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Die Jungfrau und ihre Stimmen

Vor 600 Jahren, am 6. Januar 1412, wurde Jeanne d`Arc geboren. Sie hatte während des Hundertjährigen Krieges die Franzosen gegen die Engländer und Burgunder angeführt, ehe sie nach einem beispiellosen Inquisitionsprozess verurteilt und auf dem Marktplatz von Rouen auf einem Scheiterhaufen verbrannt wurde.

Von Barbara Sichtermann | 01.01.2012
    Barbara Sichtermann erinnert in ihrem Essay "Die Jungfrau und ihre Stimmen - Jeanne d`Arc und das Übernatürliche" an die später selig und heiliggesprochene Märtyrerin.
    Barbara Sichtermann ist Schriftstellerin und Fernsehkritikerin. 2010 erschien ihr Buch "Frauen – einfach genial: 18 Erfinderinnen, die unsere Welt verändert haben".

    Die Jungfrau und ihre Stimmen
    Jeanne d'Arc und das Übernatürliche

    Als Jeanne d'Arc im Jahre 1429 mit den königlichen Truppen auf Orléans vorrückte, um die Stadt von der Belagerung durch die Engländer zu befreien, da dirigierte der Kommandant Dunois die Soldaten auf einen Umweg, woraufhin die Jungfrau sich empörte:

    "Im Namen Gottes! Der Rat meines himmlischen Herrn ist sicherer und weiser als der Eure, Dunois. Ihr habt geglaubt, mich täuschen zu können. Aber Ihr täuscht Euch selber, denn ich bringe bessere Hilfe, als sie jemals Soldaten und Bürgern zuteil geworden ist, die Hilfe des himmlischen Königs."

    Die Kriegerin Jeanne bevorzugte den Sturmangriff; taktische Manöver, wie die in langen Feldzügen ermüdeten Offiziere sie betrieben, waren ihr ein Gräuel. Graf Dunois bemühte sich, sie zu beruhigen. Er verwies auf die widrigen Winde, die an der Stelle, wo Jeanne den Fluss überqueren wollte, ständig wehten und für manchen Schiffbruch gesorgt hätten. Da hob die Jungfrau ihre Standarte, und der Wind drehte sich. Die Truppen konnten übersetzen und mit dem Kampf um die Stadt beginnen. Innerhalb weniger Tage wurden die Engländer von den Toren der Stadt und den Bollwerken längs der Loire vertrieben. Für die Jungfrau war dies der erste Triumph. Jetzt sollte ihr auch der Zug nach Reims gelingen – zur Krönungsstadt, in der Charles, der Dauphin, zum König geweiht würde.

    Der Wind, der sich vor Orléans drehte - das war ein Zeichen! Ein Zeichen für die übernatürliche Macht der Jungfrau. So dachten die ausgehungerten Bewohner der Stadt, so sah es der Thronerbe Charles und ebenso Graf Dunois. Man redete aufgeregt vom "Wunder an der Loire". Was aber glaubte Jeanne d'Arc? Sie hat nie vorgegeben, Wunder wirken zu können. Und als sie mit ihrem Tross in Orléans einzog, und die Menschen aus den Häusern stürzten, um eine Berührung ihres Beinkleids zu erhaschen oder gar die Hufe ihres Pferdes zu küssen, da reagierte sie zornig und verscheuchte das bewundernde Volk. Die Drehung des Windes war Gottes Werk gewesen, das wusste sie. Und wenn, was öfter geschah, jemand sie um Heilung von einer Krankheit oder um den Segen für die Ernte anging, antwortete sie schroff, nur der Herrgott könne solchen Segen spenden und man solle zu ihm beten.

    Die spätere Heilige war also eine sehr irdische, menschliche Persönlichkeit, was ihre Selbsteinschätzung betrifft. Dass Gott sie auserwählt hatte, um das Schicksal Frankreichs zu wenden, war nicht ihr Verdienst, sondern göttlicher Gnadenerweis. Sie führte aus, was ihr vom Höchsten aufgetragen war, folgsam, freudig, hartnäckig. Aber eine Seherin, eine Mystikerin, eine Wundertäterin war sie deshalb noch lange nicht.

