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"Die Menschen fühlen sich jetzt betrogen"

Irena Lipowicz, ehemalige Beauftragte des polnischen Außenministeriums für deutsch-polnische Beziehungen, hat sich enttäuscht über das späte Eingeständnis von Literaturnobelpreisträger Günter Grass geäußert, Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein. Die Polen könnten nicht verstehen, warum Grass so lange zu seiner Vergangenheit geschwiegen habe, sagte sie. Lipowicz äußerte Verständnis für die Forderung, Grass zur Rückgabe seiner Danziger Ehrenbürgerschaft aufzufordern.

Moderation: Dirk-Oliver Heckmann | 15.08.2006
    Dirk-Oliver Heckmann: Für viele ist es ein Bekenntnis gewesen, das zu spät kommt: das Bekenntnis von Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass, gegen Ende des Zweiten Weltkrieges im Alter von 17 Jahren zur Waffen-SS einberufen worden zu sein. Andere zollten ihm Respekt für seinen Entschluss, diesen Teil seiner Vergangenheit nun publik zu machen, auch wenn es vielleicht schon viele Gelegenheiten gegeben hätte, diesen Schritt zu tun, und Grass sich, hätte er sie genutzt, um seine Glaubwürdigkeit nun weniger Gedanken machen müsste.

    Auch in Polen ist die Enthüllung mit großer Aufmerksamkeit beobachtet worden. Dazu begrüße ich am Telefon Irena Lipowicz. Sie ist die ehemalige Beauftragte des polnischen Außenministeriums für die deutsch-polnischen Beziehungen. Guten Morgen nach Warschau!

    Irena Lipowicz: Guten Morgen!

    Heckmann: Frau Lipowicz, wie reagiert man in Polen auf das Bekenntnis von Günter Grass, ähnlich gespalten wie in Deutschland?

    Lipowicz: Ja, es gibt viele Stimmen. Das Thema ist wirklich zum Thema Nummer eins geworden, gerade in den Morgennachrichten oder auch gestern. Es gibt viele Debatten und viele Meinungen: von einem Entschluss oder Vorschlag, dass Günter Grass die Ehrenbürgerschaft der Stadt Danzig entweder freiwillig zurückgeben sollte, oder man sollte einen Beschluss fassen und ihn einfach bitten, dass er das tut, bis zu Stimmen, die auch in den Hauptnachrichten gekommen sind - und das ist eigentlich allgemein -, dass der Rang seiner Bücher, seiner Verdienste um die Demokratie und das alles, was er nach dem Zweiten Weltkrieg getan hat, durch sein Bekenntnis nicht verändert wird.

    Was eine große Enttäuschung für die Menschen ist, ist, dass er so lange geschwiegen hat. Man muss verstehen, was es für die Polen bedeutet. Das waren die Massenexekutionen. Das waren wirklich die schrecklichen und mit größtem Sadismus begangenen Kriegsverbrechen. Und dass man jemanden wie Günter Grass hatte, der für uns wirklich ein Inbegriff, eigentlich schon fast als polnischer Schriftsteller und wirklich als ein Danziger von der Bevölkerung absolut akzeptiert war. Die Menschen wollten ihm schon zu Lebzeiten ein Denkmal in Danzig stellen. Eigentlich gibt es schon ein Denkmal für seinen Roman "Blechtrommel". Diese Ehrenbürgerschaft kam wirklich von Herzen. Es war für viele Einwohner von Danzig einfach eine Brücke zwischen alten Zeiten von Danzig und neuen und ein Symbol der Versöhnung.

    Heckmann: Es gibt die Forderung, Frau Lipowicz, wenn ich da einhaken darf, dass Grass seine Ehrenbürgerschaft von Danzig zurückgeben soll. Immerhin war es der ehemalige Staatspräsident Lech Walesa, der diese Forderung erhoben hat. In Deutschland sind Stimmen laut geworden, dass Grass seinen Literaturnobelpreis zurückgeben sollte. Was halten Sie denn von diesen Forderungen?

