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"Die Märchen sind heute in aller Welt berühmt"

Heute vor 200 Jahren erschien der erste Märchenband der Brüder Grimm. Das "berühmteste Buch der deutschen Literatur" werde in aller Welt gefeiert, berichtet Bernhard Lauer, Leiter des Grimm-Museums in Kassel. Insbesondere das Interesse der Filmindustrie habe zugenommen.

Bernhard Lauer im Gespräch mit Silvia Engels | 20.12.2012
    Silvia Engels: Heute vor genau 200 Jahren erschien der erste Band der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Über 200 Märchen sind erhalten, nur wenige Dutzend sind weltberühmt. Und wir wollen jetzt mal eines der unbekannteren hören, das Märchen "Die drei Faulen".

    Ein König hatte drei Söhne, die waren ihm alle gleich lieb, und er wusste nicht, welchen er zum König nach seinem Tode bestimmen sollte. Als die Zeit kam, dass er sterben wollte, rief er sie vor sein Bett und sprach: "liebe Kinder, ich habe etwas bei mir bedacht, das will ich euch eröffnen: welcher von euch der faulste ist, der soll nach mir König werden." Da sprach der älteste "Vater, so gehört das Reich mir, denn ich bin so faul, wenn ich liege und will schlafen, und es fällt mir ein Tropfen in die Augen, so mag ich sie nicht zutun, damit ich einschlafe." Der zweite sprach "Vater, das Reich gehört mir, denn ich bin so faul, wenn ich beim Feuer sitze, mich zu wärmen, so ließ ich mir eher die Fersen verbrennen, eh ich die Beine zurückzöge." Der dritte sprach "Vater, das Reich ist mein, denn ich bin so faul, sollt ich aufgehängt werden, und hätte den Strick schon um den Hals, und einer gäbe mir ein scharfes Messer in die Hand, damit ich den Strick zerschneiden dürfte, so ließ ich mich eher aufhenken, ehe ich meine Hand erhübe zum Strick." Wie der Vater das hörte, sprach er "du hast es am weitesten gebracht und sollst der König sein."

    Engels: Das Grimmsche Märchen "Die drei Faulen". Und am Telefon mitgehört hat der Leiter des Brüder-Grimm-Museums in Kassel, Bernhard Lauer. Guten Morgen, Herr Lauer!

    Bernhard Lauer: Schönen guten Morgen!

    Engels: Sagen Sie mal, was ist denn das für ein Märchen? Da siegt nicht der Starke, das Gute, die Schöne oder der Clevere, sondern der Faule. Haben die Brüder Grimm da die Karikatur eines Märchens gesammelt?

    Lauer: Ja ich meine, dieses Märchen stammt aus der Sammlung von Johannes Pauli, "Schimpf und Ernst", die 1522 erschienen ist, und es ist gewissermaßen eine Parodie auf das Recht der ersten Geburt und damit auf die Grundsätze der Erbteilung. Dieser Stoff ist schon relativ weit verbreitet gewesen vorher und geht auf die Gesta Romanorum, die Taten der Römer zurück, und es ist halt ein schönes Beispiel dafür, wie reichhaltig die Grimmsche Märchensammlung ist und wie viel man darin noch entdecken kann.

    Engels: Lassen sich die Märchen denn kategorisieren, in welche, die eher heiter sind, dann die belehrenden oder dieses gerade zitierte, ja leicht anarchisch wirkende Märchen?

    Lauer: Ja. Ich meine, dieses Märchen von den drei Faulen ist zur Kategorie der Lügen- oder Schwankmärchen zu rechnen. Daneben gibt es natürlich sehr stark ausgearbeitete Kinder- und Zaubermärchen. Wenn Sie mal Frau Holle sehen, da ist die Faulheit ganz anders dargestellt, da wird die Faulheit bestraft. Die Kinder- und Hausmärchen stehen in einer langen Überlieferungstradition, in der ganz, ganz viele orientalische, europäische Quellen zusammengeführt worden sind, und die Brüder Grimm haben am Schreibtisch aus diesen vielfältigen Traditionen dann diese wunderbaren Märchen geschaffen.

    Engels: In welche Zeit, in welches Umfeld fiel denn diese Idee der Brüder Grimm, erzählte Märchen jetzt schriftlich festzuhalten?

    Lauer: Es gehört in die Zeit der Romantik. In der Nachfolge von Johann Gottfried Herder wollte man die sogenannte Poesie des Volkes vor dem Vergessen bewahren. Und zum romantischen Programm gehörte natürlich auch, dass diese Märchentradition von armen, alten und ungebildeten Frauen tradiert werden sollte. Die Grimms sind nicht, wie Sie im Vorspann gesagt haben, Märchen sammelnd über Land gezogen und sie haben die Märchen auch nicht bei armen, alten und ungebildeten Leuten in der Regel aufgeschrieben, sondern man muss das sehr differenziert betrachten. Die meisten Märchen haben die Brüder Grimm aus schriftlichen Quellen und von Informanten in Kassel und Hessen und Westfalen bekommen, die genauso alt und gebildet wie sie selbst waren.

