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Die Kinder des Großen Bruders

Datenschützer warnen vor elektronischer Totalkontrolle der Deutschen. Kriminalisten und Sicherheitspolitiker hingegen verstehen die Aufregung nicht.

Von Hans Leyendecker | 01.01.2008
    "Wie alt mag der Bursche sein? 16, 17 vielleicht, er geht die Fußgängerstraße runter Richtung Town Hall. Jeans, braune Jacke, breite Schultern, Imponiergang. An der Ampel bleibt er stehen, pickt die letzten Fish und Chips aus seiner Pappschale. Acht Meter über ihm hängt eine Kamera, er nimmt sie nicht wahr."

    So beginnt eine Reportage des "Spiegel"-Journalisten Ansbert Kneip über Kameras, die nicht nur überwachen, sondern sogar Passanten anschnauzen können.

    "Auf so einen hat Jack Bonnar gewartet. Er kennt diese Typen. Bonnar steht anderthalb Kilometer von der Kamera entfernt in einem Kontrollraum, vor sich die Videowand. Bonnar leitet die Überwachungszentrale von Middlesbrough in Nordengland. Er ist Herr über 159 Kameras, der oberste Aufpasser der Stadt. Den Teenager von der Ampel hat er sich auf den Hauptmonitor gelegt. Er zoomt näher heran. Der Typ wird gleich gegen die guten Sitten verstoßen, gegen Bürgersinn, Anstand, gegen die Hausordnung von Middlesbrough gewissermaßen. Bonnar streckt sich. Er greift sich das Mikrofon vom Tisch, schaltet ein, wartet. Und der Junge auf dem Schirm schmeißt seine Pommes-Schale auf den Boden. Erwischt. 'Würde der Gentleman in dem braunen Mantel bitte seinen Müll aufheben und ihn dort entsorgen, wo er hingehört?" fragt Bonnar ins Mikrofon. Der Staat dirigiert seine Bürger vom Laternenpfahl aus.'"

    "Public ashaming" nennt Bonnar sein öffentliches Anprangern. Natürlich hat der Typ im braunen Mantel, über den die Leute an der Kreuzung tuschelten, die Schale schamrot und pflichtschuldigst in den Papierkorb geworfen. "Thank you", hat die Kamera gesagt. Ein tüchtiger Statistiker hat einmal ausgerechnet, dass jeder Brite bei seinen Tagesverrichtungen bis zu 300- Mal am Tag gefilmt wird. Mehr als vier Millionen Überwachungskameras gibt es in England. Die sprechende Kamera erinnert an Orwells 1984, doch dieser Vergleich führt in die Irre. Orwell wäre nie eingefallen, was es heute alles so gibt.

    Über das eingeschaltete Handy können Telefonierer, die sich früher in Telefonzellen verstecken konnten, jederzeit geortet werden, auf Chipkarten findet alles Wichtige über eine Person Platz. Elektronische Patientenkarten, die bundesweit 2009 eingeführt werden, sollen zunächst Basis-Informationen wie Name, Adresse, Krankenkasse enthalten. Später aber soll ein Chip Zugang zu auf Zentralrechnern gespeicherten digitalen Krankenakten mit Details über Behandlungen, und Therapien bekommen. Hochsensibel. Die Speicherung von Fingerabdrücken jedes Bundesbürgers in Ausweisdokumenten, der Biometriepass, eine immer großflächigere Videoüberwachung, die Anti-Terrordatei, die vorsorgliche Speicherung von Telefondaten und Internetzugriffen, heimliche Online-Durchsuchungen - der Staat weitet seine Kontrolle mit Hilfe neuer Technik immer mehr aus.

    Unablässig und nimmermüde wird kontrolliert. So haben acht Bundesländer in ihre Polizeigesetze die permanente Kontrolle von Autokennzeichen geschrieben. 365 Tage lang lassen sie den Verkehr per Videokamera filmen, die Kamera ist mit Computersystemen gekoppelt. Die Kennzeichen werden mit Fahndungsdateien abgeglichen. Schließlich kann das Auto gestohlen sein, oder der Halter hat seine Haftpflichtversicherung nicht bezahlt.

