Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


Die Liga der außergewöhnlichen Kriegswissenschaftler

Wiener, Lacan, Turing, von Neumann und Shannon - Kittler hat sie alle gekannt. Das, was er über die hochkarätigen Wissenschaftler zu berichten weiss, bewegt sich zwischen Krieg und Liebe, ist Kultur- und Techniktheorie, ist Weltkriegsmathematik und Zeitgeschichte des Krieges der technologischen Hexenmeister.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann | 16.05.2005
    Im vorliegenden Band finden sich vor allem biographische Portraits außer über Norbert Wiener auch über die Mathematiker und Wegbereiter des Computerzeitalters Alain Turing und Claude Shannon, die wesentlich daran beteiligt waren, dass der zweite Weltkrieg der Krieg der technologischen Hexenmeister wurde. Shannon stellte eine mathematische Theorie der Kommunikation auf, die vor allem der verschlüsselten Nachrichtenübermittlung diente – eine Kriegsentscheidende Waffe.

    Friedrich Kittler, von hause aus Literaturwissenschaftler, ist seit Anfang der neunziger Jahre Professor für Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität und stellvertretender Leiter des Helmholtz-Zentrum für Kulturtechniken. Sein bekanntestes Buch ist sicher Aufschreibesysteme 1800 / 1900, 3. vollständig überarbeitete Aufl. München 1995. Zu erwähnen ist auch noch Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaften, München 2000.

    Die Familie von Norbert Wiener, dem Begründer der Kybernetik, Mathematiker am berühmten Massachusetts Institute of Technology, zog im dortigen Cambridge ein einziges Mal um, von einer Vorortstraße in die nächste. Am ersten Abend im neuen Heim probierte ein verzweifelter Professor seinen neuen Schlüssel solange an diversen Türen, bis er schließlich zwei Kinder fragte, wo Professor Wiener wohnt, und ihm einer der Knirpse antwortete: "Komm mit nach Hause, Papa."

    Sicherlich enthält der vorliegende Band eher kleinere, jedoch amüsante Gelegenheitsarbeiten Friedrich Kittlers. Trotzdem gibt er einen Einblick in seine Orientierungen. Kittler setzt sich als Kulturwissenschaftler intensiv mit der Geschichte der Technik auseinander, die für ihn primär eine Kriegstechnik ist. Er bemerkt:

    "Ich nenne Ross und Reiter. Ich nenne Daten, [...] wenn ich Technikgeschichte mache. Ich will wissen, wann die erste Wasseruhr gebaut worden ist, warum und wieso, oder was die Armbanduhr mit dem zweiten Weltkrieg zu tun hat, Entschuldigung mit dem ersten, [...] warum die Armbanduhren plötzlich vorn getragen werden und nicht mehr die Uhr aus der Tasche gezogen und Leuchtziffern drauf, damit man ... morgens halb sechs zur großen Ludendorffoffensive im Herbst 1918 antreten kann. [...] Ich datiere die Dinge."

    Im vorliegenden Band finden sich vor allem biographische Portraits außer über Norbert Wiener auch über die Mathematiker und Wegbereiter des Computerzeitalters Alain Turing und Claude Shannon, die wesentlich daran beteiligt waren, dass der zweite Weltkrieg der Krieg der technologischen Hexenmeister wurde. Shannon stellte eine mathematische Theorie der Kommunikation auf, die vor allem der verschlüsselten Nachrichtenübermittlung diente – eine Kriegsentscheidende Waffe.

    Alain Turing, der mit seiner berühmten Maschine die Mathematik materialisieren wollte, war vor allem daran beteiligt, das deutsche Nachrichtenverschlüsselungssystem Enigma zu knacken. Wäre noch John von Neumann zu erwähnen, dessen Computer an der Atombombenproduktion beteiligt waren, der denn auch an Knochenkrebs starb, nachdem er einige Jahre zuvor eine solche Explosion auf dem Bikini-Atoll beobachtet hatte.

    Turing starb ästhetischer, indem er wie Schneewittchen in einen giftigen Apfel biss, hatte man ihn doch im aufbrechenden kalten Krieg ob seiner Homosexualität als unsicheren Kantonisten abqualifiziert. Norbert Wieners hochkomplexe Steuerungssysteme kamen dagegen nicht mehr im zweiten Weltkrieg zum Einsatz. Sie wurden woanders aufgegriffen, nämlich vom französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan, dem sich Friedrich Kittler besonders verbunden fühlt und dem vielleicht der schönste Text des Buches gewidmet ist:

    "Dabei hilft ihm natürlich die erst im zweiten Weltkrieg und für den zweiten Weltkrieg neu entwickelte Theorie der Steuerungssysteme, der Regelungssysteme, der intersubjektiven Verhakungen und Verstrickungen, [...], dass sich A für B hält und B für A und dass sie auf diese Weise auf Ewigkeit in Hassliebe miteinander verschränkt sind. [...] Er kann das formalisieren und er kann strategische und wahrscheinlichkeitstheoretische Begriffe anlegen, also Wissenschaften anwenden, von denen Freud nicht die blasseste Ahnung hat, was man ihm gar nicht vorhalten kann, weil die nicht besonders exoterisch also öffentlich gepredigt wurden vor dem ersten Weltkrieg."

