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Die Lange Nacht des Don Juan
Der adlige Wüstling und der steinerne Gast

Don Juan ist als Urbild des skrupellosen Verführers, furchtlosen Atheisten und rebellischen Anarchisten in die europäische Kulturgeschichte eingegangen und unzählige Male literarisch, musikalisch und bildnerisch gestaltet worden.

Von Cornelia Staudacher | 18.06.2016
    Adrian Strooper als Don Ottavio und Erika Roos als Donna Anna in "Don Giovanni" in der Komischen Oper in Berlin.
    Adrian Strooper als Don Ottavio und Erika Roos als Donna Anna in "Don Giovanni" in der Komischen Oper in Berlin. (picture alliance / dpa / Jens Kalaene)
    Tirso de Molina schrieb 1624 mit "Der Verführer von Sevilla und der steinerne Gast" eines der ersten überlieferten Stücke, gefolgt von Molières Komödie "Dom Juan", die 1665 in Paris uraufgeführt wurde. Über Italien und die Commedia dell’arte gelangte der Stoff nach Wien, wo Lorenzo da Ponte binnen weniger Wochen das Libretto für eine der meistgespielten Opern der Welt schrieb: Mozarts Dramma giocoso "Der bestrafte Wüstling oder Don Juan".
    "Die Oper aller Opern" (E.T.A. Hoffmann) wurde 1787 in Prag uraufgeführt. Unter dem Titel "Don Giovanni" trägt sie bis heute wesentlich zum Erhalt des Mythos des Don Juan bei. Im 19. und 20. Jahrhundert erfährt der Stoff, ausgehend von Sören Kierkegaards Ausführungen zur "Genialität des Sinnlichen" bei Mozart, durch Einflüsse aus Philosophie, Psychologie und gesellschaftlicher Entwicklungen markante Veränderungen. Don Juan wird zum Getriebenen und Sinnsuchenden. Eine 'Lange Nacht' über den zynischen Melancholiker, der "im Fliehen sein Element fand" (P. Handke).

    Don Juan wurde in Literatur, Musik und Bildender Kunst zu einem der meist gestalteten Archetypen sexueller Ausschweifungen in der abendländisch-christlichen Kultur. Der Legende nach war Juan de Tenorio ein Spross eines Sevillanischen Adelsgeschlechts, das sich in Kämpfen gegen die Mauren besondere Verdienste erworben hatte. Er lebte als Höfling des kastilianischen Königs Pedro I. in Sevilla, wo man sich von ihm die abenteuerlichsten und schauerlichsten Geschichten erzählte. So soll er versucht haben, Giralda, eine junge Sevillanerin, zu verführen und ihren zu Hilfe kommenden Vater, den Gouverneur der Stadt, im Duell getötet haben. Als er im Übermut die steinerne Statue des Gouverneurs zum Nachtessen einlud, sei diese erschienen und mit ihm in die Hölle gefahren. In Sevilla nannte man ihn einen "adligen Wüstling".
    Die erste literarische Bearbeitung des Don Juan-Motivs, die bis heute bekannt ist und gespielt wird, ist Tirso de Molinas Comedia famosa "El Burlador de Sevilla y Convidado de piedra", die 1624 in Madrid uraufgeführt wurde. Unter dem Titel "Der Verführer von Sevilla und der Steinerne Gast" ist sie in die deutsche Theatergeschichte eingegangen. Tirsos Don Juan de Tenorio ist berüchtigt für seinen Hochmut und seine Spottlust, die sich in den "Burlas", provozierenden Streichen in einer Mischung aus Niedertracht und Übermut, Bahn bricht. Warnungen vor dem Jüngsten Gericht schlägt er in den Wind mit der wiederholten Bemerkung: "Tan largo no me fiàis" – "damit hat’s noch eine gute Weile". Das besterlesene Possenspiel von allen nennt er die Verführung des Bauernmädchens Aminta am Tag ihrer Hochzeit mit Batricio. Bei Mozart begegnet man ihr in der Gestalt der Zerlina wieder.