    Datenschützer warnen vor elektronischer Totalkontrolle. Kriminalisten und Sicherheitspolitiker hingegen verstehen die Aufregung nicht. Politiker wie Schäuble berufen sich gern auf den britischen Staatstheoretiker Thomas Hobbes, der vor mehr als vier Jahrhunderten in seinem Werk "Leviathan" als Ziel ausgegeben hat, mit Hilfe staatlicher Gewalt ein Leben in Sicherheit zu ermöglichen. Datenschützer dagegen zitieren gern liberale Denker wie Alexis de Tocqueville und John Stuart Mill, die vor gut 150 Jahren schon darauf hingewiesen haben, dass die Freiheit in der Demokratie ganz anderen Angriffen ausgesetzt sei als in der Despotie.

    Egal ob einer der Hobbes'schen oder der Mill'schen Theorie anhängt - die Trennung von privat und öffentlich verschwindet. Auf einer Internationalen Datenschutzkonferenz in London im Spätherbst 2006 erklärte die Vertreterin einer Bürgerrechtsorganisation den Weg in die Überwachungsgesellschaft mit einem recht anschaulichen Beispiel: Ein Frosch, den man in einen Kessel mit heißem Wasser wirft, springt, wenn er denn kann, sofort wieder ins Freie. Setzt man ihn in einen Topf mit kaltem Wasser und erwärmt das Wasser nur allmählich, bleibt er drin. Aber seine Kräfte erlahmen. Wenn das Wasser sprudelt und kocht, ist der Frosch tot. Auch die Privatsphäre verträgt zu viel Hitze nicht.

    ""Der Staat ist in den Wirren des neuen Informationszeitalters nicht nur eine schützende Hand. Er verfügt nach wie vor über die Kraft und auch die Macht, die Freiheit zu gefährden. Gerade die Gesetzeshektik nach den Anschlägen vom 11. September zeigt, dass vom Staat einerseits Schutz erwartet wird, dass aber andererseits Anlass zur Sorge besteht, von ihm könnten neue Gefahren ausgehen. Die terroristische Bedrohung führt den Staat in Versuchung, jetzt das zu tun, was er schon immer tun wollte, aber aus rechtsstaatlichen Gründen bisher nicht tun durfte. Konkret: Es gibt viele neue Ideen zu neuen Gesetzen über den Zugriff auf die Daten der Bürger."

    Das schrieb am 6. Dezember 2001, also knapp drei Monate nach den Terroranschlägen von New York, Bundesverfassungsrichter Wolfgang Hoffmann-Riem in einem Essay für das Wochenblatt "Die Zeit". Sechs Jahre nach diesen warnenden Worten eines der obersten Richter der Republik sind mehr als ein Dutzend neue Sicherheitsgesetze erlassen worden, und es werden immer mehr.

    Der Staat wird zum Präventionsstaat. Im Präventionsstaat verschwinden die Grenzen zwischen Strafverfolgung, Polizei, Nachrichtendiensten und Militär. Im Präventionsstaat wird der staatliche Zugriff auf private Konten, Dateien und Gespräche umfassend erlaubt.

    Dein Staat, dein Freund, dein Helfer macht keine großen Unterscheidungen mehr zwischen Verdächtigen und Unverdächtigen. Weil grundsätzlich jeder Einzelne als Risikofaktor gilt, muss sich auch jeder Einzelne gefallen lassen, erst einmal, zur Sicherheit, kontrolliert zu werden.

    Das Gesetz zur Speicherung aller Kommunikationsdaten auf Vorrat ist ein Beispiel für die neue Maßlosigkeit der Sicherheitspolitik. Es ist auch ein Anschlag auf die Pressefreiheit, weil es den Informantenschutz aushebeln kann. Bei dieser Vorratsdatenspeicherung werden sechs Monate lang Rufnummer, Uhrzeit, Datum der Verbindung gespeichert. Gespeichert wird bei Handys der Standort von Anrufer und Angerufenem, gespeichert werden die E-Mail- und IP-Adressen von Sendern und Empfängern, gespeichert werden die Verbindungsdaten bei Internet-Nutzung.

    Das Verhalten der Bürger wird registriert. Ohne jeden Verdacht einer Straftat können sensible Informationen über Geschäftsbeziehungen, Kontakte mit Ärzten, Psychologen, Beratungsstellen gespeichert werden. Was alle trifft, trifft den Journalismus in besonderer Weise. Medien sind darauf angewiesen, dass sie vertraulich mit Informanten in Kontakt stehen können. Wie aber soll beispielsweise ein Beamter des Bundeskriminalamts unbefangen mit einem Journalisten über Missstände in seinem Amt am Telefon sprechen, wenn die Daten gespeichert werden und wenn er den staatlichen Zugriff auf diese Daten fürchten muss?

