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Die Macht der Bilder des Terrors

Die Macht der Bilder wird bei 9/11 besonders deutlich. Was sie abbilden, entspricht nicht immer der Realität. Und doch können Bilder eine eigene Wirklichkeit erzeugen. Zwei Autoren haben die Bilder, die wir mit den Anschlägen am 11. September verbinden, in unterschiedlichen Büchern analysiert.

Von Martin Hubert | 05.09.2011
    Zuerst das Flugzeug, das direkt auf die Türme zurast. Dann der Aufprall auf den Südturm, die Explosion. Schließlich Szenen der Zerstörung und Panik: die Rauchwolke, schreiende und rennende Menschen, später das Ruinenfeld, durch das sich Feuerwehrleute kämpfen. Wer sich an den Terroranschlag von 9/11 erinnert, hat das Gefühl, immer wieder in dieselben Bilder einzutauchen. In seiner Studie "Diplopie. Bildpolitik des 11. September" setzt der französische Fotografiehistoriker Clément Chéroux direkt an dieser Erfahrung an.

    "Diplopie" ist ein medizinischer Begriff, den ich aus der Augenheilkunde entnommen habe: "Doppelt sehen". Wer am Tag nach dem 11. September mit ein wenig Aufmerksamkeit die Bilder betrachtete, die die internationale Presse veröffentlichte, konnte sich mit gutem Grund fragen, ob er nicht selbst von Diplopie betroffen war. Zahlreiche Kommentatoren berichteten angesichts dieser Bilder, die sofort zu Ikonen erhoben wurden, von dem Gefühl, in einer Endlosschleife zu stecken oder ein Déjà Vu zu erleben.

    Chéroux arbeitet in seinem klar argumentierendem Buch mit ausführlichen Statistiken und weist so exakt wie noch keiner nach: Die internationale Presse präsentierte am 11. und 12. September fast ausschließlich die gleichen Bildmotive. Auf der Suche nach den Gründen verweist Chéroux auf die Monopolisierung der Presse- und Bildagenturen. Zusätzlich arbeitet er jedoch auch heraus, dass offenbar ein symbolisches Interesse wirksam war: Die medialen Bilderfolgen stülpten den verstörenden Bildern des Terrors eine sinnhafte Ordnung über.

    Es handelt sich um ein relativ traditionelles Erzählschema: überraschender Angriff, Gewalt des Zusammenstoßes, allgemeine Panik, Furcht vor einem Ereignis, dessen nähere Umstände unbekannt sind, Zusammensturz und schließlich erneutes Wiedererstarken.

    Im Verlauf des September, so Chéroux, zeigte die amerikanische Presse viel häufiger als die europäische eine patriotische Fotografie: Drei Feuerwehrleute hissen die amerikanische Flagge auf den rauchenden Trümmern der New Yorker Türme. Das Bild erinnerte deutlich an eine Szene, die im Zweiten Weltkrieg in den USA medial weit verbreitet war. Damals hatten US-Soldaten ihre Flagge auf japanischem Gebiet gehisst - ein patriotisches Gegensymbol zum Angriff auf Pearl Harbour, bei dem japanische Flieger zum Beginn des Krieges die amerikanische Flotte zerstört hatten.

    Die Analogie wurde noch klarer, als amerikanische Zeitungen und Magazine die Bilder von Pearl Harbour und vom 11. September nebeneinander veröffentlichten. Tatsächlich spielte der Zweite Weltkrieg im kollektiven Gedächtnis der USA bei allen späteren Konflikten des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle. Für das breite amerikanische Publikum erscheint der Hauptkonflikt des 20. Jahrhunderts heute als letzter gerechter Krieg, als "The Good War".

    Chérouxs Schlussfolgerung: Mit solchen Bildassoziationen hätten die amerikanischen Medien die Bedingungen für den "Krieg gegen den Terror" mitgeschaffen, den die Bush-Regierung kurz danach ausrief. Chéroux belegt auch diese These überzeugend mit Bildern und Zahlen. Seiner Analyse gelingt es aber kaum, die politischen Hintergründe und ästhetischen Details der dokumentierten Bildstrategien genauer auszuleuchten, weil sie stark den medialen Fakten verhaftet bleibt. Dieser Aufgabe widmet sich umso mehr der amerikanische Kunstgeschichtler William J. Thomas Mitchell in seiner groß angelegten Studie "Das Klonen und der Terror. Der Krieg der Bilder seit 9/11". Ambitioniert verleiht er dem Geschehen eine historische Dimension:

    Sowohl das Bildermachen als auch die Kriegsführung haben in unserer Zeit einen radikalen Wandel erlebt, der sich in den Worten "cloning terror" zusammenfassen lässt. Damit meine ich einerseits die Reproduktion und Vermehrung des Terrors, oft gerade durch den Versuch, ihn zu vernichten. Und andererseits den "Terror" oder Schrecken des Klonens als Biotechnologie wie auch als eines Bildes für das unendliche Duplizieren von Lebensformen und vor allem solcher Formen (wie Krebsgeschwüre oder Viren), die als Träger des Todes angesehen werden.

