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Die Kultur des Zählens

Mathematik. - Nach Platon sitzt die Mathematik in einer Ideenwelt, und wir Menschen können uns bemühen, Teile von ihr zu erkennen. Im Fachblatt "Science" ist jetzt eine aufschlussreiche Untersuchung an südamerikanischen Urwaldbewohnern erschienen, die anders mit Zahlen umgehen als wir das gewohnt sind.

Von Jan Lublinski | 02.06.2008
    Weit ab von der westlichen Zivilisation, im brasilianischen Amazonas-Gebiet leben die Mundurucu-Indianer. Ihr Wortschatz für Zahlen ist sehr begrenzt. Lediglich für die Zahlen eins, zwei, drei und vier gibt es in ihrer Sprache ein Wort. Statt der fünf kommt dann eine Zahl, die wortwörtlich übersetzt "Hand voll" heißt. Sie umschreibt Mengen von vier bis acht Objekten. Danach kommt "zwei Handvoll" und auch das ist eine ziemlich vage Mengenangabe.

    "Interessanterweise können sie diese Zahlen nicht abzählen: Also sie können nicht sagen: "1, 2, 3, 4, 5". So wie wir das machen – Trotzdem haben unsere Untersuchungen ergeben, dass die Mundurucu eine sehr ausgeprägte Wahrnehmung für Zahlen haben."

    Stanislas Dehaene ist Neurowissenschaftler am französischen Forschungszentrum CEA in Saclay. Gemeinsam mit dem Pariser Linguisten Pierre Pica, der regelmäßig zu den Mundurucu reist, hat er sich verschiedene Test ausgedacht, um das Mathematik-Verständnis dieser Ureinwohner zu untersuchen.

    "Wir haben ihnen eine waagerechte Linie gezeigt. Am linken Ende der Linie war ein Punkt zu sehen und am rechten Ende befinden sich zehn Punkte. Und dann geben wir ihnen eine bestimmte Zahl dazwischen – entweder in Worten oder nonverbal, zum Beispiel mit einer Anzahl von Steinen. Und die Mundurucu müssen uns dann zeigen, wo auf der Linie diese Anzahl hingehört. Sowohl die Kinder als auch die Erwachsenen verhielten sich ganz anders als Menschen aus westlichen Zivilisationen. Es stellt sich heraus: Sie haben keine lineare Vorstellung von den Zahlen, sondern eine logarithmische."

    Für die Mundurucu liegt die Zahl fünf nicht in der Mitte zwischen eins und neun, sondern eher bei der Neun. Denn sowohl fünf als auch neun sind für sie schon recht viele Steine. Anders ausgedrückt: Sie wissen nicht, dass der Abstand zwischen eins und zwei genau so groß ist wie der Abstand zwischen acht und 9. Ähnliche Effekte kann man bei Tieren und auch bei sehr kleinen Kindern beobachten. Es handelt sich hierbei offenbar um ein sehr elementares Verständnis von Mengen und Zahlen, das sich in der Evolution entwickelt hat. Alles weitere - die größeren Zahlen, ihre linearen Abstände, die Arithmetik - ist bereits höhere Mathematik, durch Sprache und Kultur erworben.

    "Es ist bemerkenswert, dass diese logarithmische Repräsentation der Zahlen ein wenig resistent ist gegenüber der schulischen Bildung. Das haben wir bei denjenigen Mundurucu gesehen, die so viel Portugiesisch gelernt hatten, dass sie in dieser Sprache zählen können. Wenn man ihnen die Zahlen auf Portugiesisch vorgibt, ordnen sie diese linear an. Tut man dies aber in ihrer eigenen Sprache, bleiben sie bei dem logarithmischen Verständnis."

    Stanislas Dehaene hat auch eine neurowissenschaftliche Erklärung für die logarithmische Zahlenauffassung parat: Wir haben in unserem Gehirn bestimmte Neuronengruppen, die sofort feuern, wenn wir eine bestimmte Anzahl von Objekten sehen:

    "Es gibt sehr viele Neuronen, die auf die Zahl eins warten und dann feuern. Andere reagieren auf zwei, wieder andere auf drei. Aber je größer die Zahlen werden, desto unschärfer wird die Reaktion. Ein Neuron, das am stärksten bei fünf reagiert, tut dies auch bei vier und bei sechs. Und je größer die Zahlen werden, desto breiter gestreut ist diese Reaktion."

    Und wer den Logarithmus in seinem eigenen Kopf entdecken möchte, der denke mal darüber nach, ob "eine Million" die Mitte ist zwischen "ein Tausend" und "einer Milliarde". Herzlich willkommen im Urwald.