    Tirsos "Burlador" wurde wie viele seiner Stücke wegen ihres unmoralischen, profanen Charakters ein Jahr nach seiner Uraufführung verboten, der Dichter aus Madrid vertrieben. Der Stoff gelangte nach Frankreich, wo ihn Molière für sich entdeckte, der gerade einen Stoff für seine Theatergruppe suchte, nachdem sein "Tartuffe" auf Anordnung des Erzbischofs von Paris abgesetzt worden war. Am 12. Februar 1665 wurde Molières "Dom Juan ou le Festin de Pierre", im Palais Royale uraufgeführt, eine höfische Komödie, in der Molière nicht nur das lasterhafte Treiben Don Juans, eines bei Hofe angesehenen eleganten Libertin, sondern vor allem die Heuchelei, das Mode-Laster par excellence der Zeit, aufs Korn nimmt.
    Für Friedrich Dieckmann, der unter dem Titel "Die Geschichte Don Giovannis. Werdegang eines erotischen Anarchisten" eine umfassende Kulturgeschichte Don Juans geschrieben hat, ist Molières "Don Juan"- Version der mentalitätsgeschichtliche Ausdruck des Übergangs vom Zeitalter der Renaissance zur Epoche des Barock: "Ein ganzes Zeitalter ist in Don Juan gefordert; es ist nicht aufrechtzuerhalten, aber es geht unerschrocken unter ... Bei Tirso ist das Stück noch in den festen Angeln der katholischen Gesellschaftsordnung, die als Weltordnung empfunden wurde, und da ist Dom Juan doch einfach der aufsässige, sich dem König nicht fügen wollende Adlige. Das war ja ein Hauptproblem in dieser Zeit, dass der Adel gezähmt werden musste, damit das Bürgertum mehr Raum gewann und vom Bürgertum lebte auch der Hof ... Also schränkte der König die Rechte des Adels ein; der Widerstand war erbittert und in diesen Rahmen fügt sich die Don Juan Figur und muss daher am Ende auch bereuen. Das ist der große Sprung zu Molière, dass dann die katholisch moralische Position, die bei Tirso noch vorhanden ist, unterminiert wird. Das war das Diabolische bei Molière, dass alle Moralstandpunkte zerplatzten, und dann kommt er am Ende auf Tartuffe zurück, weil Don Juan Elvira überredet, ins Kloster zu gehen, damit sie ihre Seele rettet. Also er will sich retten vor Elviras Anspruch auf ihn, indem er sie ins Kloster schickt, mit Argumenten, die aus dem Arsenal der Orthodoxie entlehnt sind. Er verwandelt sich also in einen Tartuffe, einen Heuchler, und da greift das Standbild ein und sagt, nein, das geht zu weit".
    Wichtige Station in der Blütezeit der Commedia dell'arte
    Eine weitere wichtige Station des Don Juan-Motivs ist Italien in der Blütezeit der Commedia dell'arte. Die der Unterhaltung dienende Situations- und Stehgreifkomik lässt das Didaktisch-Belehrende in den Hintergrund treten. Die bekannteste italienische Version ist Carlo Goldonis Komödie "Don Giovanni Tenorio, osia il dissoluto punito", "Don Giovanni oder der Wüstling". Es gibt darin keine rächende, moralische Instanz in Gestalt des steinernen Gastes wie bei Tirso de Molina und Molière; Don Juan wird von einem Blitz erschlagen.
    Über Italien gelangte der Stoff im 18. Jahrhundert auch nach Wien, wo Christoph Willibald Gluck eine Ballettmusik schrieb, "Don Juan ou le Festin de Pierre", zu der der Choreograf und berühmteste Tänzer seiner Zeit, Gasparo Angiolini, eine Choreografie schuf, die sich vom bis dahin vorherrschenden höfischen Ballett wesentlich abhob und als ein Meilenstein in der Geschichte der Tanzkunst gilt. Es ist das erste pantomimische Ballett, die choreografische Darstellung einer geschlossenen Handlung. Angiolini nannte das dreiaktige Stück ein "tragisches Ballett".
