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"Die machen uns fertig"

Allein binnen eines Tages sind rund Tausend Syrer in die benachbarte Türkei geflohen – trotz der Minen, die Regierungstruppen im Grenzgebiet verlegt haben sollen. Viele der Flüchtlinge sind Kurden, sie standen schon vor dem Aufstand in Syrien zwischen allen Fronten. Nun ist ihre Lage noch schlimmer.

Von Susanne Güsten | 17.03.2012
    Ein staubiges Sträßchen voller Schlaglöcher, ein paar Gatter im Maschendrahtzaun, zwei schlaff herabhängende Fahnen – das ist der Grenzübergang Nusaybin zwischen der Türkei und Syrien. Still und verlassen liegt der Grenzposten da, die Rollläden der umliegenden Geschäfte sind herabgelassen. Drei Monate ist es her, dass Syrien die Grenzübergänge in Nusaybin und in Akcakale über Nacht geschlossen hat, die beiden östlichsten Grenzposten zwischen den beiden Ländern. Sie verbanden das türkische mit dem syrischen Kurdengebiet – historisch ein einziges Kurdengebiet, das erst seit 1923 durch die Grenze geteilt ist.

    Unter den Kurden in den Kaffeehäusern von Nusaybin sind deshalb auch einige, die von der syrischen Seite der Grenze stammen, darunter der 33-jährige Abdulcebar Sen und seine beiden Cousins, die von der Grenzschließung auf dieser Seite überrascht wurden:

    "Manchmal gehen meine Cousins und ich an die Grenze und schauen einfach hinüber. Mehr können wir nicht tun, da wachen ja Soldaten, aber wir können zumindest rüberschauen."

    Ihre Heimatstadt Al Qamishli in Syrien ist von Nusaybin aus gut zu sehen, die beiden Städte grenzen aneinander. Hinüber führt aber kein Weg mehr, seit der Grenzposten geschlossen ist, denn die Grenze ist über hundert Kilometer in beide Richtungen vermint. Mehr als 600.000 Landminen sind seit den 50er Jahren in dem schmalen Streifen Land vergraben, der die beiden Länder trennt und nur von etwas rostigem Stacheldraht demarkiert wird. Immerhin können die Cousins noch mit ihren Verwandten in Al Qamishli telefonieren, denn sie hatten ihnen beizeiten eine türkische Mobilfunkkarte besorgt und sind nicht auf das syrische Netz angewiesen, das immer öfter ausfällt:

    "Wir sorgen uns sehr um sie, weil sie alle keine Arbeit mehr haben. Viele unserer Verwandten haben in Damaskus gearbeitet, und als es dort los ging, sind sie alle nach Hause, nach Al Qamishli geflohen. Nun haben sie keine Arbeit mehr. Und es gibt kein Benzin, es gibt kein Brot, es gibt nur zwei Stunden Strom am Tag. Das Regime dort ist so dreckig!"

    Die jungen Männer sind nicht gut zu sprechen auf das syrische Regime, das ihnen und schon ihren Vätern seit Jahrzehnten die fundamentalsten Rechte verweigerte und ihnen nicht einmal die Staatsbürgerschaft zubilligte. Mesut Sen holt das laminierte Stück Papier heraus, das ihn in arabischer Schrift zum Staatenlosen erklärt:

    "Diesen Wisch haben wir, weiter nichts, damit können wir im Ausland zwar reisen, aber in Syrien selbst gelten wir nichts. Wir sind in Syrien geboren, zur Schule gegangen, haben Wehrdienst geleistet, aber sie bezeichnen uns als Ausländer und verweigern uns die Staatsbürgerschaft."

    Auf bis zu 500.000 wird die Zahl der Kurden und Kurdinnen in Syrien geschätzt, die seit einer umstrittenen Volkszählung in den 60er-Jahren als staaten- und rechtlose Bürger zweiter Klasse behandelt wurden. Und nun sollten dieselben Kurden auch noch als Soldaten für das Regime die Kastanien aus dem Feuer holen, ereifert sich Mesut:

    "Ein Cousin von mir ist gerade abgehauen aus der Armee, der hatte schon sieben Monate zuviel gedient, da ist er nach Kurdistan abgehauen. Ein anderer Cousin ist auch schon fünf Monate über seine Wehrpflicht, aber sie lassen ihn nicht gehen. Da werden so viele Kurden jetzt verheizt bei den Kämpfen."

