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Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten

Hans Ulrich Gumbrecht, in Stanford lebender und lehrender Literaturwissenschaftler, beginnt sein neues Buch "Die Macht der Philologie" mit einer Anekdote. Seine Mutter, erzählt er, habe, aus Gründen, die er wahrscheinlich nie begreifen werde, das Wort "Philologe" konsequent zur Bezeichnung von Grundschullehrern verwendet. Weil der Begriff nicht einmal in den Geisteswissenschaften eindeutig gebraucht wird, klärt Gumbrecht zuerst, was unter einem Philologen zu verstehen sei: jemand, der Fragmente sammelt, Texte herausgibt und historische Kommentare schreibt. Im Folgenden zeigt er auf, worin die "Macht der Philologie" seiner Meinung nach besteht, wo er liegt, der "verborgene Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten", wie sein Buch im Untertitel heißt.

Tobias Lehmkuhl | 09.04.2003
    Das möchte ich eigentlich nicht, dass man sagt: Jetzt kommen wir wieder zurück zur Philologisierung, sondern es geht mir darum, besondere Potentiale, die in diesen philologischen Praktiken stecken zu aktivieren. Aber ich mein um Gottes willen nicht, dass wir jetzt nur noch philologische Praktiken machen sollen, dass man nicht mehr interpretieren soll.

    Allerdings ist die philologische Tätigkeit für Gumbrecht gerade heutzutage von ganz besonderer Aktualität, denn eben sie komme unserem Bedürfnis nach Präsenz entgegen, das nicht mehr von Religionen oder Ideologien befriedigt werde. Da wir nicht länger an ein Jenseits oder ein Ziel der Geschichte glauben, wollen wir uns von der Vorstellung linearer Zeit befreien, um unsere Endlichkeit zu vergessen. Daher, so Gumbrecht, die zahlreichen Versuche, Vergangenheit zu vergegenwärtigen, sie in unsere Erfahrung der Gegenwart zu integrieren. Zu solchen Versuchen gehört auch Gumbrechts vor zwei Jahren erschienenes Buch 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit . Darin unternimmt er es, sich und den Leser in die "Welten-von-1926" zu versetzen. Solche Präsenz-Effekte nun werden auf ganz spezielle Weise mit den philologischen Praktiken erzeugt:

    Damit wir dies mal benennen: Ich meine, dass beim Sammeln von Texten immer die Lust im Hintergrund steht, sich die Texte einzuverleiben, beim Edieren von Texten, die Lust die Texte zu verkörpern, beim Kommentieren von Texten ist es die Exuberanz, dass es viel wird, dass man sich selbst schwer macht, beim Historisieren von Texten die Abwendung von der Erfahrung des physischen Todes und schließlich beim Lehren von Texten eine Deixis ein im körperlichen Sinn Verweisen von etwas.

    Der Philologe ist zugleich Hüter sowie Bote der Vergangenheit. Indem er Bruchstücke zusammenträgt und ihnen Form verleiht, macht er sie zu sakralen Objekten, Objekten, die als Zeugnisse des einmal Gewesenen faszinieren und darüber hinaus dazu verlocken, sich mit dieser Vergangenheit zu identifizieren, sie sich einzuverleiben. Darin liegt für Gumbrecht die "Macht der Philologie", ihr "verborgener Impuls".

    Und ich denke, dass, ohne dass das die Traditionslinie der Philologen sehr bemerkt hat, dass in diesen Grundpraktiken der philologischen Arbeit immer sehr spezifische Aktivierungen des Körpers - und ich meine "Körper" eigentlich gar nicht metaphorisch - stecken. Das ist die Hauptthese des Buchs.

    Insofern ist Philologie stark auf Sinnlichkeit, auf sinnliches Erleben gerichtet. Dadurch ist ihr eine Unmittelbarkeit zu eigen, die der Hermeneutik fehlt: Die Interpretation ist auf den Sinn, aufs Verstehen gerichtet. Die Geringschätzung der Philologie, mit der Gumbrecht aufräumen möchte, erklärt sich durch die Tatsache, dass in den Wissenschaften dem Geist traditionell mehr Aufmerksamkeit zuteil wird als dem Körper.

    Und man könnte in dem Sinn nun sagen: Das ist eine Hilfswissenschaft. Weil, so wie die Hierarchie in den Geisteswissenschaften, in den Literaturwissenschaften überhaupt ist, ist die krönende Disziplin die Interpretation. Aber man muss sozusagen erst den Text herstellen und auch die Texte bewahren, damit Interpretationen möglich sind. In dem Sinn hat die Philologie sozusagen den Ruf der Hilfswissenschaft, auch wenn es nicht immer so offiziell gesagt wird. Und natürlich, mit dem Titel und mit dem Vorschlag, der implizit, ich hoffe nicht manifestartig in dem Buch steckt, wäre auch eine Verschiebung dieser Hierarchie gemeint, dass sozusagen die philologischen Grundpraktiken interessanter sowohl in pädagogischer wie in intellektueller Hinsicht sind, als man sie bisher eingeschätzt hat, wenn man sie eingeschätzt hat unter der Perspektive von Hilfswissenschaften.

    Sammelt der Philologe Fragmente, muss er sich der Imagination bedienen, um ein Ganzes zu rekonstruieren, ediert er, muss er sich verschiedene Leser- und Autorenrollen zu eigen machen und diese gegeneinander abwägen. Und schreibt er schließlich Kommentare, geschieht dies ins Unendliche hinein, denn der Kommentar bedarf ständig der Erweiterung. So ist die Vielfalt der philologischen Tätigkeiten zugleich von größter Komplexität. Und dabei kann es für den Philologen, wie Gumbrecht meint, nicht darum gehen, so abstrakte Ziele zu verfolgen wie da wären: Kompensation des Modernisierungsdrucks, Orientierung oder Aufklärung. Das seien Ideale der Vergangenheit. Heute müssten die Texte im Vordergrund stehen; nicht als Mittel-für-etwas, sondern als Formen und Inhalte, deren Wirkung sich nie voraussehen lasse.

    Philologen sozusagen schwitzen etwas bei der Arbeit, sind etwas hemdsärmlig und wenn es jetzt eine intellektuelle Fakultät im Kantschen Sinne von Fakultät gibt, die sich ihnen zuschreiben ließe: Sie sind sehr rational. Und dieses Selbstbild hat wenig oder gar nichts zu tun und verdeckt vielleicht gleichzeitig geradezu in einem systematischen Sinn freudianisch, das, was mir interessant zu sein scheint. Das ist dieses Affiziertsein oder Affiziertwerden bestimmter körperlicher Reaktionen.

    Gumbrecht, 1948 in Würzburg geboren und seit einigen Jahren amerikanischer Staatsbürger, schreibt seine Bücher auf Englisch. In Joachim Schulte hat er einen Übersetzer gefunden, der seinen überaus eleganten und prägnanten Stil hervorragend ins Deutsche zu übertragen versteht. Wenn es Gumbrecht auch nur in zweiter Linie darum geht, das Ansehen der Philologie zu fördern und einen bewussteren Umgang mit ihren Praktiken zu ermöglichen, und er in erster Linie auf das physische Erlebnis bei der Arbeit mit Texten aufmerksam machen möchte, so ist sein Buch selbst doch ein ausgezeichnetes Beispiel für wissenschaftliches, aber nicht-philologisches Schreiben, das den Leser, nicht zuletzt aufgrund sprachlicher Brillanz, in seinen Bann zu ziehen versteht.