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Die Kunst des Sammelns

Das Symposium über das Sammeln im Berliner Museum für Naturkunde im vergangenen November war der Auftakt zu einer ungewöhnlichen Reise in die Hinterzimmer des Museums, zu der die Besucher jetzt eingeladen werden. In einem künstlerischen Parcours zeigt das Naturkundemuseum Sammlungs- und Forschungsobjekte, die bisher ein Schattendasein fristeten.

Von Bettina Mittelstraß | 21.02.2008
    Sie stehen staunend im prächtigen Saal unter dem größten ausgestellten Dinosaurierskelett der Welt, einem Brachiosaurus. Einen Raum neben der Urzeit öffnet sich die Erde nach innen. Multimedial aufbereitet zeigt der Planet seine Spalten, sein heißes Potential. Und noch einen Schritt weiter, im historischen Treppenhaus: der Blick in den Orbit, die Sterne. Alles, was sie wissen wollen, wird den Besuchern im Museum für Naturkunde in Berlin erklärt - aber ist das wirklich alles, was es hier zu sehen gibt? Oliver Colemann, Kustos am Museum für Naturkunde in Berlin:

    "Wir haben ja diese riesigen Sammlungen hier im Museum für Naturkunde, insgesamt 30 Millionen Sammlungsobjekte. Und die sind normalerweise völlig verborgen und isoliert von den Besuchern des Museums. Unsere Besucher wissen überhaupt nicht, dass wir diese riesigen Sammlungen haben, wenn sie unten unter dem Saurier stehen, und da haben wir ein sehr großes Interesse daran, diese Sammlungen populär zu machen.".

    Anke Jentsch, Juniorprofessorin am Helmholtzzentrum für Umweltforschung in Leipzig und der Universität Bayreuth:

    "Ein Großteil der Menschen denkt: die Museen sind für die Öffentlichkeit geschaffen. Das ist das, was man heutzutage sieht, besucht, und wo die Faszination stattfindet. Aber der ursprüngliche Auftrag dieser Sammlungen war der, Forschungssammlung zu sein."

    30 Millionen Sammlungsstücke allein im Berliner Museum für Naturkunde. Das Haus gehört zu den größten Naturkundemuseen weltweit. Steine, Pflanzen, Tiere - alles, was die Natur hergibt, wurde im Laufe von Jahrhunderten aus der ganzen Welt zusammengetragen.

    Was treibt uns im Innersten an, Grashalm für Grashalm zu sammeln, nebeneinander zu legen und zu vergleichen? - mit solchen Fragen näherten sich Ende letzten Jahres Wissenschaftler der Berliner Forschungssammlung. Sie tagten in den Räumen des Museums, um für die Öffentlichkeit eine besondere Reise in die Hinterzimmer des Museums vorzubreiten. Woher also kommt der Drang, die Dinge in Schubladen zu packen, zu ordnen, zu benennen, Kategorien zu bilden und nach welchen Regeln bilden wir sie? Psychologin Claudia Friedrich von der Universität Hamburg:

    "Die Kognitionswissenschaft hat sich irgendwie nicht auf eine Regel festlegen können, wie wir jetzt Gegebenheiten in der realen Welt denn wirklich in solche Kategorien umsetzen, wir wissen nur, wir tun es. Und wir tun es sehr schnell, und solche Kategorien bestimmen unsere Wahrnehmung und unser Denken und unser Gedächtnis, also sozusagen alles, was uns so kognitiv ausmacht und wahrscheinlich deshalb, damit wir diese Welt vorhersagen können, und das war mal evolutionär von großem Vorteil."

    Schlechtes von Gutem trennen, brauchbare von unbrauchbarer Nahrung unterscheiden, Gefährliches und Ungefährliches durchschauen - Kategorien im Gehirn bilden zu können, um zu überleben ist das eine. Die Anwendung dieser Fähigkeit beim Menschen aber geht weiter:

    "Es bestimmt natürlich unsere Kulturpraxis, weil wir mit diesem Apparat unsere Kultur bilden, weil wir mit diesen kognitiven Apparaten alle zusammen wirken und das wahrscheinlich eine der Eigenschaften ist, die wir mitbringen in diese kulturelle Welt: Kategorien zu bilden."