    Ihre Mitwelt aber konnte das nicht so sehen. Das frühe 15. Jahrhundert war eine Welt voller Feen, Geister und Dämonen, und so sehr die christliche Religion sich auch darum bemüht hatte, den heidnischen Aberglauben zu vertreiben und stattdessen den Dienst an einer einzigen Gottheit verbindlich zu machen, so trug sie doch selbst durch ihre Drohungen mit Hölle und Teufel dazu bei, dass die alten Kobolde, weißen Frauen und Wiedergänger nur umgedeutet wurden, nicht aber verschwanden. Barbara Tuchman, amerikanische Historikerin und im Mittelalter forschend unterwegs, schrieb so über das Lebensgefühl der Menschen zur Zeit der Jeanne d'Arc:

    "Man lebte in enger Nachbarschaft mit dem Unerklärlichen. Die flackernden Lichter des Sumpfgases konnten nur Feen oder Elfen sein. Leuchtkäfer waren die Seelen ungetauft verstorbener Kinder. In den Erschütterungen, die ein Erdbeben mit sich brachte, waren übernatürliche Kräfte genauso am Werk wie in den Blitzen, die Bäume entzündeten. Stürme waren Vorzeichen, Tod durch Schlaganfall war das Werk böser Geister. Die Magie war ein immer präsentes Element dieser Welt.…Die Astronomie war die Königin der Wissenschaften und die Gestirne nach Gott die größten Lenker aller Dinge."

    Obwohl Jeanne d'Arc in einem Dorf aufgewachsen war, im lothringischen Domrémy, hatte sie sich dort von abergläubischen Ängsten und Erwartungen weitgehend frei gemacht und Herz und Verstand ganz dem Evangelium und den Lehren der Kirche geöffnet. Das galt aber nicht für das Volk, das ihren Sieg feierte, und sich irgendwie erklären musste, wie das alles geschehen konnte. Es war unumgänglich, dass es der Jungfrau übernatürliche Fähigkeiten zuschrieb, denn es war überzeugt davon, dass die normale Physik des Lebens für sie nicht gelte.

    Jeannes Zimmerwirtin in Orléans meinte, ihr hoher Gast dürfe sich ja wohl guten Mutes in jede Schlacht stürzen, da sie unverwundbar sei. Aber Jeanne, die sich selbst "la pucelle", die Jungfrau nannte, hatte bei den Kämpfen eine schwere Verletzung am Hals davon getragen. Dass die Wirtin darüber hinwegsehen konnte, versuchen die Historiker sich zu erklären. Vielleicht war es so, dass Jeanne selber ihre Wunde verbarg, weil sie nach und nach lernte, in ihrem Charisma eine Waffe zu sehen und es sich deshalb manchmal gefallen ließ, für ein höheres Wesen gehalten zu werden. Eines ist ganz sicher: Die Engländer flohen vor allem deshalb in hellen Scharen aus den Bollwerken um Orléans, weil sie wussten, dass die Pucelle das Schwert gegen sie erhoben hatte und weil sie diese unglaubliche Kriegerin fürchteten wie der Teufel das Weihwasser.

    Dabei hatte Jeanne auf eine sehr irdische und derbe Art den Kontakt mit ihnen gesucht. Sie fand es nicht richtig, die "Goddons", wie die Engländer im Volksmund genannt wurden: Nach der Art, wie sie fluchten und "Goddam" riefen, sie fand es nicht fair, die Goddons einfach zu überrennen, ohne sie zuvor zu warnen. Also schrieb sie ihnen vorab einen Brief. Jeanne war Analphabetin, sie bediente sich – wie viele, selbst hochgestellte Persönlichkeiten ihrer Zeit – eines Sekretärs, dem sie ihre Mitteilung diktierte. Und die lautete so:

    "König von England und ihr, Herzog von Bedford, der Ihr Euch als Regent des Königreichs Frankreich bezeichnet, gebt dem König des Himmels sein Recht und überlasst der Jungfrau, die von Gott hierher gesandt wurde, die Schlüssel aller guten Städte, die Ihr in Frankreich eingenommen und geschändet habt. Ich bin gesandt, um Euch, Mann für Mann, aus Frankreich hinauszuschlagen. Wenn Ihr gehorcht, werde ich Gnade walten lassen. Aber wenn Ihr die Verkündigung Gottes durch die Jungfrau nicht glauben wollt, so werden wir ein solches Kriegsgeschrei erheben, wie man es in Frankreich seit tausend Jahren nicht mehr gehört hat."

