Mittwoch, 24. April 2024

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Die Melancholie der Männer

Nostalgie treibt Thierry Blin dazu, sich in einem Pariser Tennisclub anzumelden. Der Handwerker, der tagsüber Bilder rahmt, möchte wissen, wie gut er mit 40 Jahren noch spielt. Gleich beim ersten Mal fordert er einen Gleichaltrigen heraus: Nicolas Gredzinski, stellvertretender Abteilungsleiter in einem Großunternehmen. Den knappen Ausgang des Matches begießen die beiden hinterher in einer Bar. Mehr noch, sie versteigen sich im Rausch zu einer ungewöhnlichen Wette: Wem es innerhalb von drei Jahren gelinge, ein anderer zu werden, so die Abmachung, der habe bei seinem Gegenüber einen Wunsch frei.

Christoph Vormweg | 04.06.2003
    Denn ich finde, es passiert etwas, wenn man um die vierzig ist. Man hält sich nicht mehr für unsterblich, man sagt sich: "Jetzt beginnt die zweite Hälfte, wenn alles gut geht." Das heißt: man nimmt auch die erste Hälfte in Augenschein, man will sich klar darüber werden, was sich bisher ereignet hat. Und man fragt sich: "Habe ich die richtigen Entscheidungen getroffen? Oder ist es Zeit, etwas zu ändern?

    Bei mir persönlich lief das allerdings nicht so ab. Denn ich habe das Glück, jedes Mal, wenn ich eine neue Figur entwerfe, ein anderer zu werden. Ich habe also nie daran gedacht, mein Leben zu ändern.

    Geschichten-Erfinder: diese Berufsbezeichnung behagt dem 42jährigen Tonino Benacquista am meisten. Neben Romanen und Erzählungen hat der Sohn italienischer Einwanderer in den letzten 20 Jahren Theaterstücke, Filmdrehbücher und Comics geschrieben. Bekannt gemacht haben ihn aber vor allem seine Krimis, die in der renommierten série noire bei Gallimard erschienen sind. Seine Gewandtheit beim Austüfteln kriminalistischer Plots spielt Tonino Benacquista auch in seinem Roman "Die Melancholie der Männer" aus. Denn der eine seiner Protagonisten, Thierry Blin, möchte seinen alten Traum verwirklichen und Privatdetektiv werden. Mehr noch: er will völlig mit seiner alten Existenz, also auch mit seiner Geliebten Nadine brechen. Nach einer Gesichtsoperation, die sein "Schildkrötenprofil" beseitigt, ändert Thierry Blin seinen Namen und eröffnet in der Pariser Vorstadt ein Detektivbüro.

    Das ist die Geschichte eines Mannes, der sich sein Leben so vorstellt, als wäre es das einer Romanfigur, die Abenteuer erleben wird, die sich ein neues Aussehen verschafft etc. Das hat mir an ihm gefallen. Denn sein Vorgehen ist nicht weit von dem eines Schriftstellers entfernt.

    "Ein anderer werden", eine Vision von sich selbst entwerfen und in die Tat umsetzen: beim Durchspielen dieser Traumkonstellation – und das spricht für die Qualität des Romans "Die Melancholie der Männer" - behält Tonino Benacquista stets den Bezug zur Realität. Zwecks Vorrecherche hat er eigens einen Pariser Privatdetektiv bei seinen Observationen von Abgetauchten und Ehebrechern begleitet. Thierry Blins Lehrzeit bei einem abgebrühten Kollegen gehört deshalb auch zu den komischsten Passagen des Buches. Denn natürlich lässt er - mit seinem Kopf voll Kino - keinen Anfängerfehler aus: seien sie nun durch Fehlspekulationen, durch vorzeitige Adrenalinschübe oder durch allzu große Ehrlichkeit gegenüber den Kunden verursacht.

    Nicolas Gredzinski allerdings hat es bei seinem Versuch, ein anderer zu werden, noch weit schwerer. Vor der Wette der Inbegriff der Selbstbeherrschung und des gesunden Mittelmaßes, sucht er im Alkohol einen Neuanfang:

    Das ist die Geschichte eines Mannes, der sich dank des Alkohols seiner Individualität bewusst wird. Denn Nicolas ist ein ängstlicher Mensch, er lebt mit der Angst im Bauch. Für mich war es deshalb das Wichtigste, von dieser Angst zu erzählen, einer schwer zu beschreibenden, sehr heutigen Angst, für die es viele Ursachen gibt und die jeden betrifft.

    Wenigstens zeitweise vermag der Alkohol Nicolas´ Angst zu beruhigen. Dann kann er über sich selbst nachdenken, kann er Dinge ausdrücken, die er nie aus sich heraus gelassen hat. Der Alkohol macht ihn kreativ, stärkt sein Freiheitsgefühl. Er hat, seit er trinkt, keine Angst mehr vor der Hierarchie, er hat vor kaum noch etwas Angst.

    Ohne Morgenbier ist Nicolas Gredzinski nach seinen Wodka-Nächten mit der geheimnisvollen Loraine allerdings zu nichts zu gebrauchen. Für den Arbeitsplatz entwirft er deshalb einen Büchsentarner, dessen Patentierung und weltweite Vermarktung ihm das nötige Geld für seine Bar-Besuche verschaffen. Doch stößt seine Sucht nach Intensität bald von allein an ihre natürlichen Grenzen. Denn Nicolas verliert er durch den Dauersuff nicht nur seine Arbeit, er gefährdet auch seine junge Liebe.

    Moralinsauer oder belehrend ist das Finale von Tonino Benacquistas Roman "Die Melancholie der Männer" deshalb aber nicht. Ganz im Gegenteil: Die Verschraubtheiten des intelligent angelegten Plots geben ihm - gerade im Blick auf die männlichen Krisen in der Lebensmitte - eine süffisant ironische Note. In jedem Fall: wer hochtourige Unterhaltung mit existentieller Bodenhaftung sucht, liegt bei diesem Roman richtig.