    Wie die Cousins der Familie Sen, so sorgen sich derzeit tausende syrische Kurden auf der türkischen Seite der Grenze um ihre Angehörigen daheim – aber im Unterschied zu den Cousins handelt es sich bei den allermeisten von ihnen um Frauen. Denn den kurzlebigen Frühling in den Beziehungen zwischen der Türkei und Syrien und vor allem die Aufhebung der Visumspflicht zwischen den beiden Ländern vor zweieinhalb Jahren hatten viele türkische Kurden dazu genutzt, sich Frauen aus dem syrischen Teil von Kurdistan zu besorgen, wo die Brautpreise deutlich niedriger waren.

    Die 36-jährige Sahnaz Ete ist eine jener Frauen, die damals von einem Brautwerber auf die türkische Seite geholt wurden. Vom Dach ihres Hauses im Dorf Yukariyeniköy kann sie über das verminte Gelände hinweg in der Ferne ihre Heimatstadt Amuda erkennen. Ihre Eltern und Verwandten sind dort, so gut wie unerreichbar. Nur ein einziges Mal hat sie die lange Reise unternommen, die sie über Grenzposten Kilis im Westen fast 1000 Kilometer weit führt, bis sie in Amuda ankommt, genau fünf Kilometer von hier.

    "Zur Beerdigung meines Bruders habe ich die Reise neulich gemacht, aber es ist sehr schwer und gefährlich, man muss bis Aleppo und dann wieder ganz zurück. Auf der Straße nach Al Hasakah wurde gekämpft, wir mussten durch fliegende Kugeln mitten hindurch, zwei Leute sind getötet worden."

    Sahnaz Ete ist gerne wieder zurück gekommen auf die türkische Seite, wo sie sich sicherer fühlt als in Syrien und auch freier:

    "Wir haben dort doch keine Rechte, wir konnten nicht einmal unsere Autos auf unseren Namen anmelden. Unsere Ländereien, unsere Dörfer sind uns weggenommen und Arabern gegeben worden. Mein Vater konnte nicht anbauen, was er wollte, sondern nur was das Regime erlaubte, er konnte seine Ernte nicht frei verkaufen, das holte sich alles der Staat und diktierte den Preis."

    Dass Assad seit Beginn des Aufstandes im letzten Jahr zugesagt hat, die staatenlosen Kurden in Syrien endlich einzubürgern, kann Sahnaz Ete nicht mehr überzeugen.

    "Die Regierung hat versprochen, ihnen die Staatsbürgerschaft zu verleihen, wenn sie sich aus dem Bürgerkrieg heraushalten. Aber wir Kurden gehen da ohnehin nicht dazwischen, wir sind zu wenige – die machen uns fertig."

    Bei allem Hass auf das Regime in ihrer Heimat – so wie Sahnaz Ete sehen die meisten Kurden den Aufstand in Syrien nicht als ihre Sache. Zu ungewiss scheint ihnen, ob sich bei einem Regimewechsel in Damaskus auch ihre Lage zum Besseren wenden würde.

    Im nahen Dorf Duruca hängt die syrische Kurdin Behdiya Dag die Wäsche von sieben Kindern auf die Leine – ein Baby hat sie selbst mit ihrem Mann, einem Hirten, die anderen sechs Kinder sind von seiner ersten Frau. Ihre Heimatstadt Al Qamishli kann sie über die verminte Grenze hinweg sehen, aber nicht mehr erreichen. Behdiya Dag seufzt, wenn sie hinüber blickt. Von dem Aufstand dort drüben erwarte sie sich nichts, sagt sie:

    "Dieser Krieg ist zwischen den Arabern und ihrer Regierung. Wir haben damit nichts zu tun."