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Die Leiden der jungen Helden

Der Schuss zerriss die Stille, die über dem Gelände lag. Die Schwarze Fledermaus ging blitzschnell wieder hinter der Hausecke in Deckung.

Von Siggi Seuß | 24.06.2006
    Wieder bellte ein Schuss.

    Der kühne Beginn für eine Sendung über heldenhafte Abenteuer heldenhafter junger Männer.

    Es gibt unter den Jungheldengeschichten inzwischen furchtbar viele, die mit einfachen Strickmustern die Wiederkehr des Immergleichen zelebrieren, obwohl die Autoren dazu die verrücktesten Parallelwelten zusammenzimmern. Aber - und das ist sehr tröstlich -, es gibt unter den Neuerscheinungen in der Kinder- und Jugendliteratur auch Geschichten von Junghelden, die sich ganz und gar im Hier und Jetzt bewegen, und die sich der Endlichkeit des Raumes und der Beschränktheit ihrer Superheldenkraft wohl bewusst sind - oder im Lauf der Geschichte bewusst werden.

    Siggi Seuß stellt die Geschichten vor.

    Das wahre Heldenleben eines Jungmannes: Mit neun Dornröschens Prinz. Mit zehn Kumpel von Tick, Trick und Track, mit elf Kompagnon von Kalle Blomquist, mit zwölf an der Seite Old Shatterhands - dazwischen einige Eskapaden mit Nick, dem Weltraumfahrer. Mit dreizehn Assistent der Schwarzen Fledermaus, einer der vielen Nachfahren von Superman.

    " Die Schwarze Fledermaus hatte noch keine zehn Yards zurückgelegt, als auch schon der nächste Schuss krachte. Das Projektil pfiff wenige Millimeter am rechten Ohr der Schwarzen Fledermaus vorbei."

    Und irgendwann um die 14 reifte die bittere Erkenntnis: Im richtigen Leben pfeifen einem ständig Projektile am rechten Ohr vorbei und noch mehr Geschosse treffen uns Helden mitten ins Herz. - Wer von den Jungmännern hat nicht eine ähnliche Karriere hinter sich? Okay, die Namen ändern sich und die Orte, vielleicht auch die Waffen, aber die Mission bleibt immer die gleiche: Das Gute in der Welt zu retten, das Böse in seine Schranken zu weisen und für sich selbst einen Modus vivendi zu finden.

    " Superheld, verlassen und verloren in der Welt der Sterblichen, ohne sein Kostüm und seine Superkraft."

    Tröstlich ist, dass die Junghelden, die wir heute vorstellen, im Grunde alle im selben Boot sitzen, obwohl sie sich nicht kennen und in vier Ländern auf drei Kontinenten wohnen: in Kanada, USA, Australien und in Wales. Dass die Jungmänner allesamt in angelsächsischen Gefilden aufwachsen - darüber könnte man auch nachdenken, aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls schlagen sie sich mit vielen Illusionen, aber ohne Zaubertricks durchs Leben und legen manchmal heldenmütige Verhaltensweisen an den Tag, die uns respektvoll den Hut ziehen lassen.

    " Heck bewegte sich jetzt wie in einem Comic Strip, von Bild zu Bild, und unter seinen Füßen befanden sich die Worte, die ihn seinem Schicksal zuführten, das ihn zu einer Macht bestimmt hatte, die für das Gute in der Welt kämpfte."

    Wie im Universum amerikanischer Comicsuperhelden lösen sich Hecks Helden in Martine Leavitts Roman "Mein Leben als Superheld" vom Papier und bewegen sich von Bild zu Bild. Stets bereit, die nächste Herausforderung mit einer guten Tat zu meistern. Und so stehen eben Jungmänner wie Heck mit ihren realen Schwächen und überbordenden Gedanken manchmal in den Bildern ihrer Fantasie wie auf Brücken zu Parallelwelten, weil sie die erste Welt aus der Bahn zu werfen droht, vor allem dann, wenn sie von Selbstzweifeln geplagt werden.