    Das alles klingt sehr irdisch, sehr direkt, da ist gar nichts Geheimnisvolles, nichts Mystisches dran – es ist eine Drohung mit Waffengewalt, und genau die wollte Jeanne anwenden, dem zögerlichen Dauphin und seinen kriegsmüden Truppen zum Trotz. Frankreich führte damals den "Hundertjährigen Krieg" gegen die englischen Invasoren; eingelassen in diese Kraftprobe waren bürgerkriegsähnliche Fehden der Häuser Orléans und Burgund, wobei letztere sich mit England verbanden. Im Grunde hatte Frankreich unter Karl schon aufgegeben – bis Jeanne kam und die kriegerische Entschlossenheit des Dauphin und seiner Soldaten neu befeuerte. Sie verstand es sogar, ein Schwert zu führen – es ist nie herausgefunden worden, wo die Siebzehnjährige das alles gelernt hatte.

    Um das Schwert der Jeanne d'Arc rankt sich eine weitere Legende, die ungefähr so populär war wie das Wunder vom sich drehenden Wind. Als es darum ging, von Chinon aus, wo der Dauphin Hoflager hielt, nach Orléans in den Kampf zu ziehen, musste die Jungfrau neu ausgestattet werden: mit einem Pferd, einer Rüstung und einer Standarte, und sie brauchte ja auch eine Waffe. Da verlangte sie, dass man in der Kirche St. Catherine im nahen Wallfahrtsort Fierbois hinter dem Altar nachsehen lasse. Dort müsse sich ein altes kostbares Schwert befinden, das sie zu führen wünsche. Ein Bote ritt dorthin, fand das Schwert und brachte es der Jungfrau, unter deren Berührung sogleich der ihm anhaftende Rost abfiel.

    Lange galt das Schwertwunder von Fierbois als Beweis für die seherische Kraft der Jungfrau. Wahrscheinlich gibt es eine einfache Erklärung. Denn auf dem Hinweg nach Chinon hatte Jeanne mit ihrem Tross in Fierbois Halt gemacht, um in der Kirche zu beten. Da konnte sie das Schwert gesehen oder aber gehört haben, dass man von ihm sprach. Doch die Legende vom Schwertwunder ist viel schöner, und die Bevölkerung Frankreichs weit über Orléans hinaus bestand darauf, dass die erhabene Kriegerin, die das Land von den englischen Invasoren befreien wollte, ein höheres Wesen sei.

    Für ihre seherischen Fähigkeiten gab es noch einen anderen, eher düsteren Beweis. Bei ihrem Einzug in Chinon wagte es ein Reiter, sie anzurufen und zu schmähen: Bist du nicht die Jungfrau, von der alle sprechen' Und er stieß einen Fluch aus und fügte hinzu, wenn Jeanne die nächste Nacht mit ihm verbrächte, sei es aus mit der Jungfräulichkeit. Darauf soll die Pucelle geantwortet haben:

    "Ha, im Namen Gottes, du fluchst seiner und bist doch dem Tode so nah!"

    Innerhalb der nächsten Stunde fiel der Mann in die Vienne und ertrank. Wahrheit oder Legende – den Bewunderern der Jungfrau schien es folgerichtig, dass die Beleidigung ihres Idols den Tod im Wasser nach sich zog.

    So sehr Jeanne darauf beharrte, von dieser Welt zu sein – es gab da doch etwas, das sie heraushob aus der Masse der Mitmenschen, und das waren ihre "Stimmen", schwer erklärliche Manifestationen, die sie hörte, seit sie dreizehn war. Diese Stimmen erteilten ihr den Auftrag, Frankreich zu befreien und sie verliehen ihr eine so außerordentliche Überzeugungskraft, dass eine ganze Riege hochrangiger Militärs bis hin zum Thronerben praktisch zu ihren Gefolgsleuten wurde.

