Freitag, 19. April 2024


Die lyrix-Gewinner im Oktober 2010

Im Oktober haben wir euch um Gedichte zum Thema "Brücken bauen" gebeten. Hier sind die Monatsgewinner aus dem In- und Ausland.

09.01.2011
    In Anlehnung an das Gedicht "Spalt" von Henning Ahrens solltet ihr uns von Situationen erzählen, in denen es für euch nötig war, eine Brücke zu bauen. Die von euch eingesendeten Texte gehen auf ganz unterschiedliche Weise mit Brüchen in menschlichen Beziehungen um. In vielen eurer Gedichte gelingt es dem lyrischen Ich nicht, eine Brücke zu bauen, in einigen Texten wird der "Spalt" jedoch überwunden und das Brücken bauen gelingt.

    Hier sind die Gedichte, die die lyrix-Jury ausgewählt hat. Vielen Dank und herzlichen Glückwunsch den Gewinnern!

    Risse

    Sag mir, sag mir,
    Ist es möglich,
    Trotz der tausend Fragen
    Noch den nächsten Schritt zu wagen?
    Oder ist es unerträglich
    Über Dunkelheit zu gehen?
    Sag mir, muss ich denn verstehen,
    Dass dein Lachen wortlos fällt
    Auf dem grauen Stein zerschellt?
    Der uns einst so sicher schien,
    Als wir noch nach Nähe schrien.
    Und einander achtsam hielten
    Niemals falsche Spielchen spielten.

    Sag mir, sag mir,
    Ist es richtig
    Nie im Zeitstrom mit zu treiben
    Nur am selben Ort zu bleiben?
    Oder ist es nicht so wichtig
    Nach Berührung zu verlangen
    Und den andern aufzufangen?
    Willst du also einfach fallen
    Und auf mein Vergessen prallen?
    Weil es Einfachheit verspricht,
    Wenn ein neuer Tag anbricht,
    Der uns mit dem Licht umfängt
    Das die Träume schlicht verdrängt?

    Sag mir, sag mir,
    Ist es wahr,
    Sind wir jeder nun allein?


    (Sophie Garbe aus Tübingen, Deutschland, Uhland-Gymnasium, Jahrgangsstufe: 11, Muttersprache: deutsch)


    Brücken bauen

    Mit jedem Wort,
    jedem Vorwurf wird
    weiter der Graben
    zwischen uns ausgehoben,
    weiter das Holz gekerbt,
    das unser Fundament war.
    Mit salzigen Tränen wird
    das Meer zwischen uns
    vertieft, vergrößert.
    Jeder auf seiner Insel,
    werden wir bald ertrinken.

    Bauen wir eine Brücke,
    jeder von seiner Seite beginnend,
    um das Meer zu überwinden.


    (Martina Reichardt aus Nürnberg, Deutschland, Johannes-Scharrer-Gymnasium, Jahrgangsstufe 10, Muttersprache: deutsch)


    Mischwelt

    lass uns die betäubte nacht befühlen:
    wir atmen gefallenen regen und
    liebe umgibt mich wie schlackige kakaohaut.
    ich kann nicht anders als –
    aber ich muss

    in meiner projektion bist du wabernd und schmiegst dich in meine leere aber wir sind den traumstatisten ausgeliefert

    die sich aus wattebäuschen schälend zwischen uns drängen

    erwache ich so sehe ich einen menschen
    geschöpft aus fleisch und blut
    und unbetastbarkeit denn
    ich kann keinen noch so schmalen
    steg zu dir ausmachen

    ich wünsche mir mehr sinnesorgane
    um dich wahrer zu nehmen
    als alle anderen
    dabei wende ich doch
    schon meine augen ab

    jeder satz beginnt mit dir
    und endet in utopie
    als ob du nicht genau wüsstest dass
    die realität sandpapier ist an dem ich
    mich nicht länger reiben will

    lass uns die betäubte nacht befühlen:
    mir graut es vor dem rauhreifwahnwitz
    und meinem duftverliebten dichanschweigen.
    streif mir deinen kratzigen pullover über und bring mich nach hause


    (Jonas Kohnen aus Ludwigshafen, Deutschland, Heinrich-Böll-Gymnasium Ludwigshafen, Jahrgangsstufe 12, Muttersprache: deutsch)


    Brücke am Fenster

    Ich bewerfe die Landschaft mit
    Nachtgedanken, hoffe, dass das kalte Glas
    Sie nicht abprallen lässt
    hoffe, dass es die Schatten in den
    kühlen Morgentau ziehen lässt

    Du neben mir, wasserklare Augen
    Orangenblütenduft atmest du
    in deinen wolkenlosen Himmel

    Ich schreie Winterstürme
    gegen zerplatzende Eisskulpturen,
    hoffe, dass das Feuer sie
    zerschmelzen wird
    hoffe, dass sie als warmes Rinnsal
    durch mein Gesicht laufen werden

    Du neben mir, wasserklare Augen
    und ich rieche
    Orangenblüten


    (Anna Neocleous aus Rietberg, Deutschland, Gymnasium Nepomucenum Rietberg, Jahrgangsstufe 12, Muttersprache: deutsch und griechisch)


    Ungeschrieben

    So wie ich hier stehe
    Auf der einen Seite der Schlucht
    Stehst du dort
    Auf der anderen Seite des Grabens
    Der Schall verschlingt die Worte
    Die ich niemals sprach
    Und die Brücke zu dir hinüber
    Zerfällt ungebaut
    Du lässt meine Hand los
    Die ich dir nicht reichte
    Deshalb falle ich
    In unseren Graben
    In unsere Schlucht
    Und ertrinke
    In den Fluten
    Meiner Liebe


    (Benita Salomon aus Schriesheim, Deutschland, Kurpfalzgymnasium Schriesheim, Jahrgangsstufe 12, Muttersprache: deutsch)


    Die Sängerin und der Zuschauer
    Alle schauen her,
    im Raum herrscht Stille.
    Ich gerate in Panik
    und bleib´einfach stehen.
    Kein Teil von mir traut sich,
    ich krieg´ keinen Ton raus.
    Plötzlich hab´ich Angst...
    Meine Haut brennt,
    ich bin aufgeregt.

    Ich warte.
    Auf einmal sehe ich,
    wie er den Blick auf mich richtet.
    Aus der Ferne höre ich
    den Rhythmus erklingen.
    In meinem Innern fühle ich
    die Melodie, die aus mir kommt
    und den ganzen Raum erfüllt.

    Sein Gesicht erleuchtet sich.
    Eine Verbindung entsteht
    und die Brücke wird gebaut.
    Der Abstand verschwindet,
    ich hab´ keine Angst mehr.
    Meinem Gesang lasse ich freien Lauf
    und fühle wie wir zusammen
    nur einer sind.


    (Isabella von Wallwitz aus São Paulo, Brasilien, Colégio Visconde de Porto Seguro, Jahrgangsstufe 6, Muttersprache: portugiesisch)