    Der Roman der kanadischen Autorin geht weit über eine Persiflage auf Superhelden-wie-wir-Epen hinaus. Leavitt entwirft eine tragische Mutter-Sohn-Beziehung. Hecks Mom - eine allein erziehende Frau - ist eine Traumtänzerin, die ihrem "kleinen Helden", wie sie ihn nennt, viel mehr zumutet, als der tatsächlich verkraftet. Heck versucht von klein auf den Erwartungen der Mutter gerecht zu werden, führt den Haushalt, wird ein guter Schüler und ist - gefördert von seinem Kunstlehrer - ein außergewöhnlich talentierter Zeichner und Maler. Und selbstverständlich liebt er Superhelden-Comics über alles. Sie ermöglichen ihm Sprünge in Parallelwelten, wenn er in der ersten nicht weiter weiß. Wie jetzt, wo sich Mom wieder einmal in die "Hyperzeit" flüchtete. Sie verschwand ohne Lebenszeichen, nachdem ihr die Wohnung gekündigt wurde.

    " Seine Mom war in der Hyperzeit, kein Zweifel. Immer fing es so an - sie wurde traurig, konnte nicht zur Arbeit, nicht mal mehr unter die Dusche gehen konnte sie.

    Er musste sie finden, und zwar schnell, bevor jene andere Dimension, in der sie nicht existierte, zu verlockend für sie wurde. Wenn sie ihn sah, dann würde sie wissen, dass sie ihn zu lieb hatte, um so weit weg zu gehen. "

    Verzweifelt sucht Heck in den nächsten Tagen seine Mutter, hat Sorge, sie könnte sich das Leben nehmen und glaubt, Mom sei mit einer Reihe von guten Superheldentaten aufzuspüren. - Ein mehrtägiger Kampf mit seinem Heldengebaren und mit den Widrigkeiten des Alltags beginnt. Er schwänzt die Schule, vertraut sich nicht mehr seinem besten Freund und seinem Kunstlehrer an, schluckt sogar eine Aufputschpille. - Martine Leavitt lässt Heck durch sein Stadtviertel irren, dass man glaubt, das Herz des Jungen pochen zu hören. Und langsam begreift man, dass der Junge von dem, was er tut - was er glaubt, tun zu müssen, völlig überfordert ist.

    " Er war nur ein Kind, ein Kind, das versuchte, seine Mom aus der Hyperzeit zu retten, obwohl es doch selbst drin steckte. ...

    Kein Superheld, nur ein Ganz Gewöhnliches Kind, das Hilfe brauchte. "

    Nach einem tragischen Showdown kommt das Ende leider etwas zu dick. Als ob es einen Erkenntniszwang nach durchlittenen Katastrophen gäbe, füllen sich am Schluss die guten Gedanken der Betroffenen wie die Sprechblasen von Comicfiguren nach getaner Tat. Sieht man von diesem, in der nordamerikanischen Kinderliteratur weit verbreiteten Moralritual ab, dann ist der Roman das glaubwürdige Psychogramm eines völlig überforderten Jungen - nicht ohne Hoffnung, nicht ohne Ironie. Darüber hinaus ist "Mein Leben als Superheld" eine spannende Geschichte und eine Reminiszenz an den amerikanischen Comic.

    Eigentlich dürfte der Flöten spielende schwarze Junge Alvin aus Washington D.C. - ganz anders als Heck - keinen Grund zur Familienklage haben. Zwar starb sein Dad, als Alvin vier Jahre alt war, aber Mum versorgt den Knaben, nur unwesentlich von Grandma korrigiert - man kann schon sagen: rund um die Uhr. Der Schein harmonischer Verhältnisse trügt. Donna Jo Napolis neuer Roman "Nach Norden" zeigt, wie sich ein Junge zwischen seinen fantastischen Ideen und dem mangelnden Zutrauen seiner Mutter zu den Talenten ihres Sohnes so zerrissen fühlt, dass er eines Tages heimlich seinen Rucksack packt und das traute Heim verlässt, wie einst Hänschen klein. Alvin - von seinen Mitschülern "Zwerg" genannt - ist überaus erzürnt darüber, wie ihn Mum kontrolliert, ihm sogar die Mitfahrt auf einer für ihn sehr wichtigen Klassenfahrt verweigert, aus Angst, ihm könne etwas zustoßen. Seine Entscheidung zu gehen, ist wohl überlegt.

    " Er steckte das Messer in seinen Rucksack. Dann sah er nach, ob sein Kompass auch wirklich in der Seitentasche des Rucksacks war. Für alle Fälle trug er ihn immer mit sich herum."

