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Die Locken der Medusa

"Die vier Himmelsrichtungen" sind nicht nur unbestimmte Ortsangaben, sondern auch vier Menschen, mit unbestimmten Lebensläufen, die in diesem Stück aufeinandertreffen. Regisseur Roland Schimmelpfennig befragt vor allem das Prinzip der Wiederholung, und mit ihm reflektiert er das Prinzip der Zeit - und die Regeln des Theaters.

Von Karin Fischer | 31.07.2011
    Ein merkwürdiger Tag, an dem nichts stimmt, nicht mal die Wettervorhersage. An diesem Tag verliert ein dicker Mann, der Riese, in einer Kurve 400 Kartons voller Luftballons. Ein anderer Mann liest die Kartons auf und gründet eine neue Existenz, von jetzt an macht er Tiere aus den gefundenen Modellierballons. Beide verlieben sich in eine junge Frau, die viele Locken hat und in einer Kneipe arbeitet. Die Frau des Luftballonmodellierers ist Wahrsagerin und kann die Zukunft sehen, nur nicht ihre eigene. Sie weiß schon früh im Stück: "Heute stirbt einer".

    "Du wirst jemand kennenlernen – oder: du wirst etwas finden. Eine große Veränderung steht dir bevor, kein Grund zur Sorge, so ist das Leben.
    Und als sie später nur so die Karten legt, Madame Oiseau, an einem Dienstagmorgen, sagt sie, oh, oh, sagt sie, lange Pause, heute stirbt jemand – heute geht jemand für immer."

    Diese Geschichte, in der der Tod fast eine Hauptrolle spielt, wird von Kathleen Morgeneyer, Ulrich Matthes, Andreas Döhler und Almut Zilcher immer nur stückchenweise, ausschnittweise erzählt. Dabei geht es nicht um die je unterschiedlichen "subjektiven Wahrheiten" der vier Personen – die Geschichte verändert sich nicht. Nein, der Autor und Regisseur Roland Schimmelpfennig befragt hier vor allem das Prinzip der Wiederholung, und mit ihm reflektiert er das Prinzip der Zeit - und die Regeln des Theaters. Zuerst lädt er seine Figuren mythologisch auf, indem er Ulrich Matthes und Kathleen Morgeneyer sich als Perseus und Medusa begegnen lässt – Perseus hat der Frau mit dem Schlangenhaupt, die jeden, der sie ansieht, in Stein verwandelt, bekanntlich das Haupt abgeschlagen. Die Frage lautet: Wiederholt sich ein Mythos, indem man ihn zitiert? Kann er die Wirklichkeit verändern? Kann die Aussage: "Heute stirbt einer" als Vorannahme oder Selffulfilling Prophecy die Zukunft beeinflussen? Wird sie die Liebe, das Leben existenzieller machen? Madame Oiseau und ihr Mann machen aus Nichts etwas. Sie liest die Zukunft aus Karten, er macht Tiere aus Luft. Überhaupt, warum so viele Tiere? Die Antwort ist einfach: weil all das im Theater geht. Das Gaukelspiel, die Luftnummer, der Clown, das Unmögliche, der Mythos, der Irrsinn, Liebe und Tod – auch das Theater macht aus nichts Etwas oder aus etwas Nichts. Schimmelpfennig korrespondiert damit untergründig sogar mit Goethes "Faust II", der ja alles von der antiken Mythologie bis zur auch heute noch modernsten Fortschrittsfantasie des Homunculus umspannt. Schimmelpfennig schreibt den Mythos in eine moderne Geschichte ein, deutet ihn um, und erweist sich so als zeitgenössischer Alchemist, der weiß, was die Welt im Innersten zusammenhält: Leben, Liebe, Tod, die Erzählung. Das Riesenrad steht für die ewige Wiederkehr des Gleichen und für das Auf und Ab des Lebens. Und so erfährt eine um die andere Person:

    "Jetzt erkennt sie, dass die Zeit vorbei ist." - "Jetzt denkt der Mann, dass die Zeit vorbei ist." - "Der Kleine sieht, dass die Zeit vorbei ist."

    Da ist, das sei kritisch angemerkt, viel schwebende Bedeutungshuberei im Spiel, und Johannes Schütz hat gut daran getan, das Stück mit seiner Bühne zu erden. Die vier Figuren spielen auf einem kleinen Podest inmitten kleiner Erdhaufen wie auf einer verlassenen Baustelle. In Überkopfhöhe ist quer eine Schnur gespannt. Zuerst treten sie nur frontal auf, fast ohne illustrierende Gesten. Manchmal erzählen sie dasselbe, sprechen aber versetzt. Kathleen Morgeneyer darf als Einzige lauter werden, wenn sie die Kampfszene der beiden Männer in der Kneipe schildert oder ihren eigenen geträumten Tod. Andreas Döhler als der kräftige Mann lächelt oft. Vielleicht freut er sich über Schimmelpfennigs tröstliche Botschaft, die lautet: Der Tod ist nicht immer gleich, jeder kriegt seinen eigenen.

    Eine große Melancholie und Schwere liegt über diesem vielleicht etwas zu ausgedachten Gedanken-Stück und der Inszenierung, wie der Nebel auf der Bühne, der sich nur selten lichtet. Im "Faust II" sagt Mephistopheles bei Fausts Tod: "Die Zeit wird Herr." Schimmelpfennig weiß es, wie Goethe, besser. Der Autor hat es in der Hand. Die Zeit, den Tod, und alle Himmelsrichtungen.