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Roberto Bolaño: "Cowboygräber"
Die Illusion von Freiheit und Glück

Sein Roman "2666" machte Roberto Bolaño weltberühmt. Seitdem gilt der Chilene als eine der wichtigsten Stimmen Lateinamerikas. In drei posthum erschienenen Erzählungen zeigt er noch einmal sein ganzes Können. Es geht um die gescheiterte Revolution und die einstigen Hoffnungen einer ganzen Generation.

Von Martin Grzimek | 11.11.2020
Buchcover: Roberto Bolaño: „Cowboygräber“
Roberto Bolaño erzählt von der Zerstörung jugendlicher Träume im Chile der 70er-Jahre (Buchcover: Carl Hanser Verlag, Hintergrund: Gerda Bergs)
"Als ich nach Hause kam, sagte ich zu meinem Vater, ich hätte meine Arbeit in Sonora gekündigt. (...) Was willst du stattdessen machen?, fragte mein Vater. Die Revolution, sagte ich. Welche Revolution?, fragte mein Vater. Die amerikanische Revolution natürlich, sagte ich. Welche amerikanische Revolution?, fragte er. Um Himmels willen, sagte meine Mutter, die bislang geschwiegen hatte. Dann sagte ich, ich würde nach Chile gehen. Die chilenische Revolution?, fragte mein Vater. Ich nickte. Aber du bist doch Mexikaner, sagte mein Vater. Nein, ich bin Chilene, sagte ich, aber darauf kommt es nicht an, wir Lateinamerikaner sollten alle nach Chile gehen, um die Revolution zu unterstützen."
Eine Szene aus Roberto Bolaños titelgebender Erzählung "Cowboygräber", einer weiteren Veröffentlichung aus dem Nachlass des 2003 verstorbenen Chilenen. Dieser Text wie auch noch zwei ebenfalls unveröffentlichte Erzählungen Bolaños kreisen in einer Mischung aus Fiktion und autobiographischen Details um das Thema Revolution, um die mit ihr verbundenen Hoffnungen und um ihr Scheitern.
Bolaño hatte als Sechzehnjähriger mit seiner Mutter Chile verlassen, um beim Vater in Mexico zu leben. Dort, im Land seiner ‚väterlichen’ Vorfahren, im Land der "Cowboys" hielt ihn aber nichts. Vier Jahre nach dem Umzug will er mit knapp 20 ins damals sozialistische Chile zurückkehren. Nach einer langen Reise quer durch den Kontinent, kommt er ausgerechnet in jenen Septembertagen in seiner Heimat an, als Präsident Allende durch einen Militärputsch gestürzt wird.
Vom Aufbruch der Familie ins ferne Mexiko, von der Begegnung mit pittoresken Großstadtbewohnern und eigenen dichterischen Anfängen handelt die erste Erzählung "Cowboygräber". Es geht um jenen legendären 11. September 1973, den Tag des Putsches. Bolaño erfindet für die Schilderung der damaligen Ereignisse einen fiktiven Ich-Erzähler, Arturo Belano, sein Alter Ego. Als er in Chile ankommt, wohnt Arturo bei einem befreundeten Maler.
Der Putsch und die Poesie
"Ich träumte von einer Frau mit leuchtenden Augen, als mich die Schreie von Juan de la Cruz weckten, dem Maler und Marienschnitzer, in dessen Haus ich wohnte. Im ersten Moment dachte ich, man würde mich aus dem Haus werfen oder ich hätte einen Anruf aus Mexico und etwas Schlimmes sei passiert, das vielleicht mit der Gesundheit meiner Mutter zu tun hatte. Dann wurde mir klar, dass Juan de la Cruz nicht schrie, sondern stöhnte und sich mit einer Hand die Haare raufte, während er mich mit der anderen Hand wachrüttelte. (...) Die Militärs haben geputscht, es ist alles aus."
"Es ist alles aus" – wie im Roman so auch in der Wirklichkeit: Die revolutionären Träume der jungen Generation waren verflogen. In der Folgezeit des 11. September wurden tausende von Studenten, Intellektuellen und Allende-Sympathisanten willkürlich verhaftet, inhaftiert, gefoltert oder ermordet. Auch Roberto Bolaño kam ins Gefängnis, wurde jedoch durch die Fürsprache eines ehemals mit ihm befreundeten Polizisten schon bald wieder freigelassen.
Ganz offensichtlich aber hat das Erlebnis der Gefangenschaft Bolaños gesamtes literarisches Werk und seinen Schreibstil wesentlich beeinflusst.