    Alvins Entscheidung zu gehen, ist wohl überlegt, weil er eigentlich nichts weiter plant, als das ernst zu nehmen, was seine Klassenlehrerin "primäre Forschung" nennt: Alvin hat sich in einem Unterrichtsprojekt über berühmte Afroamerikaner entschieden, dem Leben seines Idols, des schwarzen Polarforschers Matthew Henson, auf die Spur zu kommen, der zusammen mit Robert Peary 1909 als erster den Nordpol erreichte. Bücher gelesen und im Internet recherchiert hat Alvin genug. Nun will er beweisen, dass er ebenso selbständig entscheiden kann wie Henson als der in Alvins Alter war. Damals heuerte der zwölfjährige Matthew auf einem Schiff an. Nun will sich Alvin auf den Weg in die Arktis machen, um Nachfahren Hensons zu suchen, die dort leben sollen. In seinem Notizheft trägt der Junge einen Satz seines Helden, den auch er zum Leitspruch wählt:

    " Der Lockruf der Arktis zerrt an meinem Herzen. Der Pfad ruft nach mir! Der alte Pfad - der Pfad, der immer wieder neu ist."

    Da wird es einem als Jungheld im Ruhestand ganz warm ums Herz. Hätten wir das damals nicht auch gerne so geplant? Ein Leidensgenosse verlässt das Elternhaus nicht im Gefühlschaos, sondern mit der festen Absicht, nach getaner Forschungsarbeit wieder ins warme Nest zurückzukehren. Und weil er seine Familie trotz allem liebt, schreibt er natürlich Briefe wie diesen:

    " Liebe Momma, liebe Grandma,

    wie geht es euch? Mir geht es gut. Macht euch keine Sorgen, bei mir ist alles in Ordnung. Tut mir leid, dass ich nicht angerufen habe. Aber ich schreibe, so oft ich kann. Ich bleibe eine Weile weg, dann komme ich nach Haus."

    Um die familiäre Frage müssen wir uns also keine allzu großen Sorgen machen. Aber so ein kleiner Mann in einer so riesigen, fremden, gefährlichen Welt? Sie beginnt an der Bushaltestelle Mount Pleasant Street. Und sie endet tausende von Meilen nördlich in einer Einsiedlerhütte auf Bylot Island, weit nördlich des Polarkreises. Dazwischen liegen die Stationen New York, Buffalo, Toronto, Winnepeg, Churchill an der Hudson Bay und Pangnirtung auf Baffin Island. Dazwischen liegen Abenteuer im Zug, im Kleinflugzeug, im Hundeschlitten und zu Fuß. Und nur am Anfang scheint alles glatt zu laufen. - Donna Jo Napoli erzählt, zumindest auf den ersten 150 Seiten, ungemein spannend von einer Abenteuerreise mit überraschenden Ereignissen und gefährlichen, ja auch lebensbedrohlichen Zwischenfällen. Die Dramaturgie aus absichtlichen und zufälligen Geschehnissen, aus Glücksempfindungen und erlittenen Niederlagen, fesselt die Leser Seite für Seite. Aber im Hintergrund hat man immer das Gefühl, dass Alvin geschützt wird. Wie es ein Inuk-Freund des Jungen ausdrückt:

    " Irgendwo muss es jemanden geben, der auf deiner Seite ist."

    Wir ahnen natürlich: es ist die Autorin. Aber das tut nichts zur Sache, solange uns Alvins Sehnsucht nach der "wilden Schönheit der Arktis" glaubwürdig erscheint ...

    "Wilde Schönheit". Den Ausdruck fand Alvin unheimlich gut."

    Weil sie unseren eigenen Sehnsüchten nahe ist, und so lange die Reisestrapazen für uns nachvollziehbar bleiben. Das heißt: so lange nicht das Konstruktionsprinzip des Romans sichtbar wird - es ist im Grunde ein langes leidenschaftliches Plädoyer für eine Pädagogik der Freiheit, der Lebensnähe und des Learning By Doing. So lange wir das Prinzip nicht erkennen, nehmen wir die Wanderungen und Wandlungen Alvins zum kleinen Helden des Alltags gerne als Wirklichkeit. Dass auf den letzten 50 Seiten denn doch ein bisschen zu viel lebensnaher Unterricht vor Ort stattfindet, als Alvin bis zum Sommer mit einem Einsiedler zusammenlebt, ist fast schon eine andere Geschichte. Aber selbst da - im pädagogisch wertvollen Teil, in dem der schwarze Junge aus Washington D.C. viel über die verlorenen Sitten und Gebräuche der Inuit lernt -, selbst da erzählt Donna Jo Napoli noch in beeindruckenden Bildern von der wilden Schönheit des Landes und von den fast verlorenen Tugenden des Zusammenlebens.

