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Die jüdischen Igbo in Nigeria
Wo das Judentum wächst

Im Südosten Nigerias lebt eine kleine jüdische Minderheit, doch sie ist in den vergangenen Jahren immer größer geworden. Das hat auch politische Gründe, denn viele nigerianische Juden setzen sich dafür ein, dass der Südosten von Nigeria unabhängig wird.

Von Katrin Gänsler | 03.02.2020
Hagadol Ephraim Uba ist Vorsitzender der Vereinigung des jüdischen Glaubens
Hagadol Ephraim Uba ist Vorsitzender der Vereinigung des jüdischen Glaubens in Owerri. Die Gemeinde von Owerri gehört zur wachsenden jüdischen Minderheit in Nigeria (Deutschlandradio / Katrin Gänsler)
"Lasst uns nun in die Synagoge gehen. An der Tür der Synagoge haben wir die Mesusa. Die küsst man, bevor man eintritt."
Hagadol Ephraim Uba tritt in die kleine, schlichte Synagoge ein. Als orthodoxer Jude küsst er dabei die Mesusa, eine am Türpfosten angebrachte Schriftkapsel. Sie soll die Bewohner unter göttlichen Schutz stellen. Dann führt der Mann mit dem weißen Bart durch die Synagoge.
Unter der Decke hängen große Stoffstücke in verschiedenen Farben. Gut 50 Besucher haben Platz auf weißen Plastikstühlen. Die Fenster sind weit geöffnet, damit etwas Wind durch den kleinen Raum weht. In Owerri, Hauptstadt des Bundesstaates Imo im Südosten Nigerias, ist es die meiste Zeit des Jahres drückend heiß. Doch genau in dieser Region sind in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr Synagogen und jüdische Gemeinden entstanden. Auch Hagadol Ephraim Uba ist hier aufgewachsen. Einst war er Prediger in einer Kirche. Vor mehr als 30 Jahren trat er zum Judentum über und ist heute Vorsitzender der Vereinigung des jüdischen Glaubens.
Die jüdische Gemeinde in der Synagoge von Owerri im Südosten Nigerias
Die jüdische Gemeinde von Owerri in ihrer Synagoge (Deutschlandradio / Katrin Gänsler)
"Wir gehören zum verlorenen Stamm Israels und warten auf das Versprechen von Mose. Er soll uns ins gelobte Land führen, damit wir nicht mehr verfolgt werden. Israel wird von der ganzen Welt gehasst. Der gleiche Hass trifft auch uns."
"Wir Igbo sind die Juden Afrikas"
In Nigeria gibt es keinerlei Zahlen, wie viele Menschen sich zum Judentum bekennen. Die Gemeinde in Owerri hat eigenen Angaben zufolge mehr als 100 Mitglieder, Kinder und Jugendliche nicht mitgerechnet. Eng verbunden ist das Judentum hier allerdings mit einer ethnischen Gruppe: den Igbo. Zwischen 30 und 40 Millionen Menschen sind Igbo. In ganz Nigeria leben gut 200 Millionen Menschen. Wie es zu der Verbindung von Judentum und den Igbo kam, erklärt Obiora Ike. Ike ist in Nigeria ein bedeutender katholischer Theologe und Priester.
"Es ist eine Tatsache, dass Kultur und Lebensweise von der Igbo und Juden verbunden sind. Deshalb gehen wir davon aus: Über einen der zwölf Stämme Israels, den Stamm Gad, kam das Judentum nach Afrika. Wir Igbo sind die Juden Afrikas."
Befürworter dieser Theorie haben zahlreiche Beispiele parat, erläutert Obiora Ike – darunter allerdings auch viele Vorurteile:
"Juden gelten vielen Menschen als clever, die Igbo auch. Juden hätten wie die Igbo ein großes Bewusstsein für ihre Kultur. Beide seien gute Geschäftsleute. Für beide sei Religion wichtig. Aufgrund dieser scheinbaren Parallelen betrachten sich viele Igbo selbst als Juden. Allerdings fehlt es an wissenschaftlichen Arbeiten dazu."
Ein Gemeindemitglied küsst beim Eintreten in die Synagoge die Mesusa, eine am Türpfosten angebrachte Schriftkapsel
Ein Gemeindemitglied küsst beim Eintreten in die Synagoge die Mesusa, eine am Türpfosten angebrachte Schriftkapsel (Deutschlandradio / Katrin Gänsler)
Viele Igbo sehen sich bis heute zudem als Volk ohne eigenes Land. Das sollte vor mehr als 50 Jahren erkämpft werden. Doch der Unabhängigkeitskrieg um Biafra – wie der Südosten Nigerias auch genannt wird – endete mit bis zu zwei Millionen Toten und dem Sieg der nigerianischen Armee. Bis heute klagen viele Menschen im Südosten über Benachteiligung und Repressionen, und es gibt Unabhängigkeitsbewegungen wie die IPOB – Indigene Menschen für Biafra. Auch um das Bild der Unterdrückung zu verstärken, ziehen die Igbo Parallelen zum Judentum. Das macht auch Prince Emmanuel Kanu, der der mittlerweile verbotenen Bewegung IPOB angehört.