    Wie Angiolini die Tanzkunst reformierte, so trug Gluck wesentlich zur Reformierung der Oper am Übergang vom Barock zur Klassik bei, indem er die Musik dramatisierte und unter Einsatz neuer musikalischer Ausdrucks- und Stilmittel – Tempi, Crescendos und Diminuendos, Harmonienwechsel und Kadenzen, Instrumentierung und Phrasierungen – modernisierte und so den Weg zur Oper als Gesamtkunstwerk ebnete.
    Von seinen Zeitgenossen wurde das dramatische Finale der Ballettmusik, das große Parallelen zu dem Tanz der Furien aus der Oper "Orpheus und Eurydike" aufweist, als "Erdbebenmusik" oder "Katastrophenmusik" bezeichnet; sie hörten darin einen Nachhall des verheerenden Erdbebens, das am 1. November 1755 Lissabon erschüttert hatte – ein Naturereignis von übermenschlicher Vorstellungskraft, das die auf ihre zivilisatorischen Errungenschaften stolze Generation in ihren Grundfesten erschütterte und noch Jahre und Jahrzehnte später Philosophen, Dichter und Künstler veranlasste, sich mit dem Ereignis philosophierend, dichtend, komponierend auseinanderzusetzen. Den einen erschien es als Strafgericht Gottes, anderen als Eintritt in Dantes Inferno, auf jeden Fall als ein Schicksalszeichen aus überirdischen Sphären.
    Christian Friedrich Grabbe thematisiert in seiner Tragödie "Don Juan und Faust", die 1829 am Detmolder Hoftheater ihre Uraufführung erfuhr und zu der Albert Lortzing die Bühnenmusik komponierte, den Ideenkonflikt zwischen der körperlich-sinnlichen Begierde Don Juans und Fausts unstillbarem Streben nach Erkenntnis. Albert Lortzing komponierte "Das sind zwei Stücke, Marlowes Faust, auf einem deutschen Volksbuch beruhend, aber im England Elisabeths zum ersten Mal erscheinend als Buch, auf dem Theater sofort verboten, und dieser "Burlador de Sevilla". Es sind zwei prägnante Figuren der folgenden geschichtlichen Entwicklung, der nach schrankenloser Bemächtigung strebende Wissenschaftler, der mit seinen Erfindungen diesen Machtwahn verbindet, der ja bis in unsere Tage immer noch zugenommen hat, und der Aristokrat, der seine Vorrecht in einer Weise auslebt, dass die Gesellschaft durch diesen Machtanspruch zerrüttet wird. Das sind zwei ganz verschiedene Figuren, die treten fast gleichzeitig, der eine im Norden, der andere im Süden, in Spanien auf die europäische Bühne und haben bis heute ihre Faszination nicht verloren." (Friedrich Dieckmann)
    "Wenn Juan nur als Schurke erschiene, dann hätte er nicht diese Wanderung durch die Jahrhunderte machen können. Natürlich ist er auch die Verkörperung der unerfüllten Wünsche an die Natur, an die erotische Natur der Männer wie der Frauen, als eine Symbolfigur dessen, was in der sich entwickelnden Kulturgeschichte verdrängt und unterdrückt wird, das ist seine tiefste Anziehungskraft durch die Jahrhunderte, und das funktionierte natürlich nicht, ohne dass er am Ende genau an der angreifenden Moral scheitert. Das machte diese Demonstration der Potenz ja erst auf dem Theater möglich.