    Auch der Weg unseres dritten Helden, Mac aus dem australischen Kaff Shell Bay am Südpazifik, ist - wie Alvins Reise - ein Weg zu sich selbst. Der Vierzehnjährige hat schon zu Beginn von "Ich hab dir Meer/mehr versprochen" ein Problem. Im neuen Roman des australischen Schriftstellers Ian Bone wird es nicht das bedeutendste bleiben:

    " So schnell ich konnte, stapfte ich hinaus auf den menschenleeren Pier und postierte mich an seinem Ende. Okay, alter Ozean, mach dich auf was gefasst. Du bist noch nie so beschimpft worden, wie du jetzt gleich beschimpft werden wirst. Um meinen Worten noch mehr Nachdruck zu verleihen, beugte ich mich über die Brüstung und brüllte:

    "Dich braucht man ungefähr so dringend wie einen Soßenfleck auf dem T-Shirt. Dich kann man nicht trinken, du machst einen nur nass und in dir wohnen die hässlichsten Wesen, die es überhaupt gibt. Und was das Krasseste ist - die scheißen auch noch in dich rein. Ist doch wahr! Ich meine, wie blöd kann man sein? Du bietest Millionen von Fischen eine Heimat und sie danken es dir, indem sie jede Sekunde des Tages in dich reinkacken. Du bist ein Becken voll Scheiße!"

    Hoho! Dem hatte ich es aber gezeigt. Ich hatte den Ozean so richtig fertig gemacht mit meinem Wahnsinnswitz. Ich wartete auf seine Antwort, um mich in der uralten Kunst des humoristischen Schlagabtauschs mit ihm zu messen, aber er blieb stumm. Ich hatte gesiegt! Ich hatte meinen alten Feind, den Ozean, besiegt."

    Mac, der Held, Besieger des Ozean, ein Quassler vor dem Herrn, der jedes Problem wegquasseln kann. Kein Wunder, wenn die Mutter Unidozentin für neuere Literatur ist, Spezialgebiet Gags, Kalauer, Witze und Wortspiele, und der Vater Philosophieprofessor, der gerade über einem neuen Standardwerk brütet. So weit, so gut. Mit den Eltern kann er gut, mit den Geschwistern erträglich leben, selbst wenn die Familie seit einem halben Jahr in einem Haus am verhassten Meer wohnt und dazu noch in einem Kaff am Ende der Welt.

    " Der Ort bietet alles, was sich ein dürrer, verpickelter Vierzehnjähriger wie ich nur wünschen kann. Vier der Dinge, die ich am allerliebsten habe: einen Supermarkt, einen Pier, eine Schule und - den Ozean. Diese gewaltige, kalte Ausdehnung tückischen Wassers, die nur darauf wartet, das sich dieser picklige Junge vergisst und hineinstürzt."

    Aber dann geschieht etwas, das Macs Leben radikal verändert: Mutter hat Brustkrebs. Wird operiert. Muss eine Chemotherapie über sich ergehen lassen. Und Mac erkennt, dass sich diese Katastrophe nicht hinwegquasseln lässt, obwohl er es mit seinem rhetorischen Rüstzeug immer wieder versucht. Fast redet er sich damit gegenüber seiner Mutter um Kopf und Kragen.

    Auch in diesem Roman geht es - wie bei Heck und Alvin - um einen Mutter-Sohn-Konflikt, um schwer erfüllbare Erwartungen und um die Rolle des souveränen Helden, in die sich pubertierende Jungmänner zwängen, um so zu tun, als hätten sie alles im Griff. In seiner Verzweiflung hat Mac seiner Mutter die Geschichte der wundersamen Rettung einer Frau erzählt, die durch das Schwimmen mit einem Delfin auf ihre Krebserkrankung aufmerksam wurde. Eigentlich war das Ganze als Witz gedacht, aber Mum nimmt es in ihrer Lage ernst, würde gern mit ihrem Sohn und einem Delfin im Meer schwimmen und erwartet damit von Mac schier Unmögliches.

    " Und so wuchs die Delfinnummer von einem schwachen Witz zu einem festen und absolut unwiderruflichen Versprechen heran. Ich musste mit Delfinen schwimmen.

    Ja, und?, werdet ihr euch jetzt vielleicht fragen, wo liegt das Problem?

    Ich schwimme nicht."