    Mitchells Hauptthese lautet: Die Angst vor dem Terror und die Angst vor dem Klonen verschmolzen nach 9/11 zunehmend in Bildern, die letztlich den von George Bush initiierten Krieg gegen den Terror konterkarierten. Tatsächlich gelingt es ihm, diese Behauptung anhand von Comics, Wahlpropaganda, Fotografien, Plakaten, Filmen und Gemälden plausibel zu machen. Mitchell erinnert daran, dass sich die Bush-Regierung bis zum 9. September vor allem dem Kampf gegen die Stammzell- und Klonforschung verschrieben hatte. Nach dem Terroranschlag tauchten in den USA dann zunehmend Bilder auf, die den islamistischen Terroristen als geklonten, anonymen Massenkrieger zeichneten. Parallel dazu suchte die Bush-Regierung fast verzweifelt nach symbolträchtigen Szenen, die den Schreckensbildern von 9/11 ein Bild der eigenen Überlegenheit entgegensetzen sollten. Etwa in Bezug auf den damaligen irakischen Diktator Saddam Hussein.

    Irgendein geniales Mitglied des PR-Teams im Pentagon muss auf die Idee zu der Aufnahme gekommen sein, die zur stärksten fotografischen Ikone der Gefangennahme des Diktators werden sollte. Die Untersuchung seiner Zähne. Erstens zerstreute sie jeden Anflug von Grausamkeit, da sie den Eindruck erweckte, Saddams Fänger sorgten sich um dessen Gesundheit. Zweitens vermittelte man damit den Eindruck, das amerikanische Militär habe das trügerische Ziel eines totalen Sieges endlich erreicht, da man nun "in den Kopf" des Staatsoberhauptes eingedrungen sei.

    Dann aber geschah Abu Grhaib: US-Soldaten folterten und demütigten islamische Gefangene und fotografierten sie dabei.

    Der Kapuzenmann von Abu Ghraib, des Terrors verdächtig, Opfer der Folter, ein anonymer Klon, gesichtsloser Menschensohn, wird auf absehbare Zeit die Ikone unserer Zeit bleiben. Er erinnert an Jesus. Einen neuartigen Jesus, zugegeben, einen dessen Pose in diesem Augenblick der Qual durch die Fotografie in eine unzerstörbare Ikone dessen verwandelt wird, was eine christliche Nation auf ihrem Kreuzzug zur Befreiung des Mittleren Ostens anstellte.

    Für Mitchell vereint das Foto des gepeinigten Iraners, der mit Kapuze und ausgestreckten Armen auf einem Holzklotz steht, nicht nur in einzigartiger Weise die Motive des Terrors und des Klons. Es sei auch ein vollkommenes Sinnbild dafür, dass ein Krieg gegen den Terror sich selbst in Terror und Unmoral verstricken muss.

    Mitchells politische Bilddeutungen sind spannend und erhellend. Allerdings hat er auch den Ehrgeiz, seine Interpretationen in philosophische und soziologische Theorien einzuordnen, denen zufolge menschliches Leben zunehmend optimiert, kontrolliert und vergewaltigt wird. Das gelingt aber nur ansatzweise und führt eher dazu, dass sein Buch sprachlich und theoretisch etwas überfrachtet wirkt. Trotzdem ist Mitchells Studie so material- und ideenreich, dass sie die Lektüre genau so lohnt wie Chérouxs nüchterne Medienanalyse.


    William J. T. Mitchell: "Das Klonen und der Terror. Der Krieg der Bilder seit 9/11"
    Suhrkamp
    284 Seiten, 28,90 Euro
    ISBN: 978-3-5185-8569-6

    Clement Chéroux: "Diplopie. Bildpolitik des 11. September"
    Konstanz University Press
    137 Seiten, 19,90 Euro
    ISBN: 978-3-8625-3007-6

    Mehr zum Thema 9/11:
    Sammelportal 9/11 - Zehn Jahre danach

    Literaturliste zum 11. September 2001