    Und da sich alle Zuschauer seit vielen Jahrhunderten in dem Balanceakt zwischen Über-Ich und Es, wie es bei Freud heißt, befinden, ist Don Giovanni, wenn man so will, das offensiv hervordringende Es im Ringen mit dem steinernen Über-ich des Komturs. Das wäre die einfachste Formel für das Ganze." (Friedrich Dieckmann)
    Mozarts Oper "Don Giovanni" nach dem Libretto von Lorenzo da Ponte
    Im Mittelpunkt der zweiten Stunde steht Mozarts Oper "Don Giovanni" nach dem Libretto von Lorenzo da Ponte, die am 29. Oktober 1787 in Prag uraufgeführt wurde. Nach dem Erfolg der "Hochzeit des Figaro" im Jahr zuvor beauftragte der Prager Impresario Bondini Mozart damit, für einhundert Dukaten eine neue Oper zu schreiben. Mozart kannte die in Wien aufgeführte Hanswurstiade "Dom Juan oder der steinerne Gast nach Molière und aus dem Spanischen von Tirso de Molina, bearbeitet mit Kaspars Lustbarkeit", die im Vorstadttheater in der Leopoldstadt mit großem Erfolg schon seit einiger Zeit lief.
    Undatiertes Bild von Wolfgang Amadeus Mozart (Attribut Joseph Hickel um 1783).
    Undatiertes Bild von Wolfgang Amadeus Mozart (Attribut Joseph Hickel um 1783). (picture-alliance / dpa / epa Christie's / Ho)
    Da Ponte, der sich häufig in Venedig aufhielt, hatte sich durch verschiedene Opernversionen inspirieren lassen, denn in Italien erfreute sich der Stoff vor allem als Oper großer Beliebtheit. Eine solche, "Don Giovanni oder der steinerne Gast" von Giuseppe Gazzaniga nach einem Libretto von Giovanni Bertati, diente da Ponte als Vorlage für ein eigenes Libretto, das er nach Rücksprache mit Mozart in vier Wochen fertigstellte.
    Am 1. Oktober 1787 fährt Mozart mit seiner Frau nach Prag, um in engem Kontakt mit den Sängern und Sängerinnen die Partitur zu beenden und ihr den letzten Schliff zu geben. Die Ouvertüre bringt Mozart in den frühen Morgenstunden der vorletzten und letzten Nacht vor der Aufführung zu Papier. Die Premiere wird ein großer Erfolg und "mit dem lautesten Beyfall" bedacht. Anders dagegen in Wien, wo die Oper ein halbes Jahr später, im Mai 1788 im kaiserlich-königlichen National-Hof-Theater Premiere hat: Sowohl bei der Kritik als auch beim Publikum wurde der Stoff als vulgär, abstrus und moralisch anrüchig empfunden. Die Oper wird nach fünfzehn Aufführungen vom Spielplan genommen. Der Kaiser, der Mozart im Dezember 1787 zum kaiserlichen Kammermusikus ernannt hatte, wohnte der letzten Aufführung bei.