    Ein zäher Kampf mit sich selbst und den äußeren Widrigkeiten beginnt. Eine gefürchtete Schülerin aus der Oberstufe setzt ihm zu, an der er erst nach und nach erstaunlich sympathische Seiten kennen lernt. Sie wird ihn mit bisher fremden Gedanken vertraut machen - dazu gehört auch der Umgang mit einem Delfin, der sich regelmäßig am Pier sehen lässt. Wie das dem wasserscheuen Helden weiterhilft und er - seinen Leidensgenossen Heck und Alvin gleich - zu sich selbst und damit zum ehrlichen Umgang mit den ihm nahen Menschen findet, erzählt Ian Bone sehr lebendig. Den selbstironischen Ton beherrscht er meisterhaft. Witz und Ironie überspielen aber nie den ernsten Kern der Geschichte. Sie werden als das, was sie sind, gezeigt: nicht selten unzureichende Mittel, die eigenen Hilflosigkeit gegenüber dem feindlichen Leben zu kaschieren.

    Wer Seite 318 des nächsten Romans erreicht hat - und somit das Ende der Geschichte -, hat ebenfalls den kurvenreichen Weg eines Junghelden zu sich selbst verfolgt. Nur, dass diesmal eher der Vater als die Mutter die motivierende Gestalt für den Helden ist. Erst einmal werden die Leser aber wahrscheinlich eigenartige Phänomene an sich beobachten. Statt Entspannung unruhiges Hin- und Herwandern, viele Fragen. Stand Londons Bankenviertel vor kurzem unter Wasser? Wurden deshalb die Gemälde der Nationalgalerie ausgelagert? Später wird die Straßenkarte "Großbritannien und Irland" studiert. Gibt es einen Ort namens Manod?

    Solche und ähnliche Irritationen der Orientierung können geschehen, wenn man "Meisterwerk", den neuen Roman von "Millionen"-Autor Frank Cottrell Boyce, aus der Hand legt. Die Geschichte kann einen so neugierig machen, dass man statt der geplanten Afrikasafari im Sommer einen Trip nach Wales plant, in einen Ort namens Manod am Fuße eines seltsamen Hügels namens Mount Manod.

    " Man folgt einfach dem Ortsschild für Manod an der A 496, "

    fordert uns der Erzähler, der zehnjährige Dylan auf,

    "und fährt dann immer weiter, bis die Straße zu Ende ist."

    Es gibt die A 496 tatsächlich. Es gibt die Orte, die im Roman von Bedeutung sind. Es gibt einen Hügel namens Mount Manod, in dessen vom Schieferbergbau durchlöchertem Inneren während des Zweiten Weltkriegs Kunstschätze der Nationalgalerie ausgelagert wurden. - Im Wesen der Geschichte geht es um die Kunst des freundlichen Überlebens unter den Bedingungen des mausgrauen Alltags. Im Grunde ist Frank Cottrell Boyce Roman eine großartige Hommage an die Liebesbeziehung von Kunst und Leben. Und der kleine Dylan - mit all seiner Unerfahrenheit, seiner Naivität, seinen Ängsten und Hoffnungen, seiner Neugierde und seinem Sinn für Gerechtigkeit -, der kleine Dylan wird der Held der Geschichte, gerade weil er Gutes tut, ohne es zu wissen. Das heldenhafte Leben seiner Lieblingszeichentrickfiguren, der Ninja-Turtles, dient dabei manchmal als Erklärungsmuster für die Ereignisse in Manod, nicht aber - wie bei Heldenkollege Heck - als Leitmotiv fürs Handeln. Dylan dokumentiert das Leben um ihn herum im Zeitraum eines halben Jahres in einer Art Tagebuch. Dass er dabei die Fähigkeiten seines Dad bewundert - keine Frage.

    " Zum Beispiel, als wir damals in Prestatyn waren und Minnie schwimmen wollte und ich mich weigerte, ins Wasser zu gehen, weil es zu kalt war. Sie sagte die ganze Zeit:"

    " Komm schon rein. Wenn man drin ist, ist es schön."

    " Und ich sagte die ganze Zeit: "Nein."

    Dad stand auf, ging zum Wohnwagen rüber und kam mit einem Kessel kochend heißem Wasser wieder. Er goss das Wasser ins Meer und meinte: "Dylan, komm und teste es mal. Sag mir, ob es jetzt gut ist oder ob noch mehr rein muss."

    "Nein, jetzt ist es gut, danke, Dad", sagte ich.

    "Sicher?"

    "Sicher."

    "Auch nicht zu heiß?"

    "Nein, genau richtig."

    "Sag einfach Bescheid. Wenn es wieder zu kalt wird, kann ich jederzeit noch heißes machen."

