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"Die Kirche muss sich radikal renovieren"

Missbrauchsfälle, ein möglicher Anschlag und vor allem die schwierige Annäherung an die anglikanische Kirche überschatten den Besuch von Papst Benedikt XVI. in Großbritannien. "Die Kirche an sich steht mit dem Rücken zur Wand", so der Anglikaner Paul Oestreicher.

Paul Oestreicher im Gespräch mit Sonja Schulz | 18.09.2010
    Sandra Schulz: Für diese Annäherung musste sehr viel Zeit vergehen: Mehr als vier Jahrhunderte ist es her, dass sich die anglikanische Kirche in Großbritannien vom Papst lossagte. Noch immer sind die Katholiken auf der Insel eine kleine Minderheit, die allermeisten Christen gehören der anglikanischen Kirche an. Darum ist es für den Papst kein einfaches Terrain, auf der er sich bewegt bei seinem ersten Staatsbesuch eines Pontifex in Großbritannien seit dem Bruch eben vor mehr als 400 Jahren. Und auch kein einfacher Zeitpunkt, denn die Missbrauchsfälle, die in den vergangenen Monaten bekanntgeworden sind, überschatten den Besuch. Inzwischen aber nicht mehr nur die – gestern wurden sechs Männer in London wegen Terrorverdachts festgenommen. Einfluss auf das Programm hatten diese Meldungen allerdings nicht. Auf den Tag heute blickt unser Korrespondenz Jochen Spengler voraus. Über den Papstbesuch in Großbritannien Jochen Spengler. Und am Telefon begrüße ich Paul Oestreicher, bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand anglikanischer Domkapitular an der Kathedrale von Coventry und jetzt am Telefon. Guten Morgen!

    Paul Oestreicher: Guten Morgen, Frau Schulz!

    Schulz: Welches Thema Ihrer Beobachtung nach bekommt jetzt mehr Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit: die Meldungen über mögliche Anschläge oder da, was wir gerade gehört haben, das eigentliche Besuchsprogramm?

    Oestreicher: Ich glaube, dass, die Befürchtung von Anschlägen spielt wohl sehr wenig Rolle. Man ist sicher überhaupt gar nicht überzeugt, dass das direkt mit dem Papst was zu tun hat. Also ich hab nicht das Gefühl, dass diese Fragen den Papstbesuch in irgendeiner Weise ernstlich überschatten werden. Vielmehr ist das Interessante, dass die Medien auf den Papst ganz groß eingestiegen sind, sodass zum ersten Mal seit sehr langer Zeit das Thema Religion in der Öffentlichkeit ernstlich besprochen wird. Das ist wohl das Positive an diesem Besuch, dass die Begegnung mit der öffentlichen Religion – und nicht nur Religion als Privatsache – plötzlich ein Thema geworden sind.

    Schulz: Dass der Besuch als solcher nicht einfach werden würde, das war ja vornherein klar eben des angespannten Verhältnisses wegen, das haben wir gerade schon skizziert. Aber auch eben, weil in den letzten Monaten über die Missbrauchsfälle diskutiert wird. War oder ist das der falsche Zeitpunkt für diesen Besuch?

    Oestreicher: Jeder Zeitpunkt könnte falsch sein. Aber ich glaube, es ist nicht der falsche Zeitpunkt. Die Kirche muss sich der Öffentlichkeit stellen, nicht nur die katholische Kirche, aber natürlich im Vordergrund die katholische Kirche. Die Missbrauchsfälle weltweit spielen eine riesiggroße Rolle, und obwohl der Papst darauf wenig eingegangen ist, höchstens in einem Interview im Flugzeug vor seiner Ankunft, denkt jeder daran. Und die Kirche muss sich radikal renovieren, eigentlich eine neue Reformation ist nötig für alle Kirchen in der Begegnung mit der modernen Welt. Die große Mehrzahl der Öffentlichkeit ist eigentlich an diesem Papstbesuch gar nicht interessiert. Es ist wirklich nur eine kleine Minderheit, die sich ernstlich mit diesen Fragen auseinandersetzt. Aber die Auseinandersetzung muss irgendwie stattfinden zwischen Glauben und der modernen Welt.

    Schulz: Herr Oestreicher, zu dieser Minderheit, wie Sie sagen, gehören Sie auch. Sie haben in einem Leitartikel gefordert sinngemäß, der Papst müsse zurücktreten. Warum diese Provokation?

