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Die Liebe der Zuschauer zum Theater

Zur Halbzeit wartet das Theaterfestival in Avignon mit einer prominenten Premiere auf: Der Choreograf Jérôme Bel will mit "Cour d'Honneur" auf die Dynamik zwischen Aufführung und Publikum hinaus. Dafür hat er Menschen gecastet, die gerade keine Schauspieler sind. Sondern: Zuschauer.

Von Eberhard Spreng | 18.07.2013
    14 Stühle sind im Halbkreis auf der großen Bühne des Papstpalastes aufgestellt. 14 Menschen in Alltagskleidung betreten sie und setzen sich. Für einige Sekunden schauen sie ins 2000-köpfigen Publikum und schweigen. Zuschauer sitzen Zuschauern gegenüber; eine Frage steht im Raum: Was hat man sich zu sagen, wenn nicht die professionellen Akteure der Aufführung das Wort haben, sondern die schweigenden Liebhaber des Schauspiels: die Zuschauer.

    Und dann tritt die erste Person ans auf der Vorderbühne aufgestellte Mikrofon und schildert seine erste Berührung mit dem Papstpalast und einer dortigen Aufführung. Wie kann es sein, dass ein so berühmtes Baudenkmal PVC-Fenster mit darunter gehängten Klimaanlagen aufweist. Christoph Marthalers "Papperlapapp" wurde an diesem Abend gespielt und die Bausünde offenbart sich dann als Bühnenbildidee. Vom Banalen, Anekdotischen geht es zu den legendär gewordenen Highlights der langen Festivalgeschichte, unter anderem dem "Seidenen Schuh", den Antoine Vitez 1987 inszenierte:

    " »Plus tard, dans la cour il fait grand jour. C'est fini, les applaudissement n'en finissent plus : Vingt minutes, une demi-heure, on ne sait plus. On applaudit parce-qu'on ne voulait plus se quitter, on applaudit parce-qu'on voudrait que cette joie ne finisse plus. « "

    An einen Applaus ohne Ende erinnert ein älterer Zuschauer an einen Moment der Fusion von Schauspielern und Publikum nach einer durchspielten Nacht, einem mehr als achtstündigen Theatermarathon. Da ist die ältere Frau aus der Provinz, die einmal eine fragile, zarte Antigone erlebte, die sich mit dem Einsatz ihres Lebens gegen die Willkür der Macht stellt, eine Erfahrung, mit der diese Bühnenfigur für sie zu einer spirituellen Freundin und Begleiterin wurde.

    Generationenkontraste werden sichtbar: Ein skeptischer junger Mann wird mit der Hochkultur erst versöhnt, als Thomas Ostermeier in seinem "Woyzeck" französische Rapper auftreten ließ. Einige Schauspieler und Tänzer hat Jérôme Bel gebeten, jeweils kurze Solo-Ausschnitte aus Theater- und Tanzaufführungen zu zeigen, und übrigens auch aus einer Aufführung, die nicht ins Repertoire der Erinnerungen eingehen konnte, weil sie 2003 einem Streik zum Opfer fiel. Immer wieder lacht das Publikum laut auf; eigene Erfahrungen überlagern das Gehörte. Jérôme Bel interessiert das Spannungsverhältnis zwischen den Zeitebenen: Aufführung und Erinnerung.

    "Es ist schwierig, über die Vergangenheit des Theaters zu sprechen, denn eigentlich verschwindet es sofort nach dem Ende der Aufführung. Aber was bleibt dann? Eine Erinnerung. Aber diese gibt es nur als Gegenwart: Man sagt ja: Ich erinnere mich. Also machen wir eigentlich Antitheater. Wenn man sagt "Damals, 1982 oder 1953", dann hat das nicht mit Theater zu tun, weil man im Theater nur in der Gegenwart sein kann."

    Den kleinen Theaterskandal beim Jahrhundertflop mit Johann Simons Realisierung von "Kasimir und Karoline" im Papstpalast erzählt "Cour d'Honneur" sehr lustig aus der Sicht eines jungen Pärchens und einer der beteiligten flämischen Schauspieler. Ein Theaterarzt schildert die für ihn hektischste Aufführung seines Lebens: Isabelle Huppert spielte die Medea, ein Zuschauer verstaucht sich den Knöchel, eine Zuschauerin fällt in Ohmacht und eine andere überkommt nicht zu stoppende Anfälle von Erbrechen.

    Der Arzt eilt hin und her, verpasst die Huppert, erlebt sie nur noch am Ende: Dem Schrecken weicht beim Applaus ein geradezu kindlicher Jubel und für den Mediziner steht fest: Theater und Medizin, Krise und Triumph haben vieles gemeinsam. Die Huppert allerdings bekam er auch in Jérôme Bels "Cour d'Honneur" nur als Phantom zu sehen, aus Sydney per Video zugeschaltet erscheint ihr Gesicht auf die gewaltige Mauer projiziert wie ein großes Schemen, ein Geist aus der langen Papstpalastgeschichte:

    " »J'avais assassiné les enfants que j'ai fait. Aucun être au monde pourrait les sauver.""

    Aus dem übrigens mehrfach zitierten "Inferno" des Italieners Romeo Castellucci lernte der Zuschauer dann noch Grundsätzliches über den Austausch von Gefühlen zwischen Bühne und Publikum. Ein Fassadenkletterer wiederholte seine atemberaubende Besteigung der Ehrenhoffassade. Zuvor aber hatte ein junger Zuschauer geschildert, dass er damals große Angst um den Artisten gehabt hatte. Aus Staunen und Verzauberung vor Jahren werden nun Beklemmung und Befürchtung. Die Angst des Einen wurde nun zur Angst der Vielen. Noch etwas lehrt die etwas gefällige Hommage an den mythologischen Freilufttheaterraum: Wenn es eine geheime Energie gibt, die alles Theater erst ermöglicht, dann ist es die unbedingte Liebe der Zuschauer.