    Dann spritzte Minnie mich voll und ich spritzte zurück und wir blieben im Wasser, bis die Sonne unterging.

    Er hat für uns das Meer repariert. Also, das ist zu bewundern. "

    "Er hat für uns das Meer repariert." - Für solche Sätze, für solch hoffnungsvoll augenzwinkernde Sichten auf die unvermeidlichen Widrigkeiten des Lebens, muss man diese Geschichte lieben. Natürlich sagt das Dylan in vollem Bewusstsein der nackten Tatsachen. - Der Junge sorgt sich vor allem um die Existenz der Autowerkstatt seines Vaters. Um die "Snowdonia KFZ-Oase" zu retten, sind er und seine jüngere Schwester sogar bereit einen Kunstraub zu begehen - einen echten Van Gogh! - Boyce erzählt um diesen Leitfaden herum vom Alltag der skurril-liebenswerten Bewohner des Städtchens so lebendig, dass die Kernhandlung zwar als ein bedeutsamer Teil aber eben nur ein Teil dieses Mikrokosmos erscheint. Ignoranten mögen in Manod den regenreichsten und gräulichsten Ort im Land sehen.

    " In Manod hängen die Wolken manchmal so tief, dass man durch sie hindurch läuft, wenn man die Treppe hinaufsteigt, um oben auf die Toilette zu gehen."

    Je mehr man sich jedoch in die Geschichte ziehen lässt, desto bunter wird das Bild. Die Grautöne der Landschaft schimmern in allen Schattierungen. - Der Autor ist ein Farbenspieler, er ist zudem ein Meister des Gedankensprungs, des Hintersinns und der Ironie. Kurz: er ist ein genialer Dramaturg des bunten Lebens im grauen.

    Hinter Dads Werkstatt gibt es nur noch einen holprigen Weg zum wolkenverhangenen Gipfel des Mount Manod. Und der wird bald zu einem zweiten Zentrum des Geschehens, denn die Nationalgalerie lagert wegen der Überflutung Londons wieder einmal ihre Gemälde ein. - Damit beginnt das Wunder von Manod. Dass die wundersame Wandlung der Bürger von Manod unmittelbar mit dem Einfall der Kunst zu tun hat, gibt jenen Tagträumern Nahrung, die wacker daran glauben, ein gutes Bild, ein gutes Buch könne die Welt freundlicher machen. Zumindest bunter. Hier schließt sich nicht nur der Bogen von der Nationalgalerie zur Snowdonia KFZ-Oase.

    Hier schließt sich der Bogen, der sich von unserem jungen Helden Heck in Kanada zu Alvin in Washington zieht, von dort zu Mac in Australien und schließlich wieder zu Dylan in Wales. - Wenn sich nach den ersten Irritationen die Gemüter beruhigt haben, dann ahnt man, dass die Polarlichter in der Arktis und ein Regenbogen im schiefergrauen Manod einiges miteinander zu tun haben, genauso wie die Einsamkeit eines jungen Menschen in einem kanadischen Großstadtviertel und die Verlorenheit in einem australischen Provinzkaff. Zwischen flirrenden Fantasien und dem Boden der Realität: Es gibt sie noch, die Helden des Alltags. Manchmal schweben sie ein paar Zentimeter über der Erde, meistens jedoch siegt die Schwerkraft. Der Weg der Helden ist nicht vorgezeichnet, er ist steinig und nach vollbrachter Tat steht kein Ehrenpokal im Kinderzimmer. Aber das Leben geht weiter, Mütter und Väter sind noch die alten und der nächste Ärger wartet um die Ecke - nur das Schmunzeln in den Gesichtern unserer Leidensgenossen ist neu.


    Literaturliste
    Martine Leavitt:
    Mein Leben als Superheld

    Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann.
    Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag, München 2006, 158 Seiten, 14,90 Euro

    Donna Jo Napoli:
    Nach Norden

    Aus dem Amerikanischen von Birgitt Kollmann.
    Carl Hanser Verlag, München 2006, 256 Seiten, 14,90 Euro

    Ian Bone:
    Ich hab dir mehr/Meer versprochen

    Aus dem australischen Englisch von Katarina Ganslandt.
    Ravensburger Buchverlag, Ravensburg 2006, 224 Seiten, 12,95 Euro

    Frank Cottrell Boyce:
    Meisterwerk

    Aus dem Englischen von Salah Naoura.
    Carlsen Verlag, Hamburg 2006, 320 Seiten, 14,90 Euro