    Millionen Ergebnisse dieser Kulturleistung befinden sich in den schier endlosen Gängen, Sälen und Hinterzimmern aller Naturkundemuseen. In alten Vitrinen mit trüben Glasscheiben und quietschenden Scharnieren dicht an dicht ausgestopfte Tiere. Auf langen Regalreihen 280.000 große und kleine mit gelblicher Flüssigkeit gefüllte Gläser mit konservierten Präparaten. Schublade an Schublade sortierte Mineralien, bis zu 4,5 Milliarden Jahre alte Meteoriten und sorgfältig angeordnete, gepresste Pflanzen. Die Wissenschaftshistorikerin Professor Kärin Nickelsen von der Universität Bern:

    "Es gab immer Leute, die unglaublich gesammelt haben. Das ist Teil des Programms der Naturgeschichte, das wirklich bis in die Antike zurückreicht. Die Funktion der Sammlungen in dem, was man wissenschaftlich tat, hat sich sehr geändert, natürlich. Auch die Art der Sammlungen hat sich geändert, die Art der Ausstellungen und Sammlungsvorführung hat sich geändert. Natürlich, seit wir ein Konzept haben, dass Arten sich wandeln, sich ineinander wandeln, ist der Zweck einer solchen Sammlung und auch der Zweck der Naturgeschichte ein ganz anderer geworden, seit eben Darwins Programm der Evolution."

    Die bis heute gültige Anleitung, wie diese Natur zu ordnen, zu klassifizieren ist, stammt schließlich aus dem 18. Jahrhundert von dem schwedischen Naturforscher Carl von Linné.

    "Als Linné kam, war es eine große Innovation zunächst einmal festzuhalten, dass Arten stabil sind. Vorher gab es ein Verständnis davon, dass Arten sich ineinander wandeln. Man hat gesehen: Im Fleisch entstehen Würmer. Aus den Würmern werden Fliegen. Arten sind nicht konstant. Arten sind etwas, was sich wandelt, was aus Gottes Wille mal so ist und mal so Und Linnés großer Durchbruch war zu sagen: Nein, Arten sind stabil. Arten bringen immer wieder dasselbe hervor, es gibt Zyklen. Das gehört alles zu einer Art. Sie ist unwandelbar."

    Und was unwandelbar ist, kann mit einem festen Schema erfasst werden. Auf Linné gehen die systematischen Artnamen, die Benennungen und Bestimmungen der Arten zurück, wie sie bis heute von so genannten Taxonomen zugeordnet werden. Oliver Coleman:

    "Ja, die Taxonomie ist die Kunst der Beschreibung und der korrekten Klassifikation von Lebewesen. Also die Betonung liegt auf Kunst. Offensichtlich kann es nicht jeder. Man braucht ein besonderes Talent, um Taxonom zu sein, man braucht ein besonderes Gedächtnis, um sich diese vielen kleinen Unterschiede merken zu können und nutzen zu können, um Tierarten zu unterscheiden."

    Coleman ist ein Spezialist und sein Arbeitsplatz ist hinter den Kulissen der spektakulären Ausstellung in jener Welt aus Gläsern und Schubladen.

    "Manchmal mache ich einen Witz, um die Leute da so ein bisschen hopp zu nehmen. Und wenn ich gefragt werde, was mein Wissenschaftsgebiet ist, dann sage ich: Ich arbeite in der Krebsforschung und ernte dann immer tiefe Anerkennung, bevor ich dann das Rätsel auflöse und den Leuten erkläre, dass ich tatsächlich über Krebse arbeite und keine Tumoren heile."

    Oliver Coleman kennt stattdessen 8000 Flohkrebsarten. Seine Kollegen ähnlich viele Spinnen-, Käfer- oder Seepockenarten.

    "Dieses ganze Wissen um die Arten das ist ja so was wie eine große Bibliothek. Also unsere Sammlungen sind ja auch eine große Bibliothek und wir Systematiker im Museum, wir sind die Bibliothekare. Und ohne unsere Arbeit kann man im Grunde genommen mit dieser großen Bibliothek des Lebendigen gar nichts anfangen. Ähnlich wie in einer ungeordneten Bibliothek ist man als Nutzer der Bibliothek ja völlig verwirrt, wenn es dort keine Ordnung gibt. Und dann lohnt es sich überhaupt nicht, nach Informationen zu suchen, oder die Information überhaupt zu lesen."

    Und zurzeit häufen sich die Anfragen anderer Wissenschaftler an die Experten im Naturkundemuseum. Unter den Schlagworten Global Change und Biodiversität sind Untersuchungen zur Artenvielfalt und vor allem dem Artensterben hochaktuell. Anke Jentsch:

    "Momentan erfährt die Sammlung und die Biodiversität ein ganz großes Aufleben. Es haben sich ganz renommierte Autoren in den hochrangisgsten Fachzeitschriften, beispielsweise in "Science" auch dazu geäußert, dass wir einen globalen Rat der Biodiversität brauchen, so ähnlich wie das ‚Intergovernemental Penal of Climate Change’. Ich denke, die Haltung, die Einsicht ist da, was noch fehlt, sind die Strukturen, auch die monitären Strukturen, die Globalisierung in dieser Hinsicht, um die Möglichkeiten zu schaffen, diese Sammlungen zu erhalten und nutzbar zu machen."