    In unserer postreligiösen Kultur sind Stimmen ein Beleg für eine Spaltung der Persönlichkeit, schlimmstenfalls für Schizophrenie, also ein Krankheitssymptom und insofern auch sehr ernst zu nehmen. Aber dieser Ernst führt heute in die Klinik, zu Jeannes Zeiten führte er in die Obhut priesterlicher Anteilnahme, also in die Kirche. Der Priester entschied dann, ob es ein guter Geist war, der von den Besessenen Besitz ergriffen hatte, oder ein böser – wogegen immerhin der Exorzismus half. Stimmen aus anderen Welten gehörten sozusagen einst zum Leben der Menschen.

    Jeanne vertraute über lange Zeit niemand an, dass sie Stimmen vernahm, Stimmen, die ihr sehr konkrete Aufträge erteilten und die sich ihr als der heilige Michael, die heilige Katharina und die heilige Margarete vorstellten. Die erste Stimme, die sich an das dreizehnjährige Mädchen richtete, ist die des Erzengels Michael, erschien ihr in Begleitung einer Vision, eines strahlenden weißen Lichtes, und sie verlangte zunächst nicht mehr, als dass Jeanette, wie sie damals genannt wurde, ein frommes Leben führe, ihre Jungfräulichkeit bewahre und fleißig in die Kirche gehe. Aber diese Stimme fügte ihrer Ansprache noch ein Diskretionsgebot hinzu: Jeanette solle niemand von dem erzählen, was sie vernommen habe, weder ihren Eltern noch ihrem Beichtvater. Aus diesem direkten Draht zu den Heiligen bezog das Mädchen seine Kraft und sein unbegrenztes Vertrauen in die Göttlichkeit seiner Sendung. Edward Lucie-Smith, einer von Jeanne d'Arcs Biografen, drückt es so aus:

    "Jeanne glaubte fest und ohne Wankelmut an ihre Ratgeber; für sie waren sie sehr real. Als sie von ihren Richtern gefragt wurde, ob sie die Engel körperlich und in Wirklichkeit gesehen habe, erwiderte sie – und wir können noch heute den leidenschaftlichen Ton der Antwort spüren - : ‚Ich sah sie mit den Augen meines Körpers so deutlich, wie ich Euch hier sehe; und als sie mich verließen, weinte ich und sehnte mich danach, dass sie mich mit sich nähmen.'"

    Über lange Zeit blieben die Stimmen bezüglich des Auftrages, den sie Jeanne erteilen wollten, im Ungefähren – bis sie schließlich, während des Jahres 1428, konkret wurden: Jeanne solle zum Stadthauptmann des nahen Vaucouleurs gehen, sich dort eine Eskorte zuteilen lassen und mit dieser nach Chinon hinüberreiten, um den Königssohn zur Entsetzung des belagerten Orléans zu drängen. Die nächste Station hieße dann Reims, wo Charles im Dom zum rechtmäßigen König von Frankreich gekrönt werde.

    Wie wir wissen, brach Jeanne sogleich auf und tat, wie ihr geheißen. Sie musste immer wieder kämpfen, um vorgelassen zu werden, in Vaucouleurs ebenso wie in Chinon, denn sie war zwar lauter und verwegener als andere Mädchen vom Lande, aber sonst gab es nichts, womit sie sich für ihre ungewöhnliche Mission legitimieren konnte. Vielleicht war es ihr Blick, mit Sicherheit die Festigkeit, mit der sie betonte, sie komme von Gott, wodurch die hohen Herren, die sie zu überzeugen hatte, schließlich wankend wurden.

