fallt er in ein Zeitloch und findet sich im November 1906 wieder, als Kapitän de Aguinaldo seine Stadt für immer verlässt, und Metchora ihren Töchtern befiehlt, sie wie eine Verstorbene zu behandeln, obwohl sie noch 64 Jahre auf ihren zweiten Tod wird warten müssen Es folgt ein ausführlicher zweiter Teil, angesiedelt im Jahre 1969, in dem von den Urenkeln des Gründers, etlichen Sonderlingen des Städtchens und den Verbreitungen auf die Feierlichkeilen die Rede ist. Teil drei umfasst dann die Festwoche im Sommer 1970, in Teil vier wird endlich die Geschichte des Kapitäns nachgeschoben und Teil fünf endet mit einem Desaster, das der Stadt den Garaus macht

    In Teil zwei, drei und fünf ergießt sich ein Anekdotenschwall über dem Leser, dass ihm der Kopf dröhnt und die Ohren pfeifen. Da drängeln sich der Bürgermeister Stremmler, seine Gattin und seine Geliebte neben dem Privatdetektiv Jose Costilla, dem pizzasüchtigen Tangospieler Bontempi und dem Tunichtgut Magellan, der aus Zeitvertreib das örtliche Radioprogramm mit erfundenen Nachrichten aufmischt Da wetteifern rachsüchtige Ehegatten mit erotomanischen Schwägern, die der angeheirateten Schwägerin verfallen sind Da überfallen vermummte Vergewaltiger heimliche Liebespaare, was die gesamte Bewohnerschaft in Ehekrisen stürzt Da buhlen pausenlos schlitzohrige Geschäftemacher, eifrige Feuerwehrleute und ehemalige Radrennfahrer nut enormer genitaler Potenz um die bessere Story. Außerdem wartet natürlich jeder, der hier auftritt, mit einer weitverzweigten Sippschaft auf, die ebenfalls in die Handlung verwickelt ist: Eltern, Großeltern, Geschwister, Neffen, Nichten, Großcousinen, Tanten und Onkel zweiten Grades stecken regelmäßig ihre Nase in die Angelegenheiten ihrer Verwandten, was in der Erzählung gebührend berücksichtigt wird Dass auch das Jubiläum in eine Katastrophe mündet, deutet sich schon zu Beginn des Romans an. Sogar hundert Jahre später hat der Kapitän die Macht über seine Stadt nicht verloren Er packt die Großmauler und Wichtigtuer an ihrer Achillesferse: der Geldgier. Als zum Jubiläum ein versiegelter Brief geöffnet wird, in dem von verbuddelten Goldbarren die Rede ist, machen die Bewohner von Auginaldo innerhalb weniger Wochen ihre Stadt dem Erdboden gleich

    Die demokratische Multi-Helden-Lösung bestimmt über weite Strecken die Ästhetik von Alonsos Erstling Der argentinische Journalist bedient sich der klassischen Stiltrottel des mündlichen Vertrags, variiert drei bis vier verschiedene Erzählmuster und arbeitet mit Wiederholungen und Übertreibungen, die mitunter ins Surreale münden und ihn in die Nähe des realismo magico rücken. Kein sonderlich origineller Weg innerhalb der lateinamerikanischen Tradition, zumal Gabriel Garcia Marquez schon in den 60er Jahren durch die Verschmelzung prarooderner Formen der Mündlichkeit und dem Erbe des Magischen Realismus eine bahnbrechende Erneuerung des südamerikanischen Romans gelungen war Alonso fällt eher dahinter zurück Weil er genau wie Marquez eine Stadt als dramaturgischen Angelpunkt wählt und auch sonst zahlreiche Rückgriffe auf "Hundert Jahre Einsamkeit" wagt - vom Niedergang Aguinaldos bis zu den inzestuösen Beziehungen der Bewohner untereinander - , vergleicht man ihn unweigerlich mit dem großen kolumbianischen Schriftsteller. Alonso gelingt mit Aguinaldo kaum mehr als ein fader Abklatsch des mythischen Macondo, das sich zu einer Chiffre fiir ganz Südamerika verdichtete.

    In Die Hundertjahrfeier entsteht aus den zersplitterten Geschichten das Bild eines sozialen Gefüges; weniger als Figuren sind es Typen, die Alonso zum Leben erweckt Wie in den Schildbürgerlegenden wird ein Menschenschlag porträtiert, und häufig verwendet der argentinische Journalist stereotype Wendungen der mündlichen Rede: "Sie war die schönste Frau von Aguinaldo" heißt es mehrfach, auch der wiederholt angestimmte Lobgesang auf die Hinterteile der Damen von Aguinaldo ist sprachlich eher eintönig. Weil es an Brechungen mit anderen Ausdrucksformen fehlt, wird der Anekdotenkranz nach und nach immer langweiliger. Zu den Lieblingsbeschäftigungen der Bewohner des Städtchens zählen Affären mit anderweitig gebundenen Frauen oder Männern, Auch hier schleicht sich eine gewisse Routine ein. Nur in den Bestrafungen unterscheiden sich die Rachefeldzüge gehörnter Ehemänner, die Bandbreite reicht von gebrochenen Knochen über Verbannung bis zum Tod Lediglich zwei oder drei Geschichten entfalten eine poetische Kraft und bleiben haften Zum Beispiel die von Egidio Costilla, der seinen Sohn in dem Glauben lässt, eine weite Reise zu unternehmen und ihn mit Briefen aus allen Winkeln der Welt versorgt, in Wirklichkeit aber den Freitod gewählt hat. Oder die von Faustino Fonseca, dessen Frau kein Klavier duldet und der auf einer Papptastatur seine Zuhörer mit den schönsten Melodien verzaubert Insgesamt überzeugender ist nur der vierte Teil des Romans über die Ankunft des Kapitäns und die Gründung der Stadt.

    Hier spürt man plötzlich einen epischen Atem und einen eigenen Ton Ansonsten ist "Die Hundertjahrfeier" nicht viel mehr als eine nette Slapsticksammlung made in Argentina