Die Erfahrung von Macht und Gewalt am eigenen Leib, das Erlebnis der Zerstörung jugendlicher Illusionen von Freiheit und Glück überträgt er in ein empathisches Erzählen, in dem sich Realität und Fiktion unablässig mischen. Eine Erzählweise, die mit der Tradition des magischen Realismus eines Gabriel García Márquez, mit den romantisierenden Themen eines Mario Vargas Llosa und mit den getragenen Versen eines Pablo Neruda bricht.
Realität und Fiktion
Bolaños Vorbilder sind andere, zum Beispiel der chilenische Dichter Nicanor Parra, der Begründer der "Antipoesie". Wie Parra beschäftigt sich auch Bolaño mit prägenden Erlebnissen der eigenen Biographie, zugleich aber verändert er sie durch das Spiel mit fiktiven Szenarien. Deshalb bietet Bolaño in dem Erzählband "Cowboygräber" gleich mehrere Versionen an, wie und wo sein Erzähler den Militärputsch Pinochets erlebt haben will. In der zweiten langen Geschichte mit dem Titel "Vaterland" befindet sich sein Held Belano am 11. September nicht mehr in einem Außenbezirk Santiagos. Rückblickend erinnert er sich, dass er sich an diesem Tag weitab von der Hauptstadt auf dem Land im Süden Chiles aufhielt.
"Alles begann vor vielen Jahren, am 11. September 1973 um sieben Uhr morgens in der Bibliothek des Landhauses von Antonio Narváez (...). Vor meinen von Müdigkeit geröteten Augen lümmelten sich rund zwanzig Personen auf Sofas und Teppichen. Alle hatten in dieser Nacht bis zum Gehtnichtmehr getrunken und gestritten. (...) Dann stieg ich auf Bitten des Gastgebers (...) auf einen Stuhl und begann ein Gedicht vorzutragen, um die Stimmung zu heben und die Zeit zu überbrücken (...) (Ich) rezitierte aus dem Gedächtnis eines der besten Gedichte von Nicanor Parra. Meine Stimme bebte. Meine gestikulierenden Hände zitterten. (...) Ich nahm den fünfzehnten Vers in Angriff, als (...) über Radio die Nachricht verbreitet (wurde), in Santiago sei ein Militärputsch in vollem Gange."
"Vaterland" ist in insgesamt zwanzig kurze Texte unterteilt. Liebesszenen vermischen sich mit Traumszenen, Redemanuskripten und Diskursen über Literatur. Die stilistisch und thematisch sehr unterschiedlichen "Vaterland"-Episoden haben den Charakter von Entwürfen und stehen möglicherweise im Zusammenhang mit der Planung von Büchern wie "Die Naziliteratur in Amerika" von 1996 oder von Bolaños erstem umfangreichem, drei Jahre später erschienen Roman "Die wilden Detektive". Als geschlossene Erzählung können sie kaum angesehen werden.
Französisch Guayana und der Surrealismus
Ganz anders dagegen die dritte, meisterhaft durchkomponierte Geschichte mit dem seltsamen Titel "Komödie vom Schrecken von Frankreich". Bolaño schrieb sie in seinem letzten Lebensjahr. Eine Gruppe junger Leute hält sich während einer Sonnenfinsternis in einem Straßencafé an der Küste Französisch Guyanas auf. Diodoro Pilon, der Erzähler, kommt auf seinem Heimweg vom Strand an einer Telefonzelle vorbei, in der unablässig das Telefon klingelt. Neugierig nimmt er den Hörer ab. Am Telefon meldet sich zu seiner Überraschung kein Geringerer als der französische Autor André Breton. Diodoro soll dessen "surrealistischer Untergrundliga" beitreten, die in der Kanalisation von Paris lebt und schreibt.
Dieses Mal verzichtet Bolaño auf jegliches pseudobiographische Versteckspiel. Vielleicht wollte uns der Autor hiermit seinen Respekt vor einer künstlerischen Strömung ausdrücken, die schon vor knapp hundert Jahren das Ineinandergleiten von Erinnerungs- und Phantasiewelten zu ihrem künstlerischen Programm erhoben hat. In Anlehnung an André Bretons Konzept der Aufhebung von "Traum und Wirklichkeit" versetzt uns Bolaño mit selten schöner Klarheit in die einzig wahre Realität, in das surreale Reich der Literatur.
Roberto Bolaño: "Cowboygräber. Drei Erzählungen"
aus dem Spanischen von Christian Hansen und Luis Ruby
mit einem Nachwort von Heinrich von Berenberg
Hanser Verlag, München. 191 Seiten, 22 Euro.