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"Die meisten der Opfer auf palästinensischer Seite sind übrigens Zivilisten"

Auch Angela Merkel lasse außer Acht, dass Israel eine Okkupationsmacht sei, sagt der palästinensische Botschafter Salah Abdel Shafi. Es gäbe nur eine Lösung für den Konflikt: einen unabhängigen palästinensischen Staat neben dem Staat Israel. Dabei müsse die internationale Gemeinschaft helfen, auch mit Saktionen gegenüber Israel.

Salah Abdel Shafi im Gespräch mit Christine Heuer | 17.11.2012
    Christine Heuer: Peter Kapern aus Tel Aviv. Krieg zwischen Israel und den Palästinensern – das ist das Pulverfass, vor dessen Explosion in der Region sich alle fürchten. Ich möchte darüber jetzt mit dem Leiter der Palästinensischen Mission in Deutschland sprechen, wir hören ihn schon, den palästinensischen Botschafter hierzulande, guten Morgen, Salah Abdel Shafi!

    Salah Abdel Shafi: Guten Morgen!

    Heuer: Wir hören von der Zerstörung der Hamas-Zentrale im Gazastreifen heute Nacht, es gibt darüber verschiedene Meldungen. Können Sie bestätigen, dass das wirklich geschehen ist?

    Shafi: Ja, wir können bestätigen, dass der Hauptsitz der Regierung von Hamas gestern Nacht oder heute früh eigentlich bombardiert wurde und total zerstört wurde. Weiterhin wurde das Hauptquartier der Polizei in Gaza Stadt auch bombardiert. Insgesamt, heute Nacht, flogen die israelischen Streitkräfte 85 Angriffe auf 85 verschiedenen Ziele, verstreut im ganzen Gazastreifen.

    Heuer: Andererseits gibt es ja immer wieder Raketen aus Gaza nach Israel. Ist das schon Krieg, was wir gerade erleben, oder lässt er sich noch verhindern?

    Shafi: Wir hoffen, dass das bald zu Ende kommt. Die ägyptische Regierung bemüht sich, auch andere Parteien weltweit bemühen sich um einen Waffenstillstand. Wir hoffen, dass es nicht zu einem offenen Krieg kommt, dass es nicht zu einer Bodenoffensive kommt, denn darunter werden nur die zivilen Bevölkerungen leiden.

    Heuer: Die Bodenoffensive, sagen Sie – Sie hoffen, dass sie nicht geschieht durch Israel. Glauben Sie es auch?

    Shafi: Das ist nicht auszuschließen. Also gemessen an der Anzahl der Soldaten, Reservisten in Israel, die mobilisiert, schon mobilisiert wurden – alles deutet darauf hin, auf eine Bodenoffensive. Allerdings, wie gesagt: Die ägyptische Regierung hauptsächlich macht große Bemühungen, damit es dazu nicht kommt. Es werden Angebote an beide Seiten unterbreitet, damit es zu einem Waffenstillstand kommt. Wie gesagt, alle Optionen sind noch offen. Die letzte Nacht war eine weitere Eskalation. Die Lage ist insgesamt sehr besorgniserregend.

    Heuer: Israel wehrt sich gegen Raketenangriffe, die ja zuerst von der Hamas kamen. Angela Merkel, die deutsche Bundeskanzlerin, hat sich gestern ganz klar in Moskau zu dem Thema geäußert, wer verantwortlich ist, und das hören wir uns jetzt noch mal zusammen an.

    Angela Merkel: Verantwortlich für den Ausbruch der Gewalt ist die Hamas durch ihre Raketenabschüsse, und es gibt für diese Gewalt keinerlei Rechtfertigung, zumal die israelische Zivilbevölkerung massiv betroffen ist.

    Heuer: Stimmen Sie zu, Herr Abdel Shafi?

    Shafi: Natürlich nicht. Das ist eine einseitige Position. Man lässt außer Acht, dass Gaza unter Blockade leidet, dass die zivile Bevölkerung in Gaza auch unter Angriffen leidet. Die meisten der Opfer auf palästinensischer Seite sind übrigens Zivilisten. Und man lässt außer Acht, dass Israel eine Okkupationsmacht ist und dass sie widerrechtlich palästinensische Gebiete okkupiert. Und deswegen: Diese Einschätzung der Kanzlerin teile ich überhaupt nicht und finde, dass es sehr einseitig ist.

    Heuer: Trotzdem schaukelt sich dieser Konflikt ja immer gegenseitig hoch. Sol die Hamas ihre Angriffe einstellen? Können Sie auf die Hamas Einfluss nehmen, dass sie es tut?

    Shafi: Wir tun das auch. Gestern – Präsident Abbas hat mit dem Chef der Hamas gesprochen. Wir sind daran interessiert, dass es zur Ruhe kommt. Und übrigens: Die Lösung ist nur eine politische Lösung. Diese Spirale der Gewalt dauert schon seit über vier Jahrzehnte, und deswegen: Es gibt nur eine Lösung, und zwar politisch, und zwar ein unabhängiger palästinensischer Staat neben dem Staat Israel. Deswegen: Die Okkupation, die israelische Okkupation muss sofort beendet werden, damit Israel auch in Sicherheit und Frieden leben kann.

    Heuer: Aber diese Zwei-Staaten-Lösung, die Sie ansprechen, die setzt ja nun ein Geben und Nehmen voraus. Wird die Hamas dann zum Beispiel das Existenzrecht Israels anerkennen und den Terror einstellen?

