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Die Kosten der Revolution

Marija ist in dem gleichnamigen Stück von Isaak Babel eine Revolutionärin, die für eine gerechte Gesellschaft kämpft. In der Inszenierung von Andrea Breth am Düsseldorfer Schauspielhaus spiegelt sich die russische Gesellschaft und die Historie jener Zeit um 1920 wieder.

Von Karin Fischer | 08.01.2012
    Um das vorwegzunehmen: Zur Revolution wird in Düsseldorf nicht aufgerufen, jedenfalls nicht auf der Bühne. Im Stück hat sie schon statt gefunden: "Marija" spielt um 1920 in der Stadt, die damals für kurze Zeit "Petrograd" hieß, bevor sie 1924 in Leningrad umbenannt wurde. Moskau war gerade zur neuen russischen Hauptstadt erklärt worden, der Zar ermordet, die Stadt verarmt, die Verhältnisse elend. Von all dem spricht das Stück, anfangs tobt noch der Bürgerkrieg, den die "Roten" gewinnen werden.

    Der Komponist Wolfgang Mitterer hat düster-intensive Szenentrenner geschaffen. Und wie immer bei Andrea Breth ist ein fast synästhetisch wirkender Abend voller Realismus und berückender Details entstanden. Die verarmte Familie Mukownin lebt mit Flügel und Kinderfrau in einem einzigen Zimmer. Er, Peter Jecklin, gibt den ehemaligen General als von Hunger und Tod gezeichneten klugen Mann, der versucht, mit der Zeit zu gehen – schreibt jetzt ein Geschichtsbuch über die Gräueltaten des Zaren. Seine Tochter Marija, Titel gebende Figur des Stücks, die aber nie auftaucht, kämpft für die Rotarmisten an der Grenze zu Polen, die jüngere Tochter Ludmilla sorgt zu Hause fürs Nötigste an der Lebensmittelfront, indem sie dem Juden und 'neureichen' Schwarzhändler Dymschitz schöne Augen macht. Anfangs geht man noch ins Theater.

    In einem späteren Bild liegt zerkleinertes Holz von Möbeln vor dem Kamin. Für die "beengten Verhältnisse" hat Raimund Voigt die Bühne im großen Haus ganz klein gemacht, weshalb in Düsseldorf sogar ein paar der äußeren Stuhlreihen abgedeckt sind.

    Und es stimmt wirklich alles: von den furchterregend verkrüppelten Invaliden, die für Dymschitz schmuggeln, bis zu Elisabeth Orth als resoluter Hausmeisterin, die im letzten Bild einem Arbeiterpaar Mukownins Wohnung zuteilt – und dabei einen riesigen Pelzmantel trägt. Ein umwerfendes Ensemble trifft hier auf einen umwerfenden Erzähler von Kleinst-Geschichten, in denen die ganze russische Gesellschaft und die ganze Historie jener Zeit zusammen schießen. Rotwein vom Panzerkreuzer. Antisemitische Vorurteile. Nebenbei-Berichte von Erschießungen. Die Briefe Marijas. Aufbruch und Todesangst sind immer gleichzeitig spürbar.

    Das Stück als Drama über die nachrevolutionäre russische Gesellschaft zu bezeichnen, ist zu neutral formuliert. Auch käme niemand heute – trotz "Occupy Wall Street" und deutschem "Wutbürger" - auf die Idee, es als "Verherrlichung der bolschewistischen Machtergreifung" zu inszenieren, wie man 1976 Jürgen Flimm vorwarf. Denn Isaak Babel führt nicht nur alle Beteiligten als mehr oder weniger handlungsunfähige Opfer der Verhältnisse vor, er zeigt vor allem den Menschen selbst in abgründigem Licht. Die bolschewistische Zensur wusste sehr gut, warum sie das Stück verbieten ließ. Das Proletariat ist dumm und hat schlechte Zähne. Die ehemalige Oberklasse flüchtet sich in die Religion, oder sie prostituiert sich, die Frauen ganz im Wortsinn. Marie Burchard spielt Ludmilla als erst geschwätzige, dann vergewaltigte, dann von der Tscheka gedemütigte höhere Tochter. Die Welt ist aus den Fugen, alle Werte gelten nicht mehr, alle Systeme sind außer Kraft gesetzt, alle Hierarchien zunichte, es herrscht Sprachverwirrung zwischen dem alten "euer Hochwohlgeboren" und dem neuen "Genosse". Und es herrscht das Gesetz des Stärkeren, die pure Amoral. Der ehemalige Rittmeister Wiskowski – Gerd Böckmann führt ihn großartig als gedemütigten Mann und betrunkenen Machtmenschen vor – gerät unter die Räder, Ludmilla auf die schiefe Bahn. Auch wem nicht Arme oder Beine weggeschossen wurde, ist ein Krüppel. Ein seelischer. Selbst die abwesende Marija, die einfache Bauern unterrichtet, lebt in ver-rückten Verhältnissen: Sie schickt Lebensmittel nach Hause, geht aber mit ihrem Offizier auf die Jagd!

    Zwar ist das letzte Bild der Inszenierung hell ausgeleuchtet, und die junge Putzfrau begrüßt die einrückenden Rotarmisten mit einem fast hysterischen Tänzchen. In Erinnerung bleibt aber das ängstlich-schmerzverzerrte Gesicht der hochschwangeren Arbeiterfrau. Sie steht symbolisch dafür, unter welchen Schmerzen die sogenannte neue Zeit, die hier angebrochen sein soll, geboren wird.

    Ein paar zu überbelichtete, zu laute Momente gibt es in dieser Inszenierung. Im Grunde aber zeigt Andrea Breth mit schmerzhafter Deutlichkeit, wozu es führt, wenn der Mensch haltlos wird und wozu er fähig ist, wenn die Ordnung sich auflöst. Ob man bereit ist, für eine Revolution zu sterben oder zu töten, ist hier eine Frage der Perspektive und auch fast einerlei. Isaak Babel in diesem Sinne zu lesen, ist zwar keine Antwort auf die Fragen der Zeit, aber auf eine altmodische Art dann doch hoch modern.