    Kärin Nickelsen:

    "Es gibt ja schon diese erstaunliche Diskrepanz, dass eben das Ausstellungsgelände mit sehr viel Aufwand und Mühe und Geld neu gestaltet wurde und auch wirklich sehr attraktiv gestaltet wurde. Das ist das, was das Publikum sieht. Und die großen Sammlungsräume, worin das Kapital für die Zukunft liegt und für die Wissenschaft, einfach in einem desolaten Zustand sind."

    Für Biologen liegt das Kapital naturkundlicher Sammlungen zum Beispiel in dem weit in die Vergangenheit reichenden Spektrum an beschriebenen Tier- und Pflanzenarten, sagt Anke Jentsch. Wer evolutionäre Veränderungen und Abweichungen verstehen will, der benötigt zunächst einen Blick in die Vielfalt und die Wiederholungen des "Normalen", um überhaupt vergleichen zu können.

    "Die gesellschaftliche Herausforderung besteht auch darin, dass wir einen Großteil der Arten noch nicht beschrieben haben. Ich glaube 1,8 Millionen Arten sagt man so weithin - wobei ich mich bei den Zahlen auch nicht versteigen möchte - sind bekannt, und es wird geschätzt, dass nahezu das zehnfache an Arten existiert, die wir einfach noch nicht kategorisiert und eingeordnet haben. Das heißt, dieses ungeheure Potential der Biodiversität, dieser Schatz, ist überhaupt noch nicht gehoben."

    Kärin Nickelsen:

    "Für dieses Biodiversitätsproblem ist diese Artdefintion so wesentlich. Das hat ja eine ganz politische Dimension. Sobald man anfängt, eine Art auf irgendeine Weise zu definieren, kann man Arten zählen. Wenn Arten eine bestimmte Zahl in einem Areal erreichen, ist das Areal plötzlich schützenswert oder nicht schützenswert. Deswegen ist es wesentlich für die Biologie so etwas wie ein philosophisches Konzept der Art zu entwickeln und auch tragfähig zu erhalten."

    Doch ausgerechnet das Wissen um die Arten scheint mit den Arten auszusterben. Der Nachwuchs bleibt aus unter Taxonomen. Stellen werden gestrichen und Räume, in denen jahrhundertealter Putz von den Wänden fällt, sind nicht unbedingt ein einladender Arbeitsplatz. Außerdem leide sein Beruf an Ansehen, meint Oliver Coleman:

    "Es gibt viele Tiergruppen, die nicht als besonders aufregend gelten, irgendwelche Wurmgruppen, Nematoden zum Beispiel, Fadenwürmer, die in unserem Ökosystem eine ganz, ganz wichtige Rolle spielen, an allen möglichen Ecken und Enden eine Schlüsselrolle im Ökosystem darstellen, aber wir haben nicht besonders viele Spezialisten, die diese Würmer bearbeiten, weil, na ja, wenn ein Systematiker gefragt wird: Worüber arbeitest du? Und er sagt: Ich arbeite über Würmer. Dann kann er eigentlich nur ein Stirnrunzeln bei seinem Gegenüber erzeugen."

    Dabei sind es gerade die speziellen Kenntnisse über Würmer oder Schnecken, die selbst Geologen brauchen, wenn sie Klimageschichte erforschen. Um sich Gewissheit zu verschaffen, gehen sie mit ihren Gesteins- und Sedimentproben schon mal ins Naturkundemuseum. Die Geologin Hildegard Westphal von der Universität Bremen:

    "Wenn wir Sedimente anschauen, die Zusammensetzung anschauen, dann, ja, sehen wir in was für einer Umwelt sie abgelagert wurden, diese Sedimente, und das erzählt uns eine Menge über wiederum Klima und Umweltbedingungen. Nichtsdestotrotz können wir uns sehr täuschen, wenn wir einfach nur als Geologen da ran gehen, weil häufig ähnliche Sedimente unter verschiedenen Bedingungen sich bilden können, also zum Beispiel Riffe. Korallenriffe werden allgemein als typisch tropisch angesehen, was auch ganz überwiegend richtig ist, außer sie sind aus der Tiefsee. Dann ist es schon mal ein Trugschluss, wenn ich einfach von Korallenriff auf tropisches Klima schließe. Oder wenn ich eben Ablagerungen habe, die keine Korallenriffe sind, darauf zu schließen, dass es eben nicht tropisch war. Ist auch falsch. Weil da einfach andere Parameter vernachlässigt werden, wie zum Beispiel die Wasserenergie oder der Flusseintrag aus dem Hinterland oder Überdüngung, was alles zum Beispiel Korallenriffe unterdrücken kann und dennoch haben wir tropische Bedingungen. Und für die Klimarekonstruktion ist es natürlich fatal, wenn man da falsche Schlüsse zieht."

    Wenn sich aber in den Sedimenten zum Beispiel fossile Schnecken befinden, können die Systematiker helfen, die sich mit den Arten auskennen.

    "Und der Taxonom kann unsere Sedimente anschauen und uns bis in die Arten hinunter bestimmen, was wir vor uns haben. Und was für einen Geologen vielleicht noch sehr ähnlich aussieht, sieht für einen Taxonomen sehr anders aus. Die schauen die Schnecke an und sagen: Hör mal, das ist keine Kaltwasserschnecke. Das ist eine tropische Schnecke, also musst du deine Rekonstruktion anders angehen. Und dann kommt vielleicht ein anderer Experte, der sagt: Schau mal, diese kleine Bohrung in der Muschel, die lässt eindeutig darauf schließen, dass es hier aus irgendeinem Grund erhöhte Nährstoffbedingungen gab. Und dann weiß ich: Aha, es ist warm, erhöhte Nährstoffbedingungen, ja deshalb habe ich keine Korallenriffe zum Beispiel und deshalb sieht es aus wie Kaltwasser, ist aber nicht, sondern ist warm."

    Die Bedeutung der Forschungssammlungen soll sich auch der Öffentlichkeit besser erschließen. Dafür trägt eine Gruppe aus Wissenschaftlern, Künstlern und Museumskustoden gemeinsam ein ungewöhnliches Projekt im Museum für Naturkunde in Berlin. Was Wissenschaftler der Jungen Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina in einer Tagung an Wissen zusammentrugen, wird nun vom Ensemble "a rose is" unter der Regie des Komponisten Julian Klein zu einer Art Theaterstück mit unterschiedlichsten Szenen arrangiert.

    "Wir bewegen uns in verschiedenen künstlerischen Formaten, die sich so zwischen Schauspiel, Performance, Musiktheater, Installationen befinden und wir wollen mit unserem Stück das Publikum hinter die Kulissen dieses Forschungsinstituts führen. Das heißt, wir spielen nicht in der Ausstellung, nicht in dem Museumsteil, sondern in den Forschungssammlungen. Und dort gibt es ganz viele Geschichten zu erzählen, die an den Sammlungsstücken hängen, die mit den Menschen zu tun haben, die dort arbeiten, und die natürlich auch etwas darüber erzählen, wie wir unsere Welt sehen, wie wir unsere Welt beschreiben - sozusagen die Schubladisierung der Welt wird dort ganz greifbar."

    Unterstützt von der Schering Stiftung und produziert vom Büro Klangquadrat wird das Publikum ab dem 28. Februar in acht Aufführungen auf einen "taxonomischen Parcours" durch die Säle, Flure und Hinterzimmer der Forschungssammlungen des Berliner Naturkundemuseums geschickt. Julian Klein:

    "Wir haben vier große Säle, die wir bespielen. Das ist neben dem Fischsaal auch der Fellsaal mit den Säugetierfellen, der Vogelsaal und der Schlangensaal. In diesen Sälen, die sehr großzügig gestaltet sind, auch architektonisch, werden also große Szenen oder große Installationen stattfinden, aber es gibt auch sehr viele kleine Räume zu erkunden, in denen kleinere Gruppen des Publikums kleine Szenen zu sehen bekommen werden."

    Anke Jentsch:

    "Und natürlich soll das auch nicht so verkopft laufen wie auf wissenschaftlichen Symposien, sondern unser Anliegen ist, die Leute zu berühren. Und deswegen ist das ein Zusammenschluss aus Wissenschaftlern und Künstlern, die mit verschiedenen Formaten der Kunst durch diese Räume führen, sodass man dieser Faszination erlegen sein darf und zugleich eine wissenschaftliche Faszination erlebt, weil man diese unglaublichen Mengen von Präparaten unterschiedlichster Art einfach mal selber durchschreiten und wahrnehmen kann."