    Man konnte es nicht wissen. Dass der Allerhöchste ins Leben der Menschen eingriff, wann immer er drängende Anlässe vorfand, galt als ausgemacht, und er konnte, so dachte man, sehr wohl ein schlichtes Bauernkind erwählen, um seine Absicht kundzutun. Sicherheitshalber aber schickte der Hof von Chinon Jeanne erstmal zum Examen in die Universitätsstadt Poitiers, die nach der Eroberung von Paris durch die Engländer als bedeutendste Alma Mater des Königreiches galt.

    Dort wurde die Pucelle drei Wochen lang von einem Kollegium angesehener Theologen auf ihre Glaubensfestigkeit geprüft, und Damen aus dem Adel schauten nach, ob sie auch wirklich jungfräulich sei. Das war sehr wichtig, denn die Kirchenlehre ging davon aus, dass ein unberührtes Mädchen keinen Umgang mit dem Bösen gehabt haben konnte. Jeanne bestand beide Prüfungen und durfte nun nach Chinon zurückkehren, um mit Charles den Feldzug an die Loire zu planen.

    So sehr die Pucelle darauf bestand, eine Sendbotin Gottes zu sein, so sehr bedeckt hielt sich das gehorsame Mädchen, wann immer es um ihre Stimmen ging. Die Heiligen hatten zu ihr gesprochen, ja, von irgendwoher musste der göttliche Auftrag schließlich erteilt worden sein. Aber in die Einzelheiten wollte Jeanne, als sie in dem großen Inquisitionsprozess zu Rouen hochnotpeinlich befragt wurde, keinesfalls gehen. Sie wollte von ihrem Innersten, Geheimsten und Heiligen, als das wir ihre Stimmen verstehen dürfen, nichts preisgeben. Denn dann, so können wir folgern, würde seitens der Stimmen ein strafendes Schweigen einsetzen.

    Solange Jeanne mit den Truppen des Thronfolgers von Sieg zu Sieg eilte, sah die Kirche besorgt, aber wohlwollend zu. Das Mädchen hatte eine dreiwöchige Glaubensprüfung erfolgreich hinter sich gebracht, war also wohl keine ordinäre Zauberin, sondern wirklich von Gott gesandt. Als die Pucelle aber nach dem großen Triumph von Reims, der Krönung und Salbung des Dauphin zu Charles dem VII., weiterziehen wollte, um Paris und andere von den Engländern besetzte Städte im Norden zu befreien, als diese Feldzüge schrecklich scheiterten und Jeanne in Gefangenschaft geriet, da schüttelten die Erzbischöfe und Kardinäle ihre Köpfe und sprachen untereinander: Wäre die Jungfrau von Gott, so hätte sie weitere Siege errungen. Lässt der Allerhöchste seine Kriegerin fallen?

    Hinzu kam, dass den Engländern, die Jeanne für ein hohes Lösegeld von den Burgundern übernommen hatten, alles daran gelegen war, die Jungfrau als Ketzerin zu verdammen, denn so erschien ihre eigene Niederlage vor Orléans weniger peinlich. Wer könne schon gegen eine Zauberin gewinnen'! Und Charles des VII. Krone, auf die der englische König es selbst abgesehen hatte, saß nach einer Verdammung der Pucelle weit weniger fest. Jeanne wurde ins Gefängnis geworfen, ihr Prozess begann. Allein – sie wollte keinen Anwalt – stand sie sechzig Klerikern gegenüber.

    In der vierten öffentlichen Sitzung des Inquisitionsverfahrens 1431 zu Rouen befragte sie der Magister Beaupère:

    "Habt Ihr in den letzten beiden Tagen die Stimmen gehört und kam ein Licht mit ihnen?"

    "Das Licht kommt immer zusammen mit den Stimmen."

    "Seht Ihr zusammen mit den Stimmen und dem Licht gar nichts anderes, Johanna?"

    "Ich kann Euch nicht alles sagen; ich habe dazu keine Erlaubnis. Die Stimmen sind gütig und erhaben. Ich bin nicht gehalten, mehr zu sagen."

    "Johanna, seid Ihr gewiss, im Stande der Gnade zu sein?"