    Friedrich Dieckmann zu Kaiser Joseph II., dem reformatorisch fortschrittlichen Herrscher, der viel für die Kultur seiner Zeit getan hat: "Einerseits betrug sich Franz Joseph II., dieser Reformator eines feudal-absolutistischen Systems, wie Don Giovanni mit dem Degen in der Hand, also den überlieferten Gewalten trotzend auf eine vehement offensive Weise, d. h. er mutete der Aristokratie zu, eine weltliche Gerichtsbarkeit, die nicht mehr über die Grundherren ausgeübt wurde, vom Staat ausrichten zu lassen; er verstaatlichte die Justiz zulasten der Aristokratie; er enteignete die Klöster. Und Mozart schrieb zu jeder dieser Reformen, die höchst umstritten waren in der Oberschicht, eine Oper. Also er schrieb zu diesem Toleranzedikt, das für die katholische Kirche so gefährlich war, dass der Papst in Wien angereist kam, um 1782, um diesen katholischen Kaiser zur Rede zu stellen – Mozart schrieb zu diesem Toleranzedikt die "Entführung aus dem Serail". Wo ein Muselmann der auf Rache verzichtende, der edle Oberherr ist. Dann folgt "Die Hochzeit des Figaro", ein schwerer Angriff auf die Aristokratie. Ein Dienerpaar bemächtigt sich sozusagen der Verhältnisse im Schloss und lenkt mit List und Klugheit die Verhältnisse am Ende zum Guten. Das war eine Herausforderung. Und dass der Grundherr das abgeschaffte Recht der ersten Nacht wieder einführen will, indem er sich die Braut mit nicht legalen Mitteln zueignet, und dass er am Ende zu Schaden kommt, das war ein Gegenwartsstück, das ins Mark der Verhältnisse traf. Joseph II. hatte das Theaterstück "Der tolle Tag" von Beaumarchais, das auch in Paris verboten war, in deutscher Sprache verboten, aber in italienischer Sprache als Oper hatte er es erlaubt. Er wollte also nicht, dass das Volk dieses Stück sieht und versteht, aber er wollte wohl, dass seine Aristokratie es zur Kenntnis nimmt. Und darum begünstigte er es. Es gab eine unglaubliche Intrige, aber mit dem Kaiser im Rücken ist da Ponte und Mozart das geglückt. Es ist natürlich eine unglaubliche Situation, wenn man einen reformfreudigen Monarchen hinter sich hat und verteidigen kann gegenüber der Reaktion.
    Nun kam "Don Giovanni", ein Prager Auftragswerk, und hatte nicht den unmittelbaren Rückhalt des Kaisers, der inzwischen durch seinen Türkenkrieg auch schwer beeinträchtigt war. Er war ein glückloser Kriegführer und hinzu kam der Widerstand der ländlichen Bevölkerung gegen seine aufklärerischen Reformen auf dem Gebiet des Bestattungswesens. Das spielt in "Don Giovanni" auch eine gewisse Rolle, weil, das ist eine Abweichung von allen vorangegangenen Versionen, Don Giovanni und Leporello nicht zu einer einzelnen Statue gehen, sondern zu einem Friedhof, auf dem mehrere Grabmäler sind. Und Don Giovanni ist so unvorsichtig, mit dem Degen gegen die Statuen zu hauen, und wird mit dieser Geste geradezu zu einem Abbild des Kaisers, der den Leuten verboten hatte, die Toten in Särgen zu bestatten. Sie mussten in Säcke genäht werden und die Tatsache, dass wir kein Grab haben von Mozart in Wien, ist nicht ein Versäumnis der Witwe, sondern hängt auch mit diesen Edikten von Joseph II. zusammen."
    Mozarts Oper hat erheblich zum Mythos des Don Juan beigetragen, dessen Popularität im 19. Und 20. Jahrhundert stetig wuchs und weitere Dichter und Künstler anregte, sich mit dem Stoff zu beschäftigen. Einer der ersten war E.T.A. Hoffmann, der Mozarts "Don Giovanni" die "Oper aller Opern" nannte. "Don Juan. Eine fabelhafte Begebenheit, die sich mit einem reisenden Enthusiasten zugetragen" ist der novellistische Essay überschrieben, der 1813 verfasst, in die "Phantasiestücke in Callots Manier" aufgenommen wird. Im Mittelpunkt steht nicht Don Juan, sondern Donna Anna, der der namenlose Reisende, ergriffen von der Dämonie der Musik in Liebe verfällt, während sie ihm von ihrer Begegnung mit Don Juan berichtet. Ein Spiel zwischen Traum und Wirklichkeit, Projektionen und Spiegelungen, ausgelöst durch den "himmlischen Zauber der Töne".
    Ein undatiertes Gemälde des dänischen Theologen, Schriftstellers und Philosophen Sören Kierkegaard.