    Oestreicher: Nein, ich habe nicht gesagt, der Papst müsse zurücktreten, ich habe gesagt, wenn der Papst sich selbst und seine katholische Kirche rehabilitieren will, wäre das ein bewegender Schritt zu sagen, ich nehme, wie Jesus selbst das getan hat, die Sünden meiner Brüder auf mich und gehe. Das würde natürlich einen riesigen Eindruck machen. Die Hamburger Bischöfin, die evangelische Bischöfin von Hamburg hat das getan und das hat ihr gar nichts geschadet. Das würde eher die katholische Kirche ehren, dass sie wirklich auf sich nimmt, war geschehen ist, und sagt, wir Christen sind nicht besser als andere Menschen, und wir müssen mit anderen Menschen eine bessere Welt schaffen.

    Schulz: Aber jetzt hat der Papst ja auf dem Flug nach Großbritannien die Missbrauchsfälle auch noch mal deutlich gegeißelt, als Perversion kritisiert und auch sein Bedauern noch mal ausgedrückt. Ist nicht die Auseinandersetzung in der Sache wichtiger als ein möglicherweise symbolischer Rückzug?

    Oestreicher: Das muss eine Meinungssache bleiben. Das Wesentliche ist natürlich, dass die katholische Kirche – aber nicht nur die katholische Kirche, denn Missbrauch geschieht in der ganzen Gesellschaft, dass man die Opfer dieses Missbrauchs so ernst nimmt, dass man für die Zukunft einfach Wege baut, dass es nicht so weitergeht. Und da ist Kirche und Gesellschaft in der gleichen Lage und sie müssen zusammenarbeiten an einer gesünderen Gesellschaft. Und das will der Papst natürlich auch, keine Frage. Dass ihn das tief bewegt, das hat er gezeigt, also Entschuldigung, das ist geschehen. Aber wie soll es weitergehen?

    Schulz: Jetzt, um vielleicht sozusagen auf die Metaebene zu kommen, beobachten Sie diesen Papstbesuch; Anfang der 80er-Jahre war Papst Johannes Paul II zu einem inoffiziellen Papstbesuch in Großbritannien. Von welcher Stimmung, wenn Sie das vergleichen, war der Besuch damals und der heute geprägt?

    Oestreicher: Der erste Papstbesuch war natürlich für die ganze Öffentlichkeit von Rieseninteresse, denn dieser charismatische polnische Papst hat die ganze Welt bewegt. Und da waren sogar Menschen positiv beeindruckt, die sonst mit Religion gar nichts am Hut haben. Das ist nicht mehr der Fall jetzt, jetzt erstens ist die Kirche an sich, und die Religion an sich steht mit dem Rücken zur Wand, nur kleine Minderheiten, ob das Anglikaner sind oder Katholiken – übrigens gibt es heute im aktiven gläubigen Sinn genau so viele Katholiken in Großbritannien als Anglikaner, die beiden sind ungefähr auf der gleichen Höhe, und beide haben drei oder vier Prozent der Bevölkerung, und nicht mehr.

    Schulz: Wenn wir, um das noch mal zu thematisieren, auf das schwierige Miteinander blicken zwischen den Anglikanern und den Katholiken, Sie haben das gerade angesprochen, schauen: Der Papst ist jetzt um Versöhnung bemüht, es hat ein ökumenisches Treffen gestern gegeben. – Was müsste er denn anbieten, um dieser Versöhnung auch tatsächlich näherzukommen?

    Oestreicher: Ja der Papst hat schöne Worte gebraucht, der anglikanische Erzbischof hat das Gleiche getan, sie haben die positiven Sachen hervorgehoben und haben die großen negativen Sachen überhaupt unter den Teppich gefegt, als ob sie nicht da wären. Und diese negativen Punkte sind sehr groß, also die katholische Kirche, die unfähig ist, die Gleichheit von Frauen anzuerkennen, die überhaupt mit Schwulen nicht umgehen kann ... Die anglikanische Kirche kämpft innerlich mit diesen Fragen, aber sehr öffentlich; die katholische Kirche tut, als ob das eigentlich keine schweren Probleme wären. Also schöne, wunderbare Diplomatie gestern und der Willen, einander zu lieben, das ist positiv. Aber wenn man die schwierigen Fragen, die Fragen, die wirklich den gewöhnlichen Menschen angeht, wenn man diese Fragen überhaupt weglässt, dann ist das Ganze natürlich auch in gewisser Hinsicht ein großes Theater.

    Schulz: Paul Oestreicher, anglikanischer Theologe und uns heute Morgen aus Brighton zugeschaltet – danke Ihnen!

    Oestreicher: Gern geschehen!

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