    "Wenn ich es nicht bin, möge mich Gott hinein versetzen. Wenn ich es bin, möge Gott mich darin erhalten! Ich wäre der traurigste Mensch auf Erden, wenn ich mich nicht in der Gnade Gottes wüsste. Wenn ich in der Sünde wäre, kämen die Stimmen nicht, denke ich. Möge doch jedermann das in gleicher Klarheit erkennen."

    Johannas Unwillen, über ihre Stimmen Auskunft zu geben, zieht sich durch den gesamten Prozess und war einer der Gründe für Exkommunikation und Todesurteil. Denn die vorbehaltslose Unterwerfung unter die Mutter Kirche, die man von Jeanne erwartete, bedeutete auch die Abgabe der Deutungshoheit über ihre Stimmen an die Priesterschaft, an den Klerus.

    Chefankläger Bischof Cauchon, der die Pariser Universität geleitet hatte und es mit den Engländern hielt, konnte es nicht ertragen, dass Jeanne darauf bestand, selbst über die Göttlichkeit ihrer Stimmen zu befinden – ihr störrisches Schweigen über die Eingebungen war ja ein Teil dieser Anmaßung. "Unterwerfung" hieß für den Bischof: Die Jungfrau hatte anzuerkennen, dass ihre Stimmen auch teuflischen Ursprungs gewesen sein könnten. Das aber zuzugeben war für Jeanne unmöglich. Immer wieder bedrängte sie Cauchon. Er war wohl wirklich davon überzeugt, eine unverbesserliche Ketzerin auf den Scheiterhaufen zu schicken und so der römisch-katholischen Kirche einen Dienst zu erweisen.

    Gleichwohl bemühte sich der Gottesmann, das betont die Forschung heute, Jeanne einen fairen Prozess zu machen und ihr Hilfe anzubieten. So suchte er sie mit acht Patres in ihrem Kerker auf und sprach zu ihr:

    "Johanna, alle diese Gelehrten sind zu Euch gekommen in christlicher Liebe, um Euch beizustehen. Während vieler Tage seid Ihr in Gegenwart zahlreicher Gelehrter in schwerwiegenden Fragen des Glaubens geprüft worden. Ihr habt verschiedene Antworten gegeben, welche von den Sachverständigen sorgfältig durchforscht wurden. Sie haben viele den Glauben gefährdende Aussagen entdeckt. Aber da Ihr ungelehrt seid und nicht schreiben könnt, wollen wir Euch einige zuverlässige und wohlwollende Gelehrte zur Seite stellen, die Euch mit Sorgfalt unterrichten und mit ihrem Rat behilflich sein werden."

    Doch Johanna lehnte jede Assistenz ab.

    "Es scheint mir, ich bin in großer Gefahr des Todes. Wenn dem so ist, dass Gott nach Seinem Gefallen mit mir verfahren will, so bitte ich Euch, die Beichte ablegen zu dürfen und den Leib des Herrn zu empfangen. Und ich bitte um ein Grab in geweihter Erde."

    "Wenn Ihr der Sakramente der Kirche teilhaftig sein wollt, so müsst Ihr Euch wie eine gute Christin der heiligen Kirche unterwerfen."

    "Ich berufe mich auf Unseren Herrn, der mich gesandt hat, auf Unsere Liebe Frau und alle Heiligen des Paradieses. Es scheint mir, dass Unser Herr und die Kirche ein und dasselbe sind. Das ist ganz einfach. Warum macht Ihr damit Schwierigkeiten?"

    "Die Heilsmittel der katholischen Kirche werden Euch nur gewährt, wenn Ihr Euch der Kirche unterwerft!"

    "Zu dieser Unterwerfung kann ich nichts anderes sagen, als was ich schon gesagt habe. Ich liebe Gott, ich diene ihm, ich bin eine gute Christin, und ich möchte wohl der heiligen Kirche helfen und sie stützen mit meiner ganzen Kraft. Aber meine Worte und Taten übergebe und überlasse ich allein Gott, der mich tun hieß, was ich getan habe."