    Ein undatiertes Gemälde des dänischen Theologen, Schriftstellers und Philosophen Sören Kierkegaard. (picture alliance / dpa)
    Auch Sören Kierkegaard schreibt über Mozarts "Don Giovanni". Seine Abhandlung "Die unmittelbaren erotischen Stadien oder das Musikalisch-Erotische" findet sich im Hauptwerk "Entweder-Oder". Don Juan erscheint ihm als Inkarnation der Genialität der Sinnlichkeit und Mozarts Musik das einzige Medium, das seiner Dämonie gerecht werde. Denn absoluter Gegenstand der Musik sei die "Idee der sinnlichen Genialität":
    "Don Juan ist ein Bild, das zwar immer wieder erscheint, aber niemals Gestalt und Konsistenz gewinnt, ein Individuum, das immerfort sich bildet, aber niemals fertig wird, von dessen Geschichte man nichts anderes erfährt, als wenn man dem Getöse der Wogen lauscht .... Don Juan ist von Grund auf Verführer. Seine Liebe ist nicht seelisch, sondern sinnlich, und sinnliche Liebe ist ihrem Begriffe nach nicht treu, sondern absolut treulos, sie liebt nicht eine, sondern alle, das heißt: sie verführt alle. Die seelische Liebe ist ein Bestehen in der Zeit, die sinnliche ein Verschwinden in der Zeit, das Medium aber, das dies ausdrückt, ist eben die Musik." (Kierkegaard)
    In der Fülle von Bearbeitungen des Don Juan-Stoffes im 18. Und 19. Jahrhundert manifestiert sich für Friedrich Dieckmann "die Signatur einer Spätzeit" – "einer Endzeit, wo es in der Luft lag, dass die Verhältnisse so nicht aufrecht zu erhalten waren. Es ist ein bisschen wie in unserer Zeit, wo wir auch nicht wissen, wie es ausgeht, aber das undeutliche oder auch deutliche Gefühl haben, dass es so wie es ist, nicht weitergeht. Aus einem ähnlichen Gefühl ist möglicherweise bei mir auch der Impuls zu diesem Buch entstanden - es ist ja entstanden in den letzten fünf Jahren der Deutschen Demokratischen Republik, also des regierenden Staatssozialismus, von dem auch abzusehen war, ohne dass man das hätte bestimmen können, aber es lag ein Gefühl in der Luft, dass es so wie es war, nicht unbegrenzt weitergehen würde und könne. Darum habe ich einen Satz von I. Kant als Motto über ein Kapitel gesetzt, das auch auf die Gegenwart des Verfassers Bezug nahm. Das lautet: "Das erste, was sich unserer Aufmerksamkeit darbietet, ist, dass der Boden, über dem wir uns befinden, hohl ist. Das gilt für das Jahr 1787, das galt für 1985 in der sozialistischen DDR. Es gilt natürlich auch für unsere Gegenwart. Und das ist vielleicht der Grund dafür, dass sich Don Giovanni- Inszenierungen heute allerorten finden, so wie damals in Venedig, wo die eine Oper von Bertati/Gazzaniga sozusagen andere Opern aus dem Boden schießen ließ, bis nach Wien hin, wo da Ponte zugriff."
    Don Juan und das 19. und 20. Jahrhundert
    Im 19. und 20. Jahrhundert erfährt der Don Juan-Stoff unter dem Eindruck der wachsenden gesellschaftlichen und mentalitätsgeschichtlichen Veränderungen viele weitere einschneidende Modifikationen.
    In Nikolaus Lenaus 1846 uraufgeführtem, bereits in die Moderne weisenden dramatischen Gedicht "Don Juan" von Nikolaus Lenau ist Don Juan nicht der Erotomane mit dem übersteigerten Selbstwertgefühl, sondern als Ästhet und Intellektueller ein Zweifler, der an sich und der Welt leidet. Jede Eroberung erzeugt in ihm neue Leere und Überdruss. Die bürgerliche Normalität ekelt ihn an; er sucht nach Höherem. Ernst Bloch vergleicht den Lenauschen Don Juan mit Faust:
    "Er sucht hier lediglich die Eine, die Idee des Weibs, und seine empirische Untreue ist höchste Liebestreue, nämlich gegen das Wesen, an dem er bleiben könnte. Lenau stellt Don Juan so universalisch in seiner Art und so landungsbedürftig dar wie Faust. Darum rast dieser andere Don Juan durch den "Zauberkreis, den unermesslich weiten, von vielfach reizend schönen Weiblichkeiten" wie Faust durch seine Weltkreise fährt: beide auf der Jagd nach dem Augenblick, der nicht Ekel und Langeweile wird, wenn er betreten worden ist."