    Norbert Wiener hatte sich zunächst mit der Berechnung von Geschossbahnen beschäftigt, um sich mit dem Beginn des zweiten Weltkriegs am Radarlabor des MIT zu beteiligen. Das Problem hieß: wie berechnet man die Flugbahn von Bombern für eine kurze Zeitspanne voraus, um die Flugabwehr entsprechend zu lenken. Wiener arbeitete mit seinen Steuerungssystemen also an der Koppelung von Radar- und Feuerleitsystemen.

    Doch zum Kriegseinsatz kam nicht Wieners hochkomplexe Theorie, derer sich dann – so Friedrich Kittler – eher Lacan bediente, sondern Claude Shannons schlichtere Flakautomatik, die nur mit Ja-Nein-Entscheidungen arbeitet. Wiener erklärte darob seinen ehemaligen Studenten Shannon für verrückt. Doch Turing, Shannon und von Neumann erarbeiteten eine Weltkriegsmathematik, die sich auf den Computer stützt und die letztlich noch die Voraussetzung für das Star-Wars-Programm war.

    Die Zusammenhänge zwischen dem Denken und der Macht lassen sich derart schwerlich übersehen. Aber sie reichen für Kittler auch noch bis zur Psychoanalyse:

    "Also Hegel hat wirklich Folgen gehabt, das ist nicht bloß irgendeine Witzfigur, er gibt dem preußischen Staat neue Begriffe und der preußische Staat wird ein ganz anderer ab Hegel. So sind die Philosophen wirklich Ingenieure und damit üben sie Macht aus, Heidegger erschrickt und sagt, deshalb denk ich nur noch anstatt zu philosophieren. Und Lacan sagt deshalb bilde ich keine Allianz mehr zwischen Philosophie - ob Heruntergekommen wie bei Freud oder nicht heruntergekommen - und Psychoanalyse, sondern ich bilde eine Allianz zwischen richtigen Ingenieuren, Mathematikern und Psychoanalytikern. Ich umgebe mich nur noch mit jungen Mathematikern und löse Probleme, von denen nachweisbar ist, dass sie vielleicht missbraucht werden können zu Zwecken der Macht, aber an ihnen selbst keine Macht sind."

    Derart treffen sich bei Lacan die beiden Leidenschaften Kittlers, nämlich die Mathematik und die Liebe, um die es ja letztlich in der Psychoanalyse geht. Lacan frappierte einst seine Zuhörer mit dem Satz: Bei den Fröschen klappt es. Bei den Menschen klappt der Sex eben nicht. Deshalb braucht es die Psychoanalyse. Deshalb braucht es die mathematischen Regelungssysteme, um die dramatischen Beziehungsgeflechte zwischen den Menschen zu analysieren. Neben Heidegger hat Kittler auch Lacan kennen gelernt, gehörte er doch zu einer Gruppe, die sich mit der Lacan-Lektüre abplackte:

    "Wir kannten ihn. Noch einmal hat er uns in Strasbourg besucht, extra uns zuliebe, zehn jungen Deutschen, Psychiater und Psychiaterinnen plus mir, dem einzigen Nicht-Psychiater, die wir in Strasbourg saßen und es war sehr schön und seine Sekretärin war dabei und er war sehr aufmerksam auf alle Frauen- und sehr unaufmerksam auf alle Männer-Fragen, zum Beispiel auch meine, die ich so lange ausgedacht - und hinterher hat er einer nicht schönen aber relativ jungen Psychiaterin aus Strasbourg, die eigentlich Deutsch sprach, plötzlich auf Französisch gesagt: 'er wird schwer alt.' Also er will immer so jung bleiben, dass die Frauen ihm zufallen. Paar Jahre später war es passiert. Und wir haben eigentlich nur Gerüchte gehört. Das war ein ganz merkwürdiger Abgang eines großen Mannes."

    Wer sich also mal Friedrich Kittlers Kultur- und Techniktheorien zwischen Krieg und Liebe im leicht lesbaren Stil und in kleinen Portraits aneignen will, der lese die Unsterblichen, die außerdem noch Aufsätze über Leibniz, Luhmann, Foucault und andere enthalten.

    Friedrich Kittler: "Unsterbliche - Nachrufe, Erinnerungen, Geistergespräche" (Wilhelm Fink Verlag)