Forderung nach unabhängigem Staat Biafra
"Das ist es doch, woher wir kommen und wer wir sind: Wir sind die Juden aus Afrika. Man sieht das daran, wie wir beten, Gott ehren, wie wir uns kleiden. Es geht uns so sehr um das Judentum. Wir glauben daran. Und wir werden damit so lange weitermachen, bis Gott kommt."
Dass manche Igbo zum Judentum konvertieren, ist also oft auch eng verbunden mit der Forderung nach einem unabhängigen Staat Biafra. Der 34-jährige Avraham Ben Avraham hingegen interessiert sich weniger für einen solchen Staat. Der Journalist lebt in Lagos und arbeitet als "jüdischer Blogger", wie er sich selbst bezeichnet. Dafür besucht er im ganzen Land Synagogen. Avraham Ben Avraham trat vor drei Jahren zum Judentum über.
"Ich wurde in eine Adventisten-Gemeinde geboren. Mein Vater wollte, dass alle in der Familie derselben Kirche angehören. Nach seinem Tod wurden einige Katholiken, andere wurden Mitglieder in Pfingstkirchen. Das habe auch ich ausprobiert. Später bin ich aber zum Judentum zurückgekehrt."
Bisher nicht von Israel anerkannt
Zurückgekehrt - so sehen es viele Menschen: Das einstige Igbo-Judentum sei während der Kolonialzeit durch die christlichen Missionare verdrängt worden. Nun lebt es wieder auf. Die israelische Botschaft in Nigeria ist da offenbar skeptisch. Sie reagierte nicht auf die Bitte um eine Stellungnahme. Das dürfte daran liegen, dass die Igbo in Nigeria aus Sicht des Staates Israel keine Juden sind. Allein die aus Äthiopien stammenden Beta Israel werden von Israel und der internationalen jüdischen Gemeinschaft als Juden anerkannt. Es ist ein heikler Punkt. Denn es gibt verstreut über den Kontinent diverse afrikanische Gruppen, die sich dem jüdischen Volk zugehörig fühlen. Und anders als die Igbo wollen viele auswandern. In Israel wiederum gilt das Rückkehrgesetz. Es erlaubt seit 1950 Personen jüdischer Herkunft oder jüdischen Glaubens sowie deren Ehepartnern die Einwanderung nach Israel. Und so fragen sich skeptische Juden: Wie und bei wem wurden diese afrikanischen Juden Juden?
Jüdische Unterstützung für die Igbo in Nigeria gibt es allerdings auch - etwa von jüdischen US-Organisationen wie Kulanu mit Sitz in New York. Sie baut seit 1994 ein internationales Netzwerk auf, um weltweit kleine Gemeinden zu unterstützen. Auch Avraham Ben Avraham tauscht sich regelmäßig mit der Organisation aus. Sonst mangele es nämlich oft an Unterstützung für nigerianische Juden, kritisiert dieser:
"Eins fehlt uns Igbo-Juden: die Anerkennung durch die israelische Regierung. Wir werden immer dazu aufgefordert, ein Zertifikat unserer Konversion zu zeigen. Dabei sind wir jüdisch, wir haben jüdische Namen, wir beten auf Hebräisch."
"Igbo-Traditionen sind kein Widerspruch zum Judentum"
In der Synagoge in Owerri klingt das bisweilen aber anders. Dort gibt es nicht nur jüdische Gebete, sondern auch alte Igbo-Traditionen. Etwa das Teilen einer Kola-Nuss. Die bitter schmeckende Nuss ist platter und kleiner als ein Tischtennisball. Hagadol Ephraim Uba nimmt einige aus einem Korb.
Eine Kola-Nuss wird geteilt
Das Teilen einer Kola-Nuss gehört zu den Traditionen der Igbo (Deutschlandradio / Katrin Gänsler)
"Mit dieser Nuss heißen wir hier im Igbo-Land jemanden willkommen. Sie ist ein Zeichen der Einheit. Wenn man Gästen keine Kola-Nuss anbietet, dann hat man sie nicht respektvoll begrüßt."
Für Blogger Avraham Ben Avraham, der eifrig Hebräisch lernt und bald nach Israel reisen möchte, sind die Igbo-Traditionen kein Widerspruch zum Judentum, auch wenn es im ersten Moment danach aussehe. Es sei vielmehr eine Einheit von Religion und Tradition.
"Wenn wir uns für das Judentum einsetzen, machen wir das auch mit den wichtigsten Igbo-Traditionen. Dazu gehört die Macht der Kola-Nuss. Wenn sie also Teil des Gottesdienstes wird, macht das viel Sinn. Wir vergessen unsere Wurzeln nicht. Wir sind Israel, wir sind die Igbo, wir sind Juden."