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"Die Kuriositäten des literarischen Lebens"

Zum ersten Mal seit 35 Jahren kann die Jury des Pulitzer-Preises sich auf keinen Roman für die wichtigste Literaturauszeichnung der Vereinigten Staaten einigen. Literaturredakteur Denis Scheck spekuliert über die Hintergründe.

Das Gespräch führte Burkhard Müller-Ullrich | 17.04.2012
    Burkhard Müller-Ullrich: Seit bald 100 Jahren gibt es in den USA die Pulitzer-Preise, benannt nach einem ungarischen Einwanderer, der unter anderem den Sockel der Freiheitsstatue mitfinanzieren half und seine Karriere als Reporter bei der deutschsprachigen "Westlichen Post" in St. Louis im Bundesstaat Missouri begonnen hatte. Die Pulitzer-Preise verteilen sich (wie die Oscars beim Film) auf ganz viele Sparten und Spezialitäten des gedruckten Worts und der Fotografie, und seit noch nicht ganz so langer Zeit gibt es auch einen Pulitzer-Preis für Belletristik, also "Fiction". Bloß: Dieses Jahr gab es keinen. Deshalb lange Gesichter gestern in New York bei der Bekanntmachung der Preisträger. Niemand bekommt den wichtigsten Literaturpreis der Vereinigten Staaten. Denis Scheck, was ist bloß in die Jury gefahren?

    Denis Scheck: Ja das liegt an den Modalitäten dieses Jahr in sage und schreibe 21 Kategorien verliehenen Preises. Es gibt ja den Pulitzer-Preis für die beste Lokalberichterstattung unter Zeitdruck genauso wie die Pulitzer-Preise für die beste lyrische Veröffentlichung des Jahres oder das beste Theaterstück oder eben auch den besten Roman. Und diese Pulitzer-Preise werden in einer eigenartigen, in einer kuriosen Modalität vergeben, nämlich es gibt in jeder Kategorie eine Vor-Jury, auch in der Literatur, eine dreiköpfige Vor-Jury, die macht eine Shortlist, in diesem Fall wurden drei Titel nominiert, aber die wirklichen Preisvergaben, die nimmt der "board", der Aufsichtsrat oder die Groß-Jury eben vor, und das ist ein größeres Gremium, dem gehören sage und schreibe 17 Menschen an, und die müssen eine Mehrheit finden für einen der drei vorgeschlagenen Romane.

    Und in diesem Jahr gab es keine Mehrheit, das gab es auch schon mehrfach, allerdings der letzte Fall liegt schon über 27 Jahre zurück, allerdings in der Geschichte des Preises gar nicht so selten. Ich glaube, fünf-, sechsmal konnten die sich eben nicht auf einen der Romane einigen. Es ist nur in diesem Jahr besonders bemerkenswert, warum nicht. Es gibt keine offizielle Begründung, aber man kann sehr gut darüber spekulieren.

    Müller-Ullrich: Was war denn an den drei Büchern so schlecht, dass das "board" sich jedenfalls nicht hat überzeugen lassen?

    Scheck: Ich glaube im Gegenteil, dass es nicht etwas ist, was so schlecht war an den drei Büchern; ich glaube, dass diese drei Bücher besonders gut sind und sich deshalb vielleicht keine Mehrheit einstellte.

    Müller-Ullrich: Okay. Also gehen wir sie mal durch und fangen vorne an.

    Scheck: Fangen wir doch mit dem unterhaltsamsten Roman, mit dem einfachsten an. Das ist "Swamplandia" von Karen Russell, ein Buch, was auch auf Deutsch schon vorliegt, ein Buch, das die Geschichte eines Unterhaltungs-, eines Vergnügungsparks auf einer Insel mit 70 Alligatoren vor Florida schildert. Das ist ein Unterhaltungsroman, ein Familienroman, durchaus mit literarischem Anspruch.
    Dann aber kommt ein ganz kurioser Text von Denis Johnson, diesem 1949 in München geborenen Schriftsteller, "Train Dreams", …

    Müller-Ullrich: Noch einer Denis, der mit Ihnen etwas verbindet.

    Scheck: Uns verbindet, ich bin insofern parteiisch: Dieses Buch erschien in einer von mir herausgegebenen Buchreihe im Mare-Verlag. Inzwischen ist die Reihe eingestellt, das darf man sagen. Das liegt einfach daran, weil das ein Kurzroman ist, der in der renommierten Literaturzeitschrift "Paris Revue" erschienen ist, aber nie eine eigenständige Buchveröffentlichung in den USA fand.

    Müller-Ullrich: Das Buch war schon vor zehn Jahren auf dem Markt.

    Scheck: Man konnte es schon einige Jahre früher auf Deutsch lesen als auf Englisch, es ist aber jetzt in diesem Berichtszeitraum des Preises eben in den USA bei einem sehr renommierten Verlag erschienen, auf Deutsch 2005, auf Englisch eben jetzt 2011 bei Farrar, Straus and Giroux.
    Der Dritte ist aber nun einer der ganz großen amerikanischen Schriftsteller: David Foster Wallace mit seinem nachgelassenen Werk "The Pale King". Das ist diese versuchte Darstellung der Langeweile durch den Arbeitsalltag in einem Finanzamt in den USA, horribile dictu …

    Müller-Ullrich: Ein Buch, das er selber nicht vollendet hat.

    Scheck: Und das ist wahrscheinlich des Pudels Kern, dass eben die Jury – so spekuliere ich jedenfalls -, dieser Aufsichtsrat, der "board" des Pulitzer-Preises sagte, na dem können wir den Preis wohl kaum geben, erstens mal, es wäre eine posthume Auszeichnung, das gab es zwar auch schon mal, aber er hat dieses Buch in dieser Gestalt eben gar nicht selber so gefasst, sondern ein fleißiger Redakteur des "New Yorkers" hat das ja erst ans Licht gebracht, eine wunderbare literarische Hebammenhilfe, und wahrscheinlich war ihnen der Denis Johnson dann doch ein bisschen zu kurz, zu klein, und vielleicht die Karen Russell, obwohl es ein interessanter Unterhaltungsroman ist, eher zu sehr ein Unterhaltungsroman.

    Das sind meine Spekulationen, aber Gott, es sind eben die Kuriositäten des literarischen Lebens, die wahrscheinlich mehr Beachtung für den Pulitzer-Preis für "Fiction", für Literatur in diesem Jahr auslösen, als wenn sie ihn einfach vergeben hätten, denn seien wir ehrlich: 1948 bekam James Michener den Preis. Ganz so toll renommiert – es verhält sich wie beim Literaturnobelpreis – ist der Preis gar nicht.

    Müller-Ullrich: Aber er ist allemal ein Verkaufsargument, und deswegen heult jetzt die Buchbranche in Amerika.

    Scheck: Ach, nun ja, die sollen mal vor sich hinheulen. Da wird eben auf andere Weise die Werbetrommel gerührt. Vielleicht finden sich ja Käufer in den USA für alle drei Romane und für alle drei Romane auch hier in Deutschland. Es sind jedenfalls sehr interessante Bücher.

    Müller-Ullrich: …, sagt unser Literaturredakteur Denis Scheck.

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