    Johanna wusste genau, dass es bei der Deutungshoheit über ihre Stimmen um einen Machtkampf ging, dass man ihr den "direkten Draht zu Gott" nicht gönnen wollte. Sie trat allein vor ein Gericht, das die Christenheit zu vertreten vorgab; auf eine Rettung durch König Charles hatte sie vergeblich gehofft. Aber sie wusste Gott auf ihrer Seite, das war alles, was sie brauchte, um durchzuhalten. Am Tage vor ihrem sicheren Tod packte sie eine kreatürliche Angst, und sie unterzeichnete einen vorbereiteten Widerruf, ohne ihn zu lesen. Doch ihre Panik verging, und sie widerrief den Widerruf. Monseigneur Cauchon suchte sie in ihrer Gefängniszelle auf.

    "Was soll das heißen? Habt Ihr nicht abgeschworen?"

    "Gott hat mir durch die heilige Katharina und die heilige Margarete den großen Jammer meines Verrats zu wissen gegeben, in den ich gewilligt habe mit meiner Abschwörung, um mein Leben zu retten. Wenn ich sagen würde, Gott hätte mich nicht gesandt, so würde ich mich selbst verdammen. Es war aus Angst vor dem Feuer, dass ich widerrufen habe."

    "Ihr glaubt, dass Eure Stimmen von der heiligen Katharina und der heiligen Margarete kommen?"

    "Ja, und von Gott."

    "Aber Ihr habt doch bekannt, Ihr hättet lügnerisch geprahlt, dass eure Erscheinungen die der Heiligen gewesen."

    "Was ich widerrufen habe, war wider die Wahrheit. Ich habe nie etwas gegen Gott und den Glauben getan. Von dem, was in der Abschwörungsurkunde stand, habe ich nichts verstanden. Ich hatte nicht wirklich im Sinn, etwas zu widerrufen, außer wenn es Gott gefalle."

    Und so ließ sich Jeanne auf den Marktplatz führen und dem Scheiterhaufen überantworten, am 30. Mai 1431.

    Die Urteilsbegründung lautete:

    "Wann immer der Irrglaube mit seinem verpestenden Gift ein Glied der Kirche ansteckt und in ein Glied des Satans verwandelt, so muss man mit brennendem Eifer verhindern, dass die gefährliche Ansteckung auch auf andere Teile des mystischen Leibes Christi übergreife.- So erkennen wir Euch, Jeanne d'Arc, der Exkommunikation verfallen, der Ketzerei und der Teufelsanbetung für schuldig."

    Diese Strenge des Cauchon kam nicht aus dem Nichts. Die Kirche hatte infolge des Papstschismas erheblich an Ansehen verloren. Und durch Prediger wie John Wyclif und Johannes Hus, Vorläufer der Reformation, deren feurige Kritik an den klerikalen Institutionen sich weit verbreitet und die Völker in Aufruhr versetzt hatte, waren die amtlichen Nachfolger Petri in Erklärungsnot geraten. Mit der Ketzerei sollte jetzt endgültig Schluss ein. Und Johanna, auch sie durch ihren "direkten Draht" eine erste Protestantin, eignete sich gut zum Exempel. Sie war populär, hatte sich durch ihre Siege ins Gedächtnis der Menschen eingeschrieben, und jetzt sollte die Christenheit lernen, dass sie einer Zauberin auf den Leim gegangen war und sich künftighin nicht mehr leichtfertig, das heißt ohne priesterliche Absegnung, einer Stimmen hörenden Person anvertrauen und ihr zujubeln dürfe.

    Als Jeanne endlich tot war, stießen die Kirchenfürsten einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Hatte doch dieses widerborstige, wortgewandte, halsstarrige Geschöpf es ihnen furchtbar schwer gemacht. Das Verfahren verschlang Monate. Und als es endlich so weit war, dass das Todesurteil vollstreckt werden sollte, widerrief sie auch noch und verlängerte die Agonie. Aber es half nichts, die Verstockte musste brennen. Ihre Asche wurde in den Fluss gestreut, um Wallfahrten zu einem Grabe vorzubeugen.