    Shafi: Hamas hat schon akzeptiert, ein palästinensischer Staat, in den Grenzen von 67. Ich glaube, dass es politisch ein sehr … ein Schritt voran seitens Hamas.

    Heuer: Aber, Entschuldigung, da gehe ich jetzt mal dazwischen: Wenn die Hamas die Zerstörung Israels immer noch als Ziel festschreibt, dann können Sie doch nicht erwarten, dass Israel Frieden schließt.

    Shafi: Wissen Sie, als Israel einen Vertrag mit der PLO unterschrieben hat, das Osloer Abkommen, auch in unserem in unserer Charta stand die Zerstörung vom Staat Israel. Wir sehen das als einen Prozess. Aber wenn Israel signalisiert, dass sie die Okkupation beenden wird, glaube ich, Hamas wird auch einlenken.

    Heuer: Also warten Sie auf die Vermittlung. Sie haben Ägypten ein paar Mal angesprochen. Was genau kann die ägyptische Regierung in dieser akuten Situation an einem Kompromiss zustande bringen?

    Shafi: Also erstens, Ägypten hat Beziehungen zu beiden Seiten. Die neue Führung in Ägypten ist … also die Muslimbruderschaft hat sehr enge Beziehungen zu Hamas, die auch übrigens zur Muslimbruderschaft gehören. Auf der anderen Seite: Ägypten hat auch Beziehungen, diplomatische Beziehungen zu Israel, und die Frage von Gaza ist von nationaler Sicherheit für Ägypten. Und deswegen finden wir, dass die Ägypter sehr gut positioniert sind, um eine Vermittlerrolle zu spielen und einen Waffenstillstand herbeizuführen. Deswegen glauben wir, dass die Ägypter sehr gut, wie gesagt, positioniert sind, um dieses Ziel zu erreichen.

    Heuer: Die Ägypter könnten vielleicht eine Waffenruhe herstellen, wenn sich denn beide Seiten daran dann einmal hielten. Aber für einen langfristigen Frieden, für eine langfristige Lösung brauchen Sie vielleicht noch mehr Vermittler. Was erwarten Sie in diesem Zusammenhang zum Beispiel von US-Präsident Barack Obama?

    Shafi: Wir erwarten von Barack Obama und der Europäischen Union und der Weltgemeinschaft im Allgemeinen, zu handeln nach den Prinzipien, Prinzipien, die sagen: Zwei-Staaten-Lösung. Also international herrscht ein Konsens über die Zwei-Staaten-Lösung.

    Heuer: Aber der herrscht ja schon so lange und es tut sich nichts.

    Shafi: Ja, deswegen sind wir sehr frustriert. Wir verlangen, dass die Weltgemeinschaft danach handelt. Wenn man sagt, wir wissen, wie die Lösung aussehen soll, dann muss man auch danach handeln. Das ist das Problem. Das ist ein Konflikt, der ja so lange dauert, obwohl ein Konsens über die Lösung herrscht. Deswegen muss der politische Wille vorhanden sein, damit man diese Lösung durchsetzt, auch wenn notwendig ist, dass man das erzwingt, diese Lösung.

    Heuer: Wie kann man das denn erzwingen?

    Shafi: Ich glaube, dass die Welt viele Instrumente zur Verfügung hat, um Frieden und Sicherheit – das ist ja schließlich das erklärte Ziel der UNO, aller Staaten der Welt –, für Sicherheit und Frieden zu sorgen. Und ich glaube nicht, dass der Amerikaner oder die Europäer unfähig sind, dieses Ziel zu erzwingen, sowohl auf israelischer Seite als auch auf palästinensischer Seite.

    Heuer: Sagen Sie doch mal, was Sie genau meinen, nennen Sie ein konkretes Instrument.

    Shafi: Ja, es gibt natürlich Israel … also nehmen wir die israelische Seite zum Beispiel, der große Handelspartner von Israel ist die Europäische Union. Auch die arabische Welt ist ein großes Wirtschaftsgebiet sowohl für die Europäer als auch für die Amerikaner. Und es ist gang und gäbe in der internationalen Politik, dass man bestimmte Beziehungen oder wirtschaftliche Beziehungen an bestimmte Bedingungen knüpft.

    Heuer: Sie fordern einen Boykott der Weltgemeinschaft gegen Israel.

    Shafi: Das habe ich nicht gefordert. Wissen Sie, ich gebe Ihnen ein Beispiel: Bei den Beitrittsverhandlungen Türkei mit der EU – es werden Bedingungen geknüpft. Man sagt: Sie müssen ein, zwei, drei unternehmen, damit man die Beziehungen aufwertet und entwickelt. Das kann man auch gewiss gegenüber Israel nutzen. Übrigens – diese Sache wird auch mit uns praktiziert. Die Amerikaner sagen: Wenn die Palästinenser ein, zwei nicht erfüllen, kriegen sie keine finanzielle Hilfe. Und deswegen finde ich, dass man das auch durchaus gegenüber Israel praktizieren kann.

    Heuer: Abschließende Frage, Herr Abdel Shafi: Ist die Hamas bereit, sich an einen Tisch mit Israel zu setzen?

    Shafi: Ich glaube, momentan nicht. Wir sind bereit, mit Israel an einem Tisch zu sitzen und zu einem Abkommen zu kommen, sobald Israel signalisiert, dass sie bereit sind, ihre Okkupation zu beenden.

    Heuer: Salah Abdel Shafi, der Leiter der palästinensischen Mission in Deutschland. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Abdel Shafi!

    Shafi: Sehr gerne!

    Heuer: Und ich wünsche Ihnen einen guten Tag!

    Shafi: Danke, gleichfalls!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.