    Lenaus "Don Juan" regte Richard Strauss zu seiner 1889 uraufgeführten Tondichtung "Don Juan" an.
    Charles Baudelaire, Don Juan in der Hölle (Übertragung von Stefan George)
    Als Don Juan den Styx befahren sollte
    Und der Charon seinen obolus bekam:
    Ein düstrer bettler dessen auge rollte
    Mit starkem rächer-arm die ruder nahm.
    Die frauen stöhnten umterm schwarzen himmel
    Die brüste schlaff die kleider aufgelöst –
    So wie von opfertieren ein gewimmel
    Das ein gedehntes brüllen von sich stößt.
    Mit lachen redet Sganarell vom lohne
    Indes don Luis den finger zitternd hielt –
    Er wies vor allen toten nach dem sohne
    Der frech mit einem greisen haupt gespielt.
    Es schien die keuche magere Elvire
    Den falschen gatten, der ihr buhle war
    Zu bitten dass ihn noch ein lächeln ziere
    So süß wie in der ersten schwüre jahr.
    Ein mann aus stein in voller rüstung lenkte
    Das steuer und durchschnitt die schwarze flut –
    Der stille held jedoch aufs schwert sich senkte.
    Er hat dies alles nicht zu sehn geruht.
    "Don Juan kommt aus dem Krieg" heißt das Theaterstück Ödön von Horvaths, das nach dem Ende des Ersten Weltkriegs im Winter 1918 angesiedelt ist. Don Juan kehrt aus dem Krieg zurück und sucht vergeblich nach seiner inzwischen verstorbenen Geliebten.
    "Das Rätsel Don Juan wurde in mannigfacher Weise zu lösen versucht, weit hunderten Jahren, aber das Rätsel ist unlösbar", schreibt Horvath im Vorwort, "Die gestalt hat die verschiedenartigsten Wandlungen durchgemacht, vom primitiv gesehenen Ehebrecher, Mörder und Totenlästerer bis zum psychologisch sezierten müden Kavalier. Er ist der große Verführer, der immer und immer von den Frauen verführt wird. Alle erliegen ihm, aber – und dies dürfte das Entscheidende sein: wirklich geliebt wird er von keiner."
    Das Burleske, Komische, wird in zwei Theaterstücken fokussiert, die in den 50er-Jahren mit großer Resonanz uraufgeführt wurden: Max Frischs "Don Juan oder die Liebe zur Geometrie" und Jean Anouilhs "Der Herr Ornifle".
    "Don Juan ist ein Intellektueller, wenn auch von gutem Wuchs und ohne alles Brillenhafte. Was ihn unwiderstehlich macht für die Damen von Sevilla, ist durchaus seine Geistigkeit, sein Anspruch auf männliche Geistigkeit, die ein Affront ist, indem sie ganz andere Ziele kennt als die Frau und die Frau von vornherein als Episode einsetzt – mit dem bekannten Ergebnis freilich, dass die Episode schließlich sein ganzes Leben verschlingt.", schreibt Max Frisch im Vorwort.
    Peter Handkes "Don Juan"-Paraphrase erschien 2006 und ist ein locker zusammengefügter Prosatext, in dem sich objektive Anschauung und subjektive Bewusstseinsprozesse zu einem assoziativen, poetischen Gedankenspiel vereinen. In "Don Juan (erzählt von ihm selbst)" versucht der Dichter Handke, dem Magier Don Juan und dessen Ideal eines reinen, unbedingten Begehrens nachzuspüren und es in Sprache zu verwandeln. Dafür nimmt er ihn sieben Tage in seiner abgeschiedenen Herberge im ehemaligen Kloster von Port Royal auf und lässt sich von ihm seine Sieben-Tage-Reise zu den Frauen erzählen.