    Die präventive Logik ist expansiv, sie ist gierig. Sie braucht immer mehr Nahrung, sie wird nie satt. Demnächst sollen staatliche Schnüffler auf Personalcomputern von Verdächtigen Spionageprogramme installieren können. Einmal aktiviert können die staatlichen Hacker auch auf das Privateste zurückgreifen. "Natürlich sind heimliche Maßnahmen für die Ermittler bequemer und einfacher. Aber das ist nicht der Maßstab für Grundrechtseingriffe". Das stammt nicht von einem Datenschützer oder einem Grünen. Es ist Bundesjustizministerin Brigitte Zypries, die ausgerechnet auf einem europäischen Polizeikongress vor staatlichem Hacking warnte.

    "Bald wissen wir alles über die Kunden. Was Kunden kaufen, wann sie es kaufen und wo, was sie in ihrer Freizeit tun, wie sie leben - all das wird in wenigen Jahren offenliegen. Die Technologien dafür sind da, in den nächsten Jahren werden sie gebündelt und damit einen Strom von unbekannter Breite erzeugen: Rechnen Sie mit einer exponentiellen Vermehrung des Wissens über Ihre Kunden - und machen Sie sich das zunutze, bevor es ihre Wettbewerber tun."

    So schwärmte schon vor gut zwei Jahren der Informationsdienst für Unternehmer, Manager und Marketingleiter über die neuen Möglichkeiten des sogenannten Profiling von Kunden.

    Schon seit vielen Jahren sammeln Adressenhändler gezielt Informationen über Zahlungsmoral, Konsumverhalten und Einkommensverhältnisse der Haushalte in Deutschland und verkaufen die Ergebnisse für Werbezwecke. Selbst das Kraftfahrtbundesamt oder Landesvermessungsämter sind dabei behilflich. Die Kraftfahrt-Behörde verrät gegen Gebühr, unter welchen Adressen welche Automarken gemeldet sind, und zur Anonymisierung werden etliche Haushalte zusammengefasst. Die Vermessungsämter haben eine "Gemeinschaft zur Verbreitung der Hauskoordinaten" gegründet, die mit den GPS-Koordinaten der Gebäude ihr Geld verdient.

    Neu ist die Verschmelzung der derart gewonnen Erkenntnisse mit detaillierten Orts- und Stadtplänen sowie digitalen Landkarten. "Geomarketing" wird diese Verknüpfung des kartografischen Materials mit statistischen und soziodemografischen Informationen genannt. Straßenabschnitte mit säumigen Zahlern bekommen schlechte Noten, gute Noten erhalten Viertel mit guter Zahlungsmoral. Wer am falschen Ort wohnt, wundert sich möglicherweise, warum er keinen oder nur zu schlechten Konditionen einen Kredit bekommt.

    Das Bankgeheimnis ist schon lange eine Legende. Geldinstitute stellen Zinsen, Dividenden und Spekulationsgewinne in einer Erträgnisaufstellung für den Kontoinhaber zusammen, die das Finanzamt anfordern kann. Die in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Kreditinstitute geregelte Verschwiegenheitspflicht hat keine Wirkung gegenüber staatlichen Stellen. Rentenversicherer und Pensionskassen melden den zuständigen Finanzämtern, wie viel sie jedem einzelnen auszahlen.

    Auch in den Geschäften wird bald der Kunde gläsern. Mit Hilfe von Analysetools und Scoring-Verfahren können leicht Kundenbestand, aber auch das Profil der Kunden ermittelt werden. Am Ende können dann Produktdaten mit persönlichen Angaben verknüpft werden. Zahlt der Kunde an der Kasse mit EC- oder Kundenkarte, wird das Profil für Marktforschung und Werbung eingesetzt. Beim Besuch im Supermarkt ist der Kunde gleich am Eingang identifizierbar. Die technischen Möglichkeiten wachsen in rasantem Tempo. "Ubiquitous Computing", allgegenwärtige Datenverarbeitung, lautet der Fachbegriff für die dramatische Veränderung der Informationstechnik. Bald könnte es den intelligenten Kühlschrank geben, der automatisch Lebensmittel über das Internet nachbestellt, wenn das Haltbarkeitsdatum abläuft. Es wird intelligente Häuser mit Selbst- und Fernsteuerung, es wird vielleicht sogar intelligente Gärten geben. Schöne neue unheimliche Welt.

