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Die Magie des Alltags

Mit der für den Kolumbianer typischen Erzählfantasie arbeitet Gabriel García Márquez nicht nur in seinen Romanen, sondern auch in seinen Zeitungsbeiträgen. Aus aktuellem Zeitgeschehen, Alltagsthemen und Reiseerlebnissen werden kleine literarisch anspruchsvolle Prosatexte. Die journalistischen Arbeiten Márquez' sind nun im fünften Band von "Dornröschens Flugzeug" nachzulesen.

Von Michaela Schmitz | 17.07.2008
    Auf meterlangen Streifen vom überschüssigen Papier der Rotationsmaschinen habe er die Hälfte seines ersten Romans geschrieben, erinnert sich Gabriel García Márquez. Entstanden sei er in den glühenden und nach Druckerschwärze duftenden Morgenstunden bei der Zeitung "El Universal" in Cartagena. Noch als Nobelpreis-Träger für Literatur versteht sich Márquez in gleichem Maße als Schriftsteller und als Journalist.

    Ein Markenzeichen seiner Texte: Realität und Fiktion so eng zusammen zu bringen, bis die Grenzen verschwimmen. Als "Magischer Realismus" gehen seine Romane wie "Hundert Jahre Einsamkeit" in die Literaturgeschichte ein. In Kolumbien sei der magische Realismus Lebensrealität, erklärt Márquez schmunzelnd.

    Vom doppelten Sinn für die Magie der Realität und die Realität der Magie sind auch seine journalistischen Arbeiten geprägt. Zwischen 1961 und 1984 schreibt Márquez fast jede Woche einen Artikel:

    Ich schreibe die Kolumne jeden Freitag, von neun Uhr morgens bis drei Uhr nachmittags, mit demselben guten Willen, demselben Bewusstsein, derselben Freude und oftmals mit derselben Inspiration, als müsste ich ein Meisterwerk schreiben.

    Das betont Márquez in seinem Beitrag "Schriftsteller benötigt". Er habe sich diese Aufgabe selbst als regelmäßige Stilübung zwischen seinen Romanen auferlegt, so Márquez. Zur großen Freude der Leser; denn die Artikel sind tatsächlich meisterhaft geschrieben.

    Aber was ist das Besondere an Márquez' journalistischen Prosastücken? Sicher auch der von Karl-Markus Gauss gelobte "Blick für das abseitige Detail, in dem der größere Zusammenhang aufleuchtet". Vielleicht ist aber das eigentlich Faszinierende die sogar in Márquez' Zeitungsartikeln spürbare Sehnsucht nach dem tropischen Duft der Guayave. Zwischen nüchternen Tagesmeldungen vibriert in seinen wöchentlichen Beiträgen immer auch ein wenig vom Zauber der magischen Karibik.

    Einmal lässt der schreibende Magier bei helllichtem Tag einen leibhaftigen Faun in die Straßenbahn von Bogotá steigen. Ein anderes Mal berichtet er von den winzigen, auf dem Grund der Tonkrüge lebenden Wesen seiner Kindheit in Aracataca. Nicht mehr als daumenbreit, lassen die elfenhaften Geister Milch gerinnen, Schlösser einrosten, verändern die Augenfarbe der Kinder oder schicken wirre Träume. Erfunden habe er aber nie etwas, das erstaunlicher wäre als die Realität, behauptet Márquez augenzwinkernd in seinem Artikel "Noch ein paar Bemerkungen zum Thema Literatur".

    Kurzum, wir Schriftsteller aus Lateinamerika und der Karibik müssen ganz offen bekennen, dass die Realität ein besserer Schriftsteller ist als wir. Es ist unser Schicksal, sie in aller Bescheidenheit und so gut wie möglich zu imitieren.

    Mit der ihm eigenen Sinnlichkeit verwandelt Márquez wahre Begebenheiten im Erzählen auf magische Weise zu Poesie. In der Titel gebenden Geschichte "Dornröschens Flugzeug" berichtet der an Flugangst leidende Márquez von einer schlafenden Schönen auf dem Nebensitz - Anlass für den alternden Schriftsteller zu fast keuschen literarischen Fantasien. Das Motiv wird den Lesern im Roman "Erinnerung an meine traurigen Huren" wieder begegnen.

    Eine andere, beinahe übersinnliche erotische Begegnung hat Márquez im vor Hitze glühenden Rom. Eines Nachmittags klopft ein nacktes, wunderschönes Mädchen an die Tür seines Pensionszimmers. Dieses Bild, ein nur in der Schwüle des Sommers in Rom mögliches Wunder, habe sich in sein Gedächtnis eingegraben, meint Márquez. Auch seine Reisebilder sprechen alle Sinne an; mit großer Bewegung begegnet er Spanien, dem Land seiner literarischen Reisen:

    Ich erkannte die andalusischen Dörfer wieder, die wirken wie mit der Feder gezeichnet, hörte in der Abbenddämmerung die Glocken der Lämmer und roch den Duft der unter den Hufen der Herde zertretenen Kamille.

    Die poetische Wirklichkeit hat für Márquez gleiche Gültigkeit wie die soziale und politische Realität in Kolumbien oder die Südamerika-Politik von Präsident Ronald Reagan. Am stärksten sind seine Texte da, wo sie beides verbinden. Wie in der Geschichte von der schwangeren Frau im Provinzflughafen. Jahrzehnte später erkennt er sie wieder: Wie damals sitzt sie mit ihrem Ingwerkörbchen vor dem jetzt futuristisch modernisierten Gebäude. Auf Márquez Frage nach ihrem Kind, antwortet sie: ihre Tochter selbst sei gerade Mutter geworden.

    Das Leben, weiß Gabriel García Márquez, ist voll von solchen ungeschriebenen Geschichten. Diesen "umherirrenden Seelen der Literatur" ist er in seinem Schreiben auf der Spur - mit seinem typisch karibischen Sinn für die Magie der Realität und die Realität der Magie.

    Gabriel García Márquez: Dornröschens Flugzeug, Band fünf
    Journalistische Arbeiten 1961-1984

    Aus dem Spanischen von Svenja Becker, Astrid Böhringer, Lisa Grüneisen, Silke Kleemann und Ingeborg Schmutte
    Kiepenheuer & Witsch 2008, 697 Seiten, 34,95 Euro