    "Durch das, was mein Don Juan mir von sich selber erzählte, habe ich erfahren: Das waren allesamt die falschen Don Juans – auch der von Molière, auch der von Mozart.
    Bevor er das Gartentor öffnete, sah ich ihn noch auflachen und hinauswinken, auch draußen sah ich jemanden lachen und winken, einen aus den Auwäldern zu den Frauen getretenen Mann. Was weiter geschah, lässt sich nicht zu Ende erzählen, weder von Don Juan selbst noch von mir, noch von sonst wem. Don Juans Geschichte kann kein Ende haben, und das ist, sage und schreibe, die endgültige und wahre Geschichte Don Juans."
    Musik zur Langen Nacht des Don Juan:
    Wolfgang Amadeus Mozart, Don Giovanni, Live-Mitschnitt einer Aufführung der Kölner Oper vom 20.3.1960, mit Hermann Prey (Don Giovanni), Georg Stern (Leporello), Elisabeth Grümmer (Donna Anna), Fritz Wunderlich (Don Ottavio),, Hildegard Hillebrecht (Donna Elvira), Edith Mathis (Zerlina); dem Chor der Oper Köln und Gürzenich-Orchester Köln unter der Leitung von Wolfgang Sawallisch. Deutsche Grammophon 2009
    (Dies ist eine der wenigen, noch erhältlichen Aufnahmen in deutscher Sprache; sie wurde im Archiv der Kölner Oper nach der Überschwemmung gefunden und von Deutsche Grammophon auf 3 CDs produziert.)
    Mario Castelnuevo-Tedesco, Platero qnd I; Quintet for Guitar and String Quartet, op.143.
    Andrés Segovia und das Paganini Quartet. ITM-MEDIA 1993
    Christoph Willibald Gluck, Don Juan, English Baroque Soloists unter Sir John Eliot Gardiner. Warner Classics UK 2001
    Richard Strauss, Don Juan, op. 20, Berliner Philharmonisches Orchester unter James Levine (3sat 2012) oder Berliner Philhamonisches Orchester unter Gustavo Dudamel, digital concert hall, Aufnahme Philharmonie am 2.2.2013;
    Ders., Don Juan und Ein Heldenleben, Concertgebouw Orchestra, Amsterdam unter Wilhelm Mengelberg (Dutton Laboratories 1999)
    Dave Holland, Pepe Habichuela, Hands, Dave Holland, April 2010, Universal Music Group
    Ergänzende Literaturtipps:
    (ohne Hinweise auf die einzelnen behandelten Werke, die in Gesamtausgaben oder in Reclams Universal Bibliothek vorliegen)
    Friedrich Dieckmann: "Die Geschichte des Don Giovanni, Werdegang eines erotischen Anarchisten". Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 1991
    Sören Kierkegaard: "Die unmittelbaren erotischen Stadien oder das Musikalisch-Erotische", aus: Sören Kierkegaard: "Entweder – Oder" , hrsg. von Hermann Diem und Walter Rest. Deutsche Übersetzung von Heinrich Fauteck, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1975
    Wolfgang Amadeus Mozart: "Don Giovanni". Texte, Materialien, Kommentare, hrsg. von Attila Csampi und Dietmar Holland, Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 1981
    Bernd Deiniger, Helmut Remmler: "Liebe und Leidenschaft in Mozarts Opern". Kösel-Verlag, München 2000
    Wolfgang Hildesheimer: "Mozart", Insel Verlag, Frankfurt am Main 1990
    Peter Handke: "Don Juan (erzählt von ihm selbst)", Suhrkamp, Verlag Frankfurt am Main 2004