    Das war nötig. Denn das Volk kümmerte sich weniger um "Schwierigkeiten", wie Jeanne selbst es nannte, die bei der Beurteilung ihres Falles für den Klerus auftauchten. Das Volk war von ihr bezaubert und wollte sich diese schöne Stimmung, die der Kirche natürlich verdächtig war, nicht nehmen lassen. Es wäre hoch motiviert zu ihrem Grabe gewandert, und da es keines gab, musste es seiner Verehrung in anderer Weise Ausdruck verleihen: Es schuf Legenden von Visionen und Wundern und pflegte so ihre Aura über den Tod hinaus. Und solange es noch Menschen gab, die Jeanne gekannt hatten, erzählten sie einander und ihren Kindern von der Grandiosität dieser Kämpferin.

    Was ihre Intelligenz betrifft, so waren die Meinungen allerdings geteilt. Manche fanden sie einfach nur naiv und eher arm im Geiste. Ihr heutiger Biograf Heinz Thomas schreibt:

    "Wer je Passagen aus dem Protokoll des Verfahrens von Rouen gelesen hat, wird das für unglaublich halten. Über viele Stunden hinweg hat sich die Angeklagte hier als ebenbürtige Gegnerin der in Disputen geschulten Herren aus Paris oder Rouen erwiesen. Und in Poitiers muss es nicht anders gewesen sein. Die Mitteilungen eines Dominikaners über die dort geführten Diskussionen lassen keinen Zweifel daran, dass sie die Theologen Charles des VII. mit überraschenden Repliken in die eingeübten Paraden fuhr und sie damit aus dem Konzept brachte. Ein anderer Zeitzeuge berichtete dies: 'Welch wunderschönes Schauspiel! Eine Frau mit Männern, die Ungelehrte mit Gelehrten, die Einsame mit Vielen, die Geringste disputiert über das Höchste.'"

    Als Charles VII. schließlich die Engländer über den Kanal zurückgedrängt, sich mit den Burgundern verständigt und so den Hundertjährigen Krieg beendet hatte, war es für ihn Zeit, sich an die Jungfrau zu erinnern, vor allem daran, dass ihre Verdammung einen tiefen Schatten auf die Legitimität seiner Herrschaft geworfen hatte. Er strengte im Jahre 1450 den sogenannten Revisionsprozess an, der Jeanne im Nachhinein vom Vorwurf der Häresie, der Gotteslästerung und der Teufelskumpanei freisprechen und so auch seine eigene Königswürde vom Makel okkulter Praktiken reinigen sollte. An den Rektor der Pariser Universität, den renommierten Theologen Guillaume Bouillé, sandte er dieses Schreiben:

    "Da es schon eine gute Weile her ist, das Johanna, die Jungfrau, gefangen genommen und in die Stadt Rouen gebracht wurde von Unseren alten Feinden, den Engländern, welche durch gewisse, von ihnen bestellte Personen jenen Prozess gegen sie anstrengen ließen, in welchem sie mancherlei Fehler gemacht und Regelwidrigkeiten begangen haben, derart, dass infolge des besagten Prozesses und des tiefen Hasses Unserer Feinde Johanna schändlich und widerrechtlich und überaus grausam sterben musste, - und da wir die Wahrheit über den besagten Prozess wissen wollen, befehlen wir, dass Ihr Euch darüber erkundigt und uns über das, was dort geschah, informiert."

    Der Revisionsprozess fand statt und zog sich über mehrere Jahre hin. Es war formal nicht leicht für die weltliche Gewalt, das Urteil in einem Kirchenrechtsprozess nachträglich aufzuheben. Aber man fand genug Verfahrensfehler, um die Jungfrau am Ende von allen Sünden und Verbrechen freisprechen zu können. Das gefiel natürlich den Engländern gar nicht, aber sie hatten ihre Domänen auf dem Festland ohnehin fast ganz verloren und konnten nichts mehr dagegen ausrichten, dass Charles des VII. Krone nun fest auf seinem Haupte saß.

    Das Volk verehrte seine Jungfrau umso freimütiger. Die Kirche musste sich irgendwann dazu durchringen, die französische Nationalheilige ihrerseits wieder aufzunehmen. 1909 wurde sie selig-, 1920 heiliggesprochen.