    "Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten / sie fliegen vorbei, wie nächtliche Schatten / Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen/ Es bleibet dabei: Die Gedanken sind frei!"

    Vor 175 Jahren, also kurz nach dem Hambacher Fest, der Geburtsstunde der deutschen Demokratie, sangen die Freiheitsbewegten trotzig diese Strophe des alten Liedes und priesen das stille Heim als Schutzraum vor dem Zugriff des Staates.

    150 Jahre später, vor einem Vierteljahrhundert, gab es in Deutschland eine Volksbewegung, die Ungehorsam gegen den vermeintlichen Überwachungsstaat organisierte. Sie forderte zum Boykott der Volkszählung auf und warnte vor dem Missbrauch der Informationen. Von Theaterbühnen wurden Boykottaufrufe verkündet, und sogenannte VoBo-Aktivisten skandierten: "Meine Daten müsst ihr raten." Der Protest war erfolgreich. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe stoppte das Gesetz.

    Wie sich die Zeiten ändern: Die Strophen des Freiheitsliedes singen nicht einmal mehr die Kinder, und der Volkszählungsboykott ist auch schon Geschichte. Der Zensus ist kein Aufreger mehr. Bis 2010 will die Bundesregierung wichtige Daten der Deutschen erneut erfassen lassen. Und Umfragen zeigen, dass mittlerweile mehr als drei Viertel der Bundesbürger dagegen keine Bedenken haben.

    Längst hat das Internet die alte Unterscheidung von Privatem und Öffentlichem schleichend eingeebnet. Allerorten wird das Leben ausgestellt und ausspioniert. Heimlich im Klassenraum gefilmte Wutausbrüche von Lehrern finden sich im Internet ebenso wie das privateste Private. Staatliche Kontrollen, wirtschaftliche Interessen und technologische Entwicklungen bedrohen die Privatsphäre.

    "Die Bundesrepublik war nie ein Überwachungsstaat, aber wir entwickeln uns zu einer Gesellschaft, in der immer mehr Überwachung stattfindet", stellt der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Peter Schaar, nüchtern fest, der ein lesenswertes Buch über "Das Ende der Privatheit" geschrieben hat.

    Der Austausch von Informationen, die Kommunikation muss frei sein, und es muss auch dafür gesorgt werden, dass alle Bürger sich im Datennetz frei bewegen können, aber die Nutzer müssen davor geschützt werden, dass die Informationen gefiltert werden, und sie müssen sich selbst schützen. Es gibt nicht den großen Bruder, sondern viele kleine Brüder, und die Bürger nehmen die Brüder nicht ernst. Sorglos wird das Internet genutzt. Es ist alltäglich geworden, sich ein bisschen zumindest, zu exhibitionieren. In Jonathan Franzens Welterfolg "Die Korrekturen" lässt der jugendliche Sohn die Küche mit einer Kamera kontrollieren, die aus dem Kinderzimmer gesteuert wird. Der Begriff des Privaten wird zunehmend ambivalent.

    Hartnäckig ignorieren Computernutzer, dass sie in der virtuellen Welt erkennbar sind, wenn sie sich nicht mit einem Pseudonym bewegen oder ihre Informationen verschlüsseln. Stattdessen füttern sie das Netz freiwillig mit persönlichsten Daten, absolvieren Psychotests für Bewerbungen und beteiligen sich redselig an Foren. Das Netz ist auch eine gigantische Fundgrube für gewerbliche Datensammler geworden.

    Das Erstaunliche dabei ist, dass viele Bürger die Kapitulation der Privatheit schulterzuckend hinnehmen. Dabei ist es erst 24 Jahre her, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Volkszählungsurteil Grundlegendes über das Recht auf Privatheit gesagt hat. Die Richter wandten sich gegen eine Gesellschaftsordnung, "in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß". Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, es steht nicht wortwörtlich in der Verfassung, aber es wurde von den Richtern vor mehr als 20 Jahren definiert. Der Bürger solle, so hieß es damals, nicht befürchten müssen, "dass abweichende Verhaltensweisen notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergeben werden dürfen". Das Urteil stammt exakt vom 15. Dezember 1983. Aber die Frage, wer was wann und warum bei welcher Gelegenheit über jemanden in Erfahrung bringen will, klingt heute schon fast anachronistisch.