    Engels: Oh je, da bin ich einem Märchen aufgesessen. Fest steht aber: die Grimmschen Märchen wurden über die Jahrhunderte verschieden interpretiert, mal historisch, mal von einem sehr nationalen Standpunkt, mal auch psychoanalytisch. Welches ist denn derzeit die Hauptrichtung der Forschung?

    Lauer: Ich denke, heute geht man sehr historisch an das Thema heran. Man schaut auch noch mal auf die Quellen der Brüder Grimm. Man schaut, wie haben die Brüder Grimm etwa die französischen Märchen von Rotkäppchen oder Dornröschen oder Aschenputtel aufgenommen, verändert, umgeschrieben, mit neuen Motiven dargestellt. Und es gibt natürlich verschiedene Richtungen, auch die Psychologie spielt hier eine Rolle, die Kunstgeschichte hat sich den Märchen und ihrer Illustration angenommen. Die Märchen sind heute in aller Welt berühmt und gerade heute kann man sich sehr darüber freuen, dass eben das berühmteste Buch der deutschen Literatur in aller Welt gefeiert wird.

    Engels: Da haben Sie es angesprochen. In Deutschland sind ja die Märchen der Brüder Grimm aus keinem Haushalt wegzudenken. Wie wird denn dieses Jubiläum in anderen Ländern und Kontinenten gehandhabt?

    Lauer: Ich denke, es sind sehr, sehr viele aktuelle Ausgaben der Grimmschen Märchen erschienen. Viele Länder haben auch zum ersten Mal jetzt eine Gesamtausgabe aller Grimmschen Märchen, 200 Texte und zehn Kinderlegenden, herausgebracht. Es gibt vielfältige Tagungen, nicht nur in Kassel, sondern es hat auch Tagungen in Tokio, in Osaka, in Glasgow, in London, in Rom und so weiter gegeben. Es gibt vielfältige Ausstellungen und in aller Welt - das ist sehr stark zu beobachten - gibt es ein erhöhtes Interesse der Filmindustrie, des Fernsehens, der Medien an dem Märchen. Nicht nur in Deutschland gibt es jetzt bei ARD und ZDF diese wunderbaren Märchen und jedes Jahr zu Weihnachten wird irgendwie 20 Mal auf allen Kanälen auch drei Nüsse für Aschenputtel oder drei Haselnüsse für Aschenputtel gezeigt. Auch Hollywood hat sich dem Thema angenommen, also es gibt nicht nur diesen etwa merkwürdigen Film "The Brothers Grimm" und "Snow White and the Huntsman", sondern es gibt jetzt auch eine Kriminalserie in Amerika, die Grimm heißt, die allerdings nur noch den Namen Grimm hat und es geht da sehr blutig daher. Ich mag lieber das, was wir in Deutschland produzieren an Filmen.

    Engels: Seit Jahren und Jahrzehnten beschäftigen Sie sich mit diesen Märchen. Welches ist denn international das berühmteste?

    Lauer: Ich denke mal, die drei berühmtesten Märchen in aller Welt, das sind wahrscheinlich Schneewittchen, Hänsel und Gretel, Aschenputtel, Rotkäppchen, Frau Holle. Und man muss auch sagen, dass gerade die Märchen, die schon in der europäischen Überlieferungstradition etwa in Italien und Frankreich eine Rolle spielten, die sind von den Brüdern Grimm noch mal in ganz besonders romantischer Weise erzählt und ausgebildet worden und die stehen halt doch im Zentrum der weltweiten Märchenproduktion. Sehr bekannt sind natürlich auch die Märchen der 1001 Nacht und diejenigen von Hans Christian Andersen, das spielt auch manchmal ineinander und es gibt ja auch da vielfältige Überlappungen und Vergleichungen.

    Engels: Wegen dieses 200jährigen Jubiläums der Erstausgabe haben wir ja ein komplettes Grimm-Jahr erlebt. Was nehmen Sie als wichtigste Erkenntnis mit?

    Lauer: Ich denke mal, dass die Kinder- und Hausmärchen trotz aller Kritik, die sie erfahren haben in den verschiedenen Zeiten, nach wie vor überlebt haben und dass es eben dieser wunderbare romantische Erzählton und vielleicht auch die moralische Botschaft ist, die bis heute die Menschen nach wie vor bewegt und begeistert. Und ich denke, auch für die Erziehung der Kinder spielen die Kinder- und Hausmärchen bis heute immer noch eine wichtige Rolle.

    Engels: Das war Bernhard Lauer, der Leiter des Brüder-Grimm-Museums in Kassel, zum heutigen 200-jährigen Erscheinungsjubiläum der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Vielen Dank für das Gespräch!

    Lauer: Bitte schön!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.