    Lipowicz: Meine Meinung oder mein Unverständnis betrifft die Zeitsituation. Ich kann verstehen, wie schwierig ihm diese Last die ganzen Jahre gewogen hat. Aber in diesen zwei Situationen, Nobelpreis-Perspektive und diese Ehrenbürgerschaft der Stadt - er musste doch verstehen, dass diese Menschen, die darüber entscheiden, wirklich die volle Information über ihn haben sollen. Ich kann einfach nicht verstehen, warum er damals nicht reagiert hat, weil es ist nicht ausgeschlossen, dass er trotzdem sowohl den Nobelpreis wie auch die Ehrenbürgerschaft der Stadt Danzig bekommen hätte. Die Menschen fühlen sich jetzt aber betrogen. Und es gibt natürlich wichtige Schattierungen zwischen dem, was Lech Walesa sagt - er sagt, das ist Ehrensache, und Günter Grass sollte das aus eigener Überzeugung machen -, und zwischen anderen Meinungen wie von Herrn Jacek Kurski, der das auf einem Rechtsweg machen will. Ich glaube, der Weg von Lech Walesa, der auch Nobelpreisträger ist - und es geht hier um ein Bekenntnis, um eine moralische Reflexion -, ist einfach besser. Das ist ein bisschen meine Sichtweise. Auch ich weiß nicht, ob er sie gerade zurücklegen sollte, aber vielleicht auch, weil ich sage, die Menschen fühlen sich jetzt betrogen.

    Eine andere Sache ist: In polnischen Medien wird viel Verständnis gezeigt. Er war damals 17. Es war zwangsweise. Er hat praktisch nichts Schlechtes getan. Das alles verstehen die Menschen. Sie können nur nicht verstehen, warum er so lange nichts gesagt hat.

    Heckmann: Frau Lipowicz, es gibt ein weiteres Thema, das als Belastung empfunden wird für die deutsch-polnischen Beziehungen, nämlich die Berliner Ausstellung "Erzwungene Wege", in der vergangenen Woche eröffnet und initiiert von der Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach. Jetzt ist es so, dass einige polnische Einrichtungen ihre Exponate zurückfordern, die sie der Ausstellung zur Verfügung gestellt haben, unter anderem die Glocke des versenkten Flüchtlingsschiffs "Wilhelm Gustloff". Geschieht das auf Druck der Regierung in Warschau?

    Lipowicz: Die kritische Beobachtung der Ausstellung, da herrscht wirklich ein Konsens, Herr Heckmann, in Polen. Unser Problem ist, stellen Sie sich vor, wie die Dresdner sich fühlen würden, wenn jemand sagen würde, man muss heute nicht mehr Dresden bombardieren, um den Deutschen Menschenrechtsstandards beizubringen. Ungefähr so etwas hat Frau Steinbach Richtung Warschau gesagt und hat das nie zurückgezogen. Für uns ist diese Ausstellung einfach das Verlassen eines Weges, der noch von deutschen und polnischen Bischöfen, darunter vom heutigen Papst, Kardinal Ratzinger, auch initiiert wurde. Damals hat man wirklich die Lasten der anderen getragen.

    Diese Ausstellung zeigt plötzlich vom ganzen Zweiten Weltkrieg nur das Jahr '45, und das macht in Polen vielen Menschen Angst. Es gibt jetzt in Warschau eine große Ausstellung, wo auch das Leiden der deutschen Zivilbevölkerung sehr drastisch gezeigt wird und wo man auch die Verantwortlichen, darunter die polnischen kommunistischen Behörden, gezeigt hat. In Polen gibt es keine Angst oder kein Problem, dass man dieses Thema wirklich berücksichtigt.

    Heckmann: Dennoch gab es die Entscheidung, Frau Lipowicz, der polnischen Einrichtungen, Exponate zur Verfügung zu stellen für dieses Projekt. Jetzt haben viele Beteiligte offenbar Angst vor Konsequenzen. Ein polnischer Historiker ist aus dem Beirat der Stiftung "Zentrum gegen Vertreibungen" ausgetreten. Muss man Angst haben in Polen um seinen Job, wenn man argumentiert, an die Geschichte der Vertreibungen objektiver heranzugehen?

    Lipowicz: Nein, Es gibt viele namhafte Historiker, die jahrelang darüber schreiben, und das glaube ich nicht. Ich glaube nicht so sehr an Angst, sondern es ist mehr der Druck der Medien und der öffentlichen Meinung. So etwas kennen Sie auch in Deutschland, wo plötzlich ein Thema zum Thema Nummer eins wird. Dann reagieren die Menschen und die Beamten natürlich auch, die plötzlich fragen, wer hat hier überhaupt Recht? Ich kenne die Einzelheiten nicht, aber an Angst glaube ich nicht. Ich glaube mehr, dass die Menschen einfach reagiert haben, weil die öffentliche Meinung in Polen so kritisch und negativ über diese Ausstellung ist.

    Heckmann: Aber es drängt sich der Verdacht auf, dass auch ein wenig die politische Elite des Landes, die neue Regierung den Konflikt nutzt, um die eigene Machtposition und Machtbasis auszubauen. Sie selbst sind im vergangenen Jahr zurückgetreten aus Protest gegen die neue Regierungskoalition. Seitdem sorgen die beiden Kaczynski-Brüder an der Spitze des Staates für Schlagzeilen mit antideutschen Ressentiments. Fühlen Sie sich in Ihren Befürchtungen bestätigt?

    Lipowicz: Ich bin zurückgetreten, weil ein sehr populistischer Politiker Andrzej Lepper zur Koalition gekommen ist. Man muss ein bisschen vorsichtig sein mit antideutschen Ressentiments. Das ist nicht die Regierungspolitik. Natürlich gibt es viele Probleme, aber genauso könnte man sagen, wenn zum Beispiel die "Bild"-Zeitung bei der Weltmeisterschaft in Berlin die Menschen mit ziemlich üblen Polenwitzen begrüßt hat, dass man viele Töne auch in deutschen Medien findet, und trotzdem sagt man nicht in Polen, es gibt antipolnische Ressentiments oder antipolnische Politik. Das halte ich für übertrieben. Mir machen Sorgen natürlich solche Politiker wie Jacek Kurski, der wirklich auch diese Töne zu nutzen scheint, aber Gott sei Dank ist das noch - und ich hoffe es wird auch nie sein - die Politik der Regierung (sic!). Ich bin auch überzeugt, dass solche Reaktionen, dass man zum Beispiel einen Besuch in Berlin abgesagt hatte wegen der Ausstellung von Frau Steinbach, aber gerade in Richtung Oberbürgermeister von Berlin, der nie für diese Ausstellung war, sich wahrscheinlich nicht wiederholen werden. Verstehen Sie auch uns. Wenn man diese Ausstellung als Konsequenz der Tätigkeit des Bundes der Vertriebenen macht und der Spruch war "Vertreibung ist Genozid", und das war doch kein Genozid. Es war nicht die von den Siegermächten geplante Ermordung oder Ausrottung der Deutschen. Man versucht, so etwas zu machen, Holocaust war Genozid, Vertreibung war Genozid, Holocaust und Vertreibung ist dasselbe. Und da sind die Polen wirklich sehr empfindlich.

    Ich sage, dann ist auch die Reaktion der verschiedenen Museen: Sie haben ein volles Recht, auch kritisch die Situation in Polen zu kommentieren, genauso wie Polen ein Recht hat, kritisch die Situation in Deutschland zu kommentieren. Aber wir dürfen auf beiden Seiten nicht übertreiben. Das große Kapitel der Versöhnung ist da und es ist wichtig, dass man mit kleinen Nachrichten das alles nicht hochschaukelt. Ich möchte auch gerade die Menschen, die jetzt uns hören, darum bitten. Immer noch waren 70 Prozent der Deutschen nicht in Polen, und das Bild in den Medien ist so übertrieben, dass fast alle, die nach Polen kommen, unglaublich positiv überrascht sind. Die Ergebnisse, was die Klischees der beiden Völker gegenseitig betrifft, waren in diesem Jahr sehr gut. Wir beginnen uns zu verstehen, und es ist jetzt sehr wichtig, dass man das nicht ruiniert. Aber verstehen Sie auch die Sensibilität auf unserer Seite. Einer von diesen Menschen, die sich jetzt so kritisch über die ganze Geschichte, über die SS zum Beispiel geäußert hat, ist jemand, der aus dem Getto von einer polnischen Lehrerin gerettet wurde. Der hat mir gesagt, 50 Jahre lang hat er ein Bild vor Augen, wo einfach ein eleganter SS-Offizier auf der Straße in Warschau ein kleines Kind von drei Jahren nimmt, ein jüdisches Kind, die Öffnung zur Kanalisation öffnet und bei Schreien der ganzen Menschenmenge auf der Straße wirft er das Kind einfach herunter und sagt zu den Menschen, die die Sprache verstehen, das war ein Jude. Wenn man das Wort SS in Polen hört, kommen solche Bilder und solche Geschichten hoch. Ich glaube, die Vergangenheit ist immer noch schmerzhaft, aber bauen wir die bessere Zukunft, und wir haben schon sehr viel dafür getan auf beiden Seiten.

    Heckmann: Irena Lipowicz war das, die ehemalige Beauftragte des polnischen Außenministeriums für die deutsch-polnischen Beziehungen. Vielen Dank, Frau Lipowicz, für dieses Gespräch.

    Lipowicz: Danke, einen